Kaum ein in diesem Buch vorgestelltes Hamburger Original ist so sehr in Vergessenheit geraten wie Emma Thiele-Lundershausen. Dabei gehörte sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den gefeierten Sängerinnen der Stadt und hatte beachtlichen Erfolg als Direktorin von Konzerthallen.
Im Alter von 19 Jahren trat sie 1856 erstmals als Sängerin in Konzerthäusern in St. Pauli auf. Bald unternahm sie auch Auslandstourneen, kam aber immer gern wieder in die Heimat und besonders nach St. Pauli zurück. In ihren längst vergriffenen Lebenserinnerungen schrieb sie: „Wie war mir wohl, wie war mir wonnig, als ich nach langer Auslandsreise in Kiel landete und ein breitschultriger Mann mit den Worten ‚Sall ick Ihn ok den Koffer besorgen‘ auf mich zutrat. Es waren Heimatklänge, die ich lange entbehrt hatte, und ich weiß auch heute nicht, was mich damals hinderte, dem Verkünder dieser Heimatgrüße um den Hals zu fallen und zu küssen!“
Eine erfolgreiche und glückliche Sängerin
Sie trat danach zum Beispiel in der Bazar-Halle am Jungfernstieg auf. Dieser Saal gehörte zu Sillems Bazar, der ersten – prachtvollen – Einkaufspassage Europas. Die Sängerin konnte dort beliebig lange singen, musste danach selbst aber mit dem Teller in der Hand durch die Halle gehen und „den klingenden Zoll der Anerkennung“ einsammeln. Emma Thiele-Lundershausen fand hier viel Anerkennung. Daraufhin erhielt sie im Ludwig’schen Etablissement ein festes Engagement mit festem Honorar. Das Haus lag am Spielbudenplatz und war eines der beliebtesten Konzerthäuser in Hamburg. Die Sängerin konnte hier ein ganzes Jahr lang auftreten. Sie schrieb in ihren Lebenserinnerungen:
„Es war die schönste Zeit meiner Gesangs-Carrière, die ich hier verbrachte. Von der Direktion aufs Freundlichste und Zuvorkommendste behandelt, verhätschelt vom Publikum, umgeben von Freunden und Gönnern, so schwand mir ein glückliches Jahr dahin. Ich will nicht verhehlen, dass es mir auch an Anbetern nicht fehlte, offenkundigen sowohl als auch stillen.“
Das Konzerthaus mit der Plattdeutsch sprechenden Direktorin
Sie war inzwischen als Sängerin so wohlhabend geworden, dass sie 1882 ein eigenes Konzerthaus am Spielbudenplatz eröffnen konnte, dem sie den Namen Casino, das Gesangs-Institut internationaler Prägung gab. Das Unternehmen war so erfolgreich, dass sie drei Jahre später das Nachbargrundstück dazukaufen und ihr Konzerthaus erweitern konnte. Sie nannte ihr Haus nun Die neue Welt.
Carl Thinius, dem es zu verdanken ist, dass die Künstlerin nicht ganz in Vergessenheit geraten ist, hat in seinem Buch „Damals in St. Pauli“ über diese Zeit geschrieben: „In ihrem eigenen Konzerthaus ‚Die neue Welt‘ war Frau Emma zum Original geworden. Sie sprach als echte Hamburgerin gern plattdeutsch und, wenn sie recht gute Laune hatte, auch missingsch. Alle ihre Inserate und Verlautbarungen unterzeichnete Emma Thiele-Lundershausen mit der stereotypen Schlussbemerkung: ‚Achtungsvoll: Die Direktion‘. Dieses geflügelte Wort machte sie bald ungemein populär. Wenn sie sich bei einem Rundgang durch das Lokal einer Gruppe jovialer Gäste näherte, dann schallte ihr der Gruß entgegen: ‚Achtungsvoll, die Direktion!‘.“
Die „Neue Welt“ musste aus finanziellen Gründen schließen
Leider hielt der finanzielle Erfolg ihrer Konzerthalle nicht lange an. Ein Grund soll gewesen sein, dass sie zu großzügig mit ihrem Geld umging, auch bei ihren Liebesabenteuern, über deren Einzelheiten sie ihn ihren Lebenserinnerungen schwieg. 1891 musste das Konzerthaus schließen. Die Direktorin verfasste aus diesem Anlass diesen Epilog:
Hier stand ich einst, vor kaum fünf Jahren,
als dieses Haus war neu und schön,
begrüßte froher Gäste Scharen,
Erhoffend Glück und Wohlergehen.
Mit freud’gem Eifer wollt‘ ich gründen
Die lusterfüllte „Neue Welt“, -
Und heute nah ich, zu verkünden
Dem Untergang, dem sie verfällt.
Nicht, dass ich nach Verlorenem hasche
Und klagend scheide, soll man sehn.
Nein, wie ein Phönix aus der Asche,
wird Emma Thiele neu erstehn!
Dann grüß‘ ich meine Freunde wieder,
die treu und lieb mir lange schon.
So leg ich denn das Szepter nieder.
Hochachtungsvoll: Die Direktion!
Das Konzerthaus wurde von anderen Betreibern unter dem Namen Im siebten Himmel fortgeführt. Der später berühmte Sänger und Humorist Hein Köllisch erlebte hier sein erfolgreiches Bühnendebüt. Der Siebte Himmel musste trotzdem bald geschlossen werden und hier eröffnete 1898 das Varieté Apollo. Es blieb ein kurzes Intermezzo. 1900 entstand unter dem Namen Hamburg-America-Bar die laut Eigenwerbung „größte Bar Deutschlands“.
Es folgte die Nutzung des Grundstücks für ein Kino und dann für einen Gefrierfleisch-Geschäft. 1934 wurde an dieser Stelle ein Schwimmbad eröffnet. Das schloss 1980. Nach einem Dornröschenschlaf von über vier Jahrzehnte eröffnete auf dem Grundstück ein Weingarten. Die erhalten gebliebene Gründerzeitfassade erinnert an die Gesichte eines Hauses, die fast so bewegt war wie die Lebensgeschichte von Emma Thiele-Lundershausen.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro