Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Der unvollendete Turm – eine biblische Geschichte schreibt Geschichte

 

Die Großstadt Babylon mit Menschen aus vielen Kulturen und mit vielen Sprachen muss die dorthin verschleppten Juden zugleich verwirrt und beeindruckt haben. Diese Erfahrung bildet den Hintergrund für die berühmte Geschichte vom Turmbau zu Babel. Das siebenstufige religiöse Heiligtum war das höchste Gebäude der Stadt und schien bis in den Himmel zu reichen, ein Wolkenkratzer, hätte man zweieinhalb Jahrtausende später gesagt. Die jüdischen Verfasser biblischer Texte verarbeiteten diese Erfahrung in die Geschichte vom unvollendeten Turmbau zu Babel.

 

Sie gehört zu den bekanntesten biblischen Geschichten und erfreut sich auch in Kindergottesdiensten großer Beliebtheit. Überliefert ist sie im 11. Kapitel des 1. Buches Mose. Sie beginnt mit der großen Gemeinsamkeit der Menschheit: „Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache“ (1. Mose 11,1). Die Menschen ließen sich gemeinsam im Lande Schinar nieder, erfahren wir. Wo dieses Land genau gelegen haben soll, wissen wir nicht, denn es kommt ohne nähere Ortsbestimmung in der Bibel vor und ist in der Archäologie unbekannt. Die Menschen beschlossen, Ziegel zu streichen und zu brennen, um daraus eine Stadt und einen Turm zu bauen, „dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder“ (1. Mose 11,4).

 

Gott schaute sich den in den Himmel wachsenden Turm an und sprach: „Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe“ (1. Mose 11,6-7). Die Menschen, die einander nun nicht mehr verstehen konnten, verstreuten sich in alle Länder, sodass sie den Turm nicht vollenden konnten. Dass im Hebräischen das Wort „Babel“ die Bedeutung „zerstreut“ hat, nutzten die Verfasser des biblischen Textes zu einem verbalen Angriff auf die Stadt Babylon. „Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder“ (1. Mose 11,9). Wie einmal Abraham aus Mesopotamien aufgebrochen war, so brachen nun die Völker von dort aus auf und verteilten sich über die Welt.

 

Die um ihre Identitätswahrung kämpfenden Juden im Exil waren nicht bereit, ihren Gott einfach in die Schar der Götter einzureihen, die den babylonischen Stadtgott Marduk zu ihrem König erkoren hatten. Eine alle Götter und ihre Gläubigen einbeziehende Religion musste zu einer Erosion der eigenen religiösen Identität führen. Diejenigen, die an den Ufern von Euphrat und Tigris dem jüdischen Glauben eine neue Gestalt gaben, predigten deshalb einen strengen Monotheismus. Sie grenzten sich nicht nur gegen eine amorphe Masse fremder Götter ab, sondern wehrten sich vor allem dagegen, dass ein fremder Gott an der Spitze eines größeren Kreises von Göttern stehen sollte. Insofern gibt es keine innere Verbindung von dem babylonischen Glauben an einen Gott, der über allen anderen Göttern stand, zu dem einen Gott, den die Juden anbeteten.

 

Es war vielmehr die scharfe Abgrenzung von dem babylonischen Gottesverständnis, die den strikten jüdischen Monotheismus gefördert hat. Einem religiösen Verständnis der Babylonier, die in einem Vielvölkerstaat alle integrieren und dabei die eigene politische und religiöse Dominanz festigen wollten, stand der jüdische Kampf um ein Überleben als kleines, unterdrücktes Volk und damit verbunden als eigenständige religiöse Gemeinschaft gegenüber. Die biblischen Autoren griffen deshalb in der Geschichte jenen Turm an, der wie kein anderes Gebäude den Glauben an den babylonischen Gott Marduk symbolisierte.

 

Dass zum Entstehen des jüdischen Monotheismus auch Ansätze zu einem Monotheismus in der ägyptischen Religion eine Rolle gespielt haben könnte, sei hier nur kurz erwähnt. Solche komplexen Zusammenhänge wurden von den Anhängern des „Panbabylonismus“ übersehen, die vor einem Jahrhundert eine direkte Abhängigkeit der jüdisch-christlichen religiösen Texte von babylonischen Vorstellungen postulierten und von denen noch die Rede sein wird.

