Theologie des Lebens: Wenn die Armen die Bibel auslegen
Ist der „Theologie des Lebens“ ein langes Leben beschert? Geboren wurde diese Theologie 1994. Damals hat der Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen beschlossen, im Rahmen seines Arbeitsschwerpunktes „Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“ eine neue theologische Grundlage zu erarbeiten. Ein zentrales Ziel dieser Theologie sollte es sein, die biblische Verheißung eines Lebens in Fülle zum Ausgangspunkt für ein Engagement in allen Lebenssituationen zu machen, vor allem in Kontexten, in denen Menschen ein solches Leben vorenthalten wird. Die biblische Botschaft und das Handeln der Christinnen und Christen sollten nicht durch akademische Studien und Konferenzen miteinander in einen Dialog eintreten, sondern im Gespräch und im gemeinsamen sozialen Engagement unterschiedlichster Menschen. Bewusst sollte die Initiative für eine Theologie des Lebens über die institutionelle Ökumene hinausreichen und Gruppen, Initiativen sowie einzelne Christinnen und Christen einbeziehen.
In diesem Rahmen sollten auch die verschiedenen kontextuellen Theologien miteinander ins Gespräch kommen. Der Begriff des Lebens bringt ein zentrales Anliegen all dieser Theologien zum Ausdruck und signalisiert zugleich, dass dieses ökumenische Programm im Rahmen des Engagements für den konziliaren Prozess Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung steht.
Das Lesen der Bibel, das Nachdenken über theologische Fragen und soziale Verantwortung soll mit konkretem Handeln verbunden werden. „Das Programm ‚Theologie des Lebens‘ bietet ein Forum für alle, die an einer Mitwirkung am konziliaren Prozess interessiert sind“, erläuterte der deutsche Theologe Martin Robra, der im ÖRK an der Verwirklichung dieser Initiative beteiligt war.
Wenn die Armen die Bibel lesen und zu Subjekten der Theologie werden
Das Programm sollte auf lokalen Erfahrungen und Einsichten aufbauen und in einem ersten Schritt Christinnen und Christen aus lokalen Initiativen in aller Welt dazu ermutigen und dabei unterstützen, ihre eigene Geschichte zu erzählen und zu reflektieren. Es zeigte sich rasch, dass die Gruppen sehr unterschiedliche Methoden wählten, um am weltweiten Austausch mitzuwirken. Ganz in der biblischen Tradition besaß dabei das Erzählen von Geschichten einen hohen Stellenwert, während auf akademische Abhandlungen verzichtet wurde. Auch Tanz, Musik und andere Ausdrucksformen der jeweiligen lokaler Kulturen wurden in diesen Austausch einbezogen.
In den kleinen Gruppen hatten auch Frauen, Angehörige indigener Völker und andere Gemeindemitglieder, die in der Kirche sonst selten oder gar nicht zu Wort kommen, die Möglichkeit, ihre Alltagserfahrungen und ihre Erfahrungen mit Gott in das Gespräch einzubringen. Das Evangelium konnte so auf ganz neue Weise verstanden und in Verbindung mit eigenen Erfahrungen, Leidensgeschichten und Hoffnungen gebracht werden.
Im Bericht einer Konsultation zur Theologie des Lebens in Bangalore/Indien im August 1996 wird festgestellt, eine solche Theologie könne „nicht bloß aus einem Mitgefühl mit den Armen entstehen, sondern nur aus den Erfahrungen und Perspektiven derer, denen Leben verweigert wird und ebenso aus dem Bewusstsein für die gegenwärtigen Bedrohungen des Lebens, des Kampfes für das Leben, der zunehmenden Ungerechtigkeit und ebenso der Zeichen der Hoffnung durch das wachsende Selbstbewusstsein der Armen“. Ein neues Lesen biblischer Texte sollte also einhergehen damit, die Armen zu Subjekten der Erarbeitung einer Theologie des Lebens zu machen.
