Robert Koldewey und die Ausgrabungen in Babylon
Am Anfang stand ein unbegrenzter Geltungsdrang – und am Ende die beeindruckende Präsentation der Schönheit Babylons in Berlin. Unter Kaiser Wilhelm II. strebte das Deutsche Reich nach Weltgeltung. Nicht nur mit großen Schlachtschiffen, sondern auch auf wissenschaftlichem Gebiet wollte man mit Großbritannien und Frankreich konkurrieren. Da der Kaiser ein großes Interesse sowohl an der Archäologie als auch am Orient hatte, war er sofort begeistert, als deutsche Archäologen den Plan entwickelten, das vom Wüstensand bedeckte Babylon auszugraben.
Der 1855 geborene Architekt und Archäologe Robert Koldewey wurde zur treibenden Kraft dieses Vorhabens. 1887/88 und erneut ein Jahrzehnt später bereiste er Mesopotamien und setzte sich danach dafür ein, mit einem Archäologenteam Babylon auszugraben. 1898 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Orient-Gesellschaft. Sie konnte dank zahlreicher Einzelspenden, einer beträchtlichen Spende des Kaisers sowie staatlicher Zuschüsse eine Ausgrabungsexpedition nach Mesopotamien vorbereiten.
Robert Koldewey überzeugte die Verantwortlichen, dass Babylon zum Ziel des deutschen Ausgrabungsvorhabens werden sollte. Zu dieser Entscheidung trugen seine mitgebrachte blau glasierte Ziegel ebenso bei wie der Mythos Babylon und die Bedeutung dieser Stadt in der Bibel. Babylon schien ideal geeignet zu sein, die deutsche Position in der internationalen Archäologie zu festigen. Mit der Leitung des Vorhabens wurde Robert Koldewey beauftragt, der bereits über Erfahrungen bei anderen Ausgrabungen verfügte und außerdem Arabisch sprach.
„Wir graben jeden Tag“
Das kleine deutsche Archäologenteam erreichte am 22. März 1899 Babylon und begann bereits vier Tage später mit den Arbeiten. Dank der guten Beziehungen des Deutschen Reiches zum Osmanischen Reich war es gelungen, eine Vereinbarung über die Teilung der Funde der deutschen Archäologen zwischen beiden Ländern zu schließen.
Um sich auf jahrelange Grabungen in der abgelegenen Wüstenregion vorzubereiten, wurde zunächst ein geräumiges Expeditionshaus mit Wohn- und Lagerräumen errichtet. Auf den ausgedehnten Grabungsflächen waren anschließend neben einigen wenigen deutschen Archäologen etwa 200 bis 250 einheimische Arbeiter tätig. Robert Koldeway ließ sich für die Überwachung der Arbeiten auf dem damals größten archäologischen Grabungsgelände im Mittleren Osten ein Motorrad aus Deutschland kommen, zu dieser Zeit noch eine große Seltenheit in dieser Weltgegend.
Die Ausdehnung der Innenstadt von Babylon mit mehr als 2,5 Quadratkilometern machte es, war sich Robert Koldewey bewusst, gänzlich unmöglich, selbst in Jahrzehnten die ganze Stadt auszugraben. Deshalb beschäftigten sich die deutschen Archäologen zunächst gründlich mit Topografie der Stadt, um sich anschließend auf einige besonders Erfolg versprechende Grabungsflächen zu konzentrieren.
Die Aufgabe war selbst bei dieser Beschränkung gewaltig, musste doch zunächst eine Schicht von bis zu 24 Metern Sand und Schutt abgetragen werden, bevor die Reste der antiken Stadt freigelegt werden konnten. Zum Abtransport von Sand und Schutt wurde sogar eine Feldbahn gebaut. Robert Koldewey berichtete über die Arbeit in Babylon: „Wir graben aus Prinzip so lange wie irgend möglich und benutzen jeden Tag dazu. Alles andere ist Nebensache.“
Wertvolle Funde wurden in Kisten verpackt und nach Berlin transportiert
Bald konnte von bedeutenden Grabungsergebnissen nach Berlin berichtet werden. Die Archäologen stießen auf die Reste der Prozessionsstraße, des gewaltigen Ischtar-Tores und eines Palastes von König Nebukadnezar II. Die Grabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Babylon waren daher aus deutscher Perspektive ein großer Erfolg. Neben spektakulären Einzelfunden gelang es den Archäologen vor allem, vieles über die Geschichte, die Architektur und das Alltagsleben in Babylon herauszufinden. Das war eine Mammutaufgabe in einer antiken Stadt mit einer über 2.000-jährigen Geschichte, die immer wieder zerstört und neu aufgebaut worden war. In Berlin machte sich allerdings eine gewisse Enttäuschung darüber breit, dass nicht mehr Skulpturen, Schmuckstücke etc. in den Kisten aus Babylon ankamen, die sich in Museen ausstellen ließen. Robert Koldewey hingegen vertrat die Auffassung, kein Fund sei unbedeutend. Sein akribischer Umgang mit jedem Fundstück setzte Maßstäbe für spätere archäologische Grabungen.
Als ein Grundproblem der archäologischen Grabungen erwies sich, dass Babylon sehr überwiegend mit ungebrannten Lehmziegeln errichtet worden war, von denen in vielen Fällen kaum etwas übrig geblieben war. Nur viele der blau glasierten Ziegel waren noch in gutem Zustand und wurde in Kisten verpackt nach Berlin geschickt.
Was von einer Siedlungsepoche übrig geblieben war, musste abtragen werden, um zu älteren Schichten vorzudringen. Babylon ist im Laufe seiner Geschichte etwa ein Dutzend Mal zerstört und neu erbaut worden. Die deutschen Archäologen konzentrierten sich auf die Zeit des berühmten Königs Nebukadnezar II. im 6. Jahrhundert v. Chr., sie entdeckten aber auch einige Spuren aus früheren Zeiten. Die Frühgeschichte der antiken Stadt blieb bis heute weitgehend unerforscht.
Wie Daniels Löwengrube „entdeckt“ wurde
Europäische Christen verfolgten die deutschen Ausgrabungen in Babylon mit der Hoffnung, dass die Archäologen die biblischen Geschichten über die Stadt am Euphrat bestätigt würden. Robert Koldewey hat solchen Hoffnungen keine neue Nahrung gegeben – außer beim Besuch einer frommen britischen Reisegruppe, die er über das Grabungsgelände führte. Um die Erwartungen der Besucher nicht ganz zu enttäuschen, bezeichnete