 

Ein Schlüsselsatz in der kurzen biblischen Geschichte vom Turmbau sollte nicht überlesen werden: „… damit wir uns einen Namen machen“. Wie viele Türme – auch Bankentürme – sind erbaut worden, seit diese Geschichte das erste Mal erzählt wurde. Auch Nebukadnezar II. war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht frei von solchen Gefühlen, als er den gewaltigen Turm mitten in seiner aufstrebenden Hauptstadt   erneuern und imposanter denn je gestalten ließ. Aber damit war er nicht allein unter den Herrschern der Welt. Auch Herodes wollte sich einen Namen machen, als er    einen neuen Tempel in Jerusalem bauen ließ. Und wie viele Kathedralen in Europa mögen auch deshalb errichtet worden sein, weil sich die weltlichen oder geistlichen Herren der jeweiligen Städte einen Namen machen wollten? Nicht immer können wir gleich von einem Größenwahn sprechen, wenn Menschen – wie Nebukadnezar – sich ein Denkmal in Stein, Beton und Glas schaffen. Aber die biblischen Erzähler können uns sensibel machen für den göttlichen Weg zu Geschwisterlichkeit. Einen schier grenzenlosen Geltungsdrang zu entwickeln und diesen in gewaltigen Bauten und Werken zum Ausdruck zu bringen, erweist sich als Irrweg.

 

Predigen im Schatten des Turms

 

Viele heutige Theologinnen und Theologen haben ihre Mühe mit den nicht zu leugnenden Ähnlichkeiten biblischer Geschichten mit religiösen Mythen und Glaubensüberzeugungen der Babylonier. Und dieser Umstand wird im konkreten Fall noch komplizierter. Denn es gibt keine historischen Belege irgendwelcher Art dafür, dass der Turmbau von Babel unvollendet blieb und dass die Ursache dafür eine Sprachverwirrung war.

 

Nach der Lektüre von mehr als einem Dutzend „Turm“-Predigten zeichnete sich für mich ab, dass es einige typische Zugangsweisen zu diesem biblischen Text gibt. Viele Prediger beschäftigen sich überhaupt nicht mit der Frage, ob es sich um eine Geschichte handelt, die historisch tatsächlich stattgefunden hat, sondern erzählen und interpretieren sie so, als sei dies zweifelsfrei ein spannender „Tatsachenbericht“.

 

Aber manchmal geht das, was in Predigten als „Tatsachen“ dargestellt wird, weit über den biblischen Text selbst hinaus. In einer Predigt las ich, dass die babylonischen Herrscher für ihr Reich ein Verbot erlassen hatten, „die eigenen Sitten und Gebräuche, die eigene Kultur, die eigene Religion und auch die eigene Sprache“ zu pflegen. Dies muss man wohl als sehr kühne Darstellung der Kultur-, Religions- und Sprachenpolitik der Babylonier bezeichnen. Es gibt zum Beispiel keinen einzigen Beleg für die in der Predigt erwähnte Anordnung, „im ganzen babylonischen Reich durfte nur  Babylonisch gesprochen werden“, es also den vielen Völkern des riesigen Reiches verboten wurde, ihre eigenen Sprachen zu verwenden. Eine solches Verbot wäre schon deshalb nie erfolgt, weil es schlicht unsinnig gewesen wäre, die Verwendung des Babylonischen von Menschen zu erwarten, die die Sprache gar nicht erlernt hatten und kaum oder überhaupt nicht kannten – und das dürfte außerhalb des Kernlandes von Babylonien der weitaus größte Teil der Bevölkerung gewesen sein. Es drohte manchen Leuten in Babylonien „Verhaftung und Verhör“, aber ganz gewiss nicht dafür, dass sie in ihrem Heimatdorf ihre eigene Sprache verwendeten.

 

Dramaturgisch haben solche Behauptungen in der Predigt durchaus ihren Platz, weil so eine spannende Version der Turmgeschichte erzählt wird, die aber mit dem realen Turmbau in Babylon noch weniger zu tun hat als die biblische Geschichte. In der erwähnten Predigt wollten sich die Herrscher von Babylon einen „protzigen Palast“ errichten lassen. Weil die Menschen, die den „Palast“ bauen sollten, einander trotz der offiziellen Sprachenpolitik nicht verstanden, „herrschte auf der Baustelle bald ein fürchterliches Chaos – jedenfalls aus der Sicht der Mächtigen“. Für die Menschen, die an dem Bau arbeiteten, herrschte hingegen „ein buntes, fröhliches Durcheinander“.