Konrad Raiser, der damalige ÖRK-Generalssekretär, beschrieb 1997 die Geburt dieser Theologie so: „Die Theologie des Lebens entsteht nicht am Schreibtisch und auch nicht bei Konferenzen … Sie lebt von der Beteiligung und dem Austausch von Erfahrungen aller Menschen, der Frauen und Männer, der Jungen wie der Alten, der Gesunden und der Kranken, der Gebildeten und der Analphabeten. Die Kinder und Unmündigen haben oft einen leichteren Zugang zu dieser Theologie des Lebens als die Klugen und Weisen. Eine Theologie des Lebens ist kein Selbstzweck, sondern sie dient dem Eröffnen des Raums, in dem Leben für alle möglich ist. Sie will vor allem Mut machen zum Leben, denen das Recht auf Leben streitig gemacht wird.“ Der Autor dieser Zeilen war vor seiner Berufung in den ÖRK ein hochangesehener Theologieprofessor in Bochum. Er hat den Elfenbeinturm einer rein akademischen Theologie entschlossen und konsequent verlassen.
Ein „Markt“ als Begegnungsort
Im Januar 1997 war es soweit. Erstmals wurde die Theologie des Lebens bei einem globalen Treffen erprobt. Der ÖRK lud kleine Gruppen von Christinnen und Christen aus allen Teilen der Welt nach Kenia zu einem "Sokoni" ein, im ostafrikanischen Swahili das Wort für Markt. Der Sokoni als Treffpunkt von unterschiedlichsten Menschen spiegelt das Konzept der Theologie des Lebens gut wider und wurde zu einem Laboratorium dieser neuen Theologie. Am Rande eines Nationalparks in der Nähe der kenianischen Hauptstadt wurden um eine große Hütte herum sechs weitere Hütten ohne Außenwände errichtet. Dort konnten 22 Gruppen aus allen Teilen der Welt, die an dem Studien- und Austauschprozess zur Theologie des Lebens beteiligt waren, sich, ihre Einsichten und ihre Anliegen vorstellen.
Auf der Grundlage der Ergebnisse der Ökumenischen Versammlung in Seoul im Jahre 1989 wurden sechs Themen für die Hütten gewählt: Macht, Schöpfung, Frieden, Gerechtigkeit, Jugend und Frauen. Unterschiedlichste Vermittlungsformen und Symbole ergaben in den Hütten ein buntes Bild.
Das Bild wurde noch bunter, als rund um diesen Marktplatz kenianische Händler ihre Holzfiguren, Batiken etc. aufbauten und dem Ganzen so wirklich den Charakter eines Sokoni gaben. Auf diesem Markt wurden Geschichten erzählt, es wurde diskutiert und es wurden Waren feilgeboten. Dieses lebendige Dorf zog jeden Tag nicht nur die Vertreter von Kirchen und Gruppen aus aller Welt an, sondern auch mehrere Hundert Menschen aus der unmittelbaren Umgebung.
In der großen Hütte präsentierten die Gruppen ihre Berichte, aber anders als auf vielen ökumenischen Konferenzen wurden keine gelehrten Vorträge gehalten. Die Gruppen erzählten Geschichten, tanzten, trugen Gedichte vor, sangen und führten Stücke auf. Es waren Geschichten des Lebens und des Leidens, der Verzweiflung und der Hoffnung. Die Gruppen verteilten kein einziges Dokument, stattdessen wurde eine Theologie des Lebens lebendig.
Das „global village“, von dem Kommunikationsexperten so gern sprechen, wenn sie von den Möglichkeiten moderner Technologien schwärmen, hier wurde es auf einem Sokoni zur greifbaren Realität, ganz ohne moderne Kommunikationstechnik, aber mit Menschen, die ihre Geschichten erzählten und einander zuhörten. Angehörige indigener Völker wie Maori und Indios erhielten hier die Möglichkeit, ihre Erfahrungen und Anliegen auf eine je eigene Weise einzubringen, wohingegen eine professionelle Konferenzmaschinerie sie auch in der weltweiten Ökumene bisher häufig marginalisiert oder in eine „exotische“ Rolle gedrängt hatte.