 

Sagen wir es deutlich: Ein solches „fröhliches Durcheinander“ hat es auf der Baustelle des Turms mit äußerst hoher Wahrscheinlichkeit nie gegeben. Heutige Archäologen sind überzeugt, dass der Turm ein sehr hohes Maß an Planung und Arbeitsorganisation erforderte, und sind beeindruckt, wie die Babylonier dieses Bauvorhaben in wenigen Jahren abschlossen. Aber zurück zu dem „bunten, fröhlichen Durcheinander“ der am Bau beteiligten Menschen in der Predigt. Es wurde „über alle Sprach- und Kulturgrenzen hinweg Solidarität spürbar“, erfahren wir. Und die fantasievolle Geschichte geht weiter: „Die Aufseher verzweifelten oftmals an ihrer Aufgabe, waren oft dran und drauf, ihren Job aufzugeben.“ Wir ahnen das Ende: „So kam es, dass aus dem geplanten Monomentalbau eine Bauruine wurde.“

 

Von dort aus lässt sich in der Predigt rasch ein Bogen zu heutigem Größenwahn von Menschen schlagen. Hier einige Sätze aus der Predigt: „Liebe Geschwister, was damals in Babylon geschah, ist lange her. Seit dem hat es immer wieder Versuche gegeben, Menschen, Gruppen, ganze Völker unter einen Hut zu zwingen, und immer waren diese Versuche mit Monumentalbauten verbunden. Ich finde es tröstlich und ermutigend, dass all diese Versuche genau so gescheitert sind wie damals in Babylon.“ Ist es zu spitzfindig zu betonen, dass der Abbruch des Turmbaus eben nicht „geschah“ und dass „damals in Babylon“ der Monumentalbau vollendet wurde und nicht gescheitert ist?

 

Der babylonische Bau ist in einer biblischen Glaubensgeschichte gescheitert, viele spätere Monumentalbauten ganz real in der Geschichte der Menschheit. Das macht, denke ich, einen erheblichen Unterschied. Natürlich lässt sich die Babylongeschichte immer neu erzählen, sei es in Predigten, sei es im Theater oder in belletristischen Werken. Aber ein seriöser Romanautor wird nicht den Eindruck erwecken, etwas fantasievoll Erdachtes sei historisch tatsächlich geschehen – und ein Prediger, der mit viel Fantasie seine eigene Turmgeschichte erzählt, sollte es auch nicht tun.

 

In einer anderen Predigt fand ich einen frontalen Angriff auf die Rückfrage, ob das in der Bibel Beschriebene sich so zugetragen hat. Es gäbe auf dieser Erde Dinge, die nicht zu beweisen seien, und die sollte man dann einfach stehen lassen: „Hinter dem Wahn, alles beweisen zu wollen und zu können, egal mit welcher Absicht (Dinge zu be- oder widerlegen) steckt doch letztlich auch nichts anderes als die Vorstellung, dass wir alles können, für uns Menschen alles machbar ist.“ Eine solche Position hat allerdings Konsequenzen. „Rosinenpickerei“ wäre dann nämlich absolut unredlich, also die selektive Betonung, etwas in der Bibel Dargestelltes habe sich archäologisch nachgewiesen tatsächlich genau so zugetragen, während man in all den Fällen, wo dies nicht gelingt, von einem Wahn spricht, alles beweisen zu wollen. Die Biblische Archäologie würde aus einer solchen Perspektive jede Grundlage verlieren, jedenfalls dann, wenn man sie als ernsthafte Wissenschaft versteht, die sich mit den archäologischen Erkenntnissen über den Kontext und die geschichtliche Einordnung biblischer Geschichten und Berichte befasst – und nicht nur jene Aspekte herauspickt, die eigene Glaubensüberzeugungen bestätigen.

 

Problematisch ist es auch, wenn in Predigten der biblische Text vom Turmbau nicht in seiner Gänze ernst genommen wird. Am Anfang des Bibelabschnittes lesen wir, dass zu der Zeit, von der berichtet wird, alle Menschen einerlei Sprache hatten. Das schließt aus, dass es sich historisch um die Zeit von Nebukadnezar I. oder Nebukadnezar II. gehandelt haben kann, denn zu dieser Zeit gab es zweifelsohne eine Vielzahl von Sprachen nebeneinander. Dennoch wird in nicht wenigen Predigten der Eindruck erweckt, es sei in dem biblischen Text vom Turm in Babylon von einem dieser Könige die Rede.