Der ÖRK fand mit dem „Sokoni“ eine neue Form, Theologie und Leben miteinander zu verbinden. Angesichts globaler politischer und wirtschaftlicher Machtstrukturen auf der einen und einer Ausgrenzung und sozialen Fragmentierung auf der anderen Seite war es das Ziel dieser Initiative, Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Regionen der Welt miteinander ins Gespräch zu bringen. Sie tauschen ihre Geschichten, ihre Glaubensüberzeugungen und ihre Einsichten beim Lesen biblischer Texte miteinander aus und nahmen gemeinsam wahr, dass gegen die Globalisierung der Mächtigen eine Gegenbewegung im Entstehen war. Diese Bewegung handelt vor allem lokal, ist aber durch den Kampf gegen alle Formen der Unterdrückung, Ausbeutung und Zerstörung der Schöpfung miteinander verbunden.
Geschichten erzählen – eine biblische Tradition und ein Schritt zu einer Theologie des Lebens
Die Theologie des Lebens ist in Nairobi dadurch zum Leben erwacht, dass sich Christinnen und Christen aus lokalen Initiativen trafen und darüber sprachen, wie sie die Bibel lasen und was die befreiende Botschaft des Evangeliums für sie bedeutete. Nonie Wales aus Australien hat ihre Begegnung mit Christinnen so beschrieben: „Musik und Tanz, Trommeln und Rhythmus waren immer präsent, als wir zusammen waren. Wir feierten in der Nacht, wir zelebrierten das Abendmahl mit Tanz und Freude. Wir lebten, atmeten und schmeckten unsere Theologie.“ Weiter berichtete sie davon, wie die Frauen aus Australien und Brasilien einander ihre Lebensgeschichten erzählten. „Diese Erzählungen brachten ihre Beziehung zu Gott und die sich verändernde Realität dieser Beziehungen zum Ausdruck.“ Durch diese erzählte und gelebte Theologie des Lebens gewannen die Frauen einen neuen Zugang zum Bilde Gottes.
Auch die Kirchen müssen sich verändern
Ein wichtiger Teil des Prozesses bestand darin, diese Geschichten und Berichte an andere Christinnen und Christen weiterzugeben, häufig in erzählter Form oder auch in kleinen Filmen. Nur in Umrissen zeichnete sich ab, wie das Hören auf die, die in den alltäglichen Kämpfen um Würde, Identität und Leben stehen, zu einer Herausforderung für die akademische Theologie, aber auch für die kirchlichen Strukturen werden kann. Die Begegnung in den offenen Hütten des „Sokoni“ schuf ein Gegenbild zu Gemeinden, die sich hinter den festen Mauern ihres Kirchengebäudes häuslich eingerichtet haben.
Der Bericht über den Studienprozess in Malawi lässt erkennen, welche Herausforderung auch für die Kirchen selbst in einem solchen theologischen Prozess steckt. Nachdem die malawische Teilnehmergruppe im Detail dargestellt hatte, wie die Kirche zur Beendigung des Einparteiensystems in diesem südostafrikanischen Land beitrug und danach wachsam beobachtete, dass wirklich demokratische Verhältnisse entstehen konnten, heißt es in dem Bericht:
„Wenn die Kirche eine solche Rolle übernimmt, wird sie notwendigerweise Unruhe schaffen, denn sie gibt den zum Schweigen gebrachten Menschen eine Stimme und den Machlosen Macht. Sie rüttelt mit Sicherheit an den etablierten Strukturen. Aber ist das nicht gerade das, was Demokratie sein soll? Die erste Institution, die erschüttert werden wird, ist die Kirche selbst – denn eine Basisbewegung, die Kraft und Selbstbewusstsein gewonnen hat, wird Fragen zu den kirchlichen Strukturen stellen ... Es wird (bisher) gesagt, dass man im neuen Malawi frei ist, den Staatspräsidenten zu kritisieren, aber sich davor hüten sollte, den Bischof oder den Generalsekretär der eigenen Kirche zu kritisieren!“
Das Ernstnehmen der christlichen Botschaft des Lebens hat also Konsequenzen für das Zusammenleben in der Kirche und stellt etablierte gesellschaftliche und kirchliche Machtstrukturen in Frage. Aber gerade das ist die Chance, stellte Vishranti Nikayam in einem indischen Beitrag zum Studienprozess heraus: „Die Mission der Kirche besteht darin, Vorkämpfer des Lebens zu sein und an der Seite all derer zu stehen, die sich Gottes Herrschaft der Gerechtigkeit, der Liebe und des Lebens in Fülle für alle verpflichtet fühlen. Alle Ressourcen unserer Kirchen müssen dafür eingesetzt werden, solche Befreiungsbewegungen zu unterstützen. Damit ist auch die Einsicht verbunden, dass die gegenwärtigen Strukturen autoritärer Hierarchie und zentralisierter Macht in den Kirchen nicht in Übereinstimmung zu bringen sind mit dem Einsatz der Kirchen für die Opfer von Machtstrukturen. Wir müssen in einem pluralistischen Kontext neue Formen der Koinonia finden. Die Theologie des Lebens lädt uns zu einer Koinonia von Gemeinschaften ein, die unterschiedliche religiöse und ideologische Überzeugungen haben. Diese Koinonia beruht auf der Überzeugung, dass Christus für alle gestorben ist und uns mit Gott dem Schöpfer, Bewahrer und Erlöser versöhnt hat.“
Hat die Theologie des Lebens eine Zukunft?
Kann eine Theologie des Lebens, die auf Begegnung, Gespräch und gemeinsamem Engagement beruht, der heutigen komplexen Welt gerecht werden? Martin Robra stellte zum Stellenwert dieser Initiative in der ökumenischen Bewegung fest: „Dadurch, dass die Theologie des Lebens den Raum für die Begegnung und neue Beziehungen auf lokaler Ebene schafft und nach kreativen Wegen sucht, um mit gegensätzlichen Perspektiven und unterschiedlichen Zielen und Methoden zu arbeiten, trägt sie zur notwendigen Erneuerung der ökumenischen Bewegung bei.“
Leider hat die Theologie des Lebens keinen festen Platz im Leben der Kirchen und nicht einmal in der Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen erhalten. Schon ein Jahr nach dem Treffen in Nairobi, bei der ÖRK-Vollversammlung in Harare 1989, spielte sie nur noch eine geringe Rolle. Das lässt sich am Ablauf der Versammlung und ebenso an dem umfangreichen offiziellen Berichtsband erkennen. Nur sechs Mal ist die Theologie des Lebens im Register des Berichts verzeichnet, und meist handelt es sich um kurze Erwähnungen.
Die Gründe können hier nicht im Detail analysiert werden. Aber wenn inzwischen immer häufiger eine stark abnehmende Bedeutung der weltweiten ökumenischen Bewegung und des Ökumenischen Rates der Kirchen beklagt werden muss, kann das auch daran liegen, dass die Einbeziehung der Laien und insbesondere der Opfer von Unrecht und vorherrschender Globalisierung in das theologisches Nachdenken nicht konsequent fortgeführt wurde. Die kreative Verbindung von Glauben und Handeln, von Bibel lesen und sozialem Engagement war vielversprechend, aber eben auch ein riskanter Prozess. Zu riskant?
Waren die Vorbehalte in vielen orthodoxen Kirchen sowie in evangelischen Kirchen in Europa und hier besonders in großen Teilen der akademischen Theologie gegen diesen neuen Weg, Theologie zu betreiben, zu groß? Jesus hatte Fischer und andere „ungebildete“ Menschen zu seinen Jüngern gemacht, ihnen seine Nachfolge anvertraut. Können wir bei der Arbeit an einer Theologie des Lebens auf Menschen vertrauen, die keine Promotion als Theologen vorzuweisen und nicht einmal ein Theologiestudium abgeschlossen haben?