 

Nimmt man trotzdem für einen Augenblick an, in der Bibel sei vom Turm die Rede, den Nebukadnezar II. errichten ließ, so wäre der Fortgang der Geschichte nicht erklärlich. Auch aus dem Buch „Und die Bibel hat doch recht“ von Werner Keller ist zu entnehmen, dass der Turm fertig gestellt wurde,[1] was dem biblischen Bericht vom unvollendeten Bauwerk eindeutig widerspricht. Um dennoch einen Beweis für die historische Zuverlässigkeit der Bibel zu liefern, zitiert Werner Keller die Beschreibung der Ziegel und ihrer Verarbeitung in 1. Mose 11,3 mit archäologischen Funden vom Turm und betont: „Sogar die von der Bibel für den Turmbau zu Babel angegebene Mauertechnik entspricht den Forschungsergebnissen.“[2] Für die historische Korrektheit und Exaktheit der biblischen Geschichte ist allerdings die Tatsache, dass der Turm fertig gestellt wurde, offenkundig relevanter als die korrekte Wiedergabe babylonischer Mauertechniken.

 

Wenn wir uns bereits aufgrund der ersten Verse des biblischen Textes von dem Gedanken verabschieden, bei dem Turm könnte es sich um ein Bauwerk von Nebukadnezar I. oder Nebukadnezar II. handeln, sei hier wenigstens noch kurz die These erwähnt, bei dem Turm könnte es sich um einen Tempel des assyrischen Königs Sargon II. aus dem 8. Jh. v. Chr. handeln, der in seiner neuen Residenzstadt Dur Scharrukion entstehen sollte. Er blieb tatsächlich unvollendet, aber nicht aufgrund einer Sprachverwirrung, sondern weil der Nachfolger von Sargon II. die Arbeiten an der Stadt einstellen ließ. Außerdem stand der Turm eben nicht – wie in der biblischen Geschichte dargestellt – in Babylon. Wir können uns deshalb einem Prediger anschließen, der schlicht feststellt: „Den Turm zu Babel unseres Kapitels hat man nicht ausfindig machen können.“ Er wird sich auch in Zukunft nicht finden lassen, sei hier prognostiziert.

 

Da ist es dem biblischen Text viel angemessener, ihn – wie der frühere EKD-Präses Manfred Kock – als Legende wahr und ernst zu nehmen. Er schreibt über die Geschichte: „Die erschließt sich nur, wenn wir nach der Glaubens- und Gotteserfahrung fragen, die die alte Legende geprägt hat.“[3] In seiner Predigt verwendet er auch den Begriff der Sage, um die biblische Geschichte vom Turmbau zu charakterisieren. Wenn wir die biblische Geschichte so verstehen, können wir eine plausible Verbindung zu dem realen Turm herstellen, der Babylon zur Zeit von Nebukadnezar II. überragte, und den die Verschleppten sahen, als sie sich der Stadt näherten. Er war ein imposantes Symbol der Macht der Babylonier, und so bot es sich an, ihn in eine Legende einzubeziehen und in Verbindung mit einer Auflehnung gegen Gott zu bringen. Die Verfasser der biblischen Legende vom Turmbau wollten nicht die historisch exakte Geschichte des realen Turms in Babylon erzählen, sondern ihm einen unrühmlichen Platz in einer ihrer Geschichten geben und als unvollendet erscheinen lassen.

 

Wie wir gesehen haben, war der reale Turm von Babylon ein Ausdruck des Glaubens an den Gott Marduk, der die Stadt schützen und vor Unheil bewahren sollte. Wir können ihn als Ausdruck der tiefen Religiosität eines Volkes achten, auch wenn wir nur zu gut verstehen können, dass er für die verschleppten Juden ein Symbol für die Herrschaft der verhassten Babylonier war. Im Schatten dieses Turms zu predigen, kann bedeuten, Legende und Wirklichkeit in die Predigt einzubeziehen – und so auf einer soliden Grundlage die Botschaft des biblischen Textes wahrzunehmen und zu vermitteln.

 

Ein Lob der Vielfalt der Völker

 

Schwer verständlich an der biblischen Geschichte vom Turmbau muss erscheinen, dass die Vielfalt der Sprachen und Völker zumindest auf den ersten Blick als Ergebnis von menschlichem Größenwahn und göttlicher Bestrafung erscheint. Folgt nach der Vertreibung aus dem Paradies und der großen Flut nun mit der Sprachverwirrung die dritte Bestrafung der Menschheit durch Gott? Ich verdanke einem Aufsatz des Alttestamentlers Jürgen Ebach[4] die Einsicht, dass eine genaue Beschäftigung mit dem hebräischen Text ein anderes Ergebnis zeitigt: Die Einheit der Menschen, von der am Anfang des Bibelabschnitts die Rede ist, ist im hebräischen Originaltext kein Urzustand, sondern eine hergestellte Einheit. Das wird dadurch bestätigt, dass im vorangehenden Kapitel 1. Mose 10 die „Völkertafel“ dargestellt wird, also bereits eine Vielfalt bestand. Diese Differenzierung wird durch die Menschen wieder rückgängig gemacht, die die Stadt und den Turm bauen.

 

Jürgen Ebach schreibt deshalb: „Die Babelerzählung endet damit, dass Gott die – modern ausgedrückt – Multikulturalität, d. h. den Zustand von Gen 10 wiederherstellt.“[5] Hier kommt auch Nimrod in den Blick, der zwar nicht nach dem biblischen Bericht, aber doch nach einer frühen jüdischen Überlieferung der Initiator des Turmbaus gewesen sein soll. Nimrod wird in der sogenannten „Völkertafel“ als Urenkel Noahs und als gewaltiger Jäger eingeführt. Er wird vorgestellt als Herrscher von „Babel, Erech, Akkad und Kalne im Lande Schinar“ (1. Mose 10,10). Als Herrscher von Babylon bildet er in einer Legende die Brücke zur Geschichte von dem gewaltigen Turm, der die Menschen in Konflikt mit Gott brachte. Dieser hohe Turm sollte, so diese jüdische Überlieferung, die Menschen vor einer zukünftigen von Gott ausgehenden Flut schützen, während zugleich Nimrods Herrschaft und Ruhm gefestigt werden sollten.

 

Bis in die Neuzeit wurde Nimrod in Europa als historische Person angesehen und hatte deshalb ebenso in Bruegels Gemälde vom Turm einen Platz wie in Dantes „Göttlicher Komödie“ und Luthers Polemik gegen das Papsttum. Heute herrscht in der christlichen Theologie weitgehend Übereinstimmung, dass Nimrod zu den Sagengestalten in der biblischen Überlieferung gehört.

 

Dass am Ende der biblischen Geschichte die Vielfalt der Menschheit wiederhergestellt wird, ist keine Strafe, sondern ein Anlass zu Dankbarkeit, können wir von Jürgen Ebach lernen. Die Geschichte stellt diese Vielfalt als Gottes Wunsch und Willen dar, und so können wir sie auch heute leben. Das Pfingstwunder war eine Feier dieser Vielfalt, denn die Menschen unterschiedlichster Völker hörten die Botschaft der     Apostel nicht in einer einheitlichen Sprache, sondern jede und jeder in der eigenen Sprache.

 

Heute ist die Vielfalt der Sprachen auf der Welt gefährdet. Es gibt mehr als 6.000 heute noch verwendete Sprachen, aber beinahe jede Woche verschwindet nach UNESCO-Feststellungen eine von ihnen für immer von der Erde. Etwa 2.500 Sprachen sind gefährdet, weil sie von weniger als 10.000 Menschen gesprochen werden. Akute Gefährdungen entstehen dadurch, dass kleine Völker vertrieben oder so massiv entwurzelt werden, dass sie ihre Kultur und Sprache nicht bewahren können. Mit jeder Sprache verschwindet ein Teil des großen kulturellen Reichtums auf unserem Planeten. Wenn Gott in der Geschichte der Zerstreuung der Menschheit dafür gesorgt hat, dass eine „Einheitssprache“ verhindert wurde, so stehen wir heute vor der Aufgabe, den gefährdeten Reichtum an Sprachen zu bewahren.

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann



[1] Vgl. Werner Keller: Und die Bibel hat doch recht, a. a. O., S. 325.

[2] Ebenda.

[3] Manfred Kock: Predigt zu 1. Mose 11,1-9, 23.05.2004, Die Predigtdatenbank, www.predigten.de

[4] Vgl. Jürgen Ebach: „Wir sind das Volk“, Die Erzählung vom „Turmbau zu Babel“, in: Giancarlo Collet (Hrsg.): Weltdorf Babel, Globalisierung als theologische Herausforderung, Münster 2001, S. 20ff.

[5] Ebenda, S. 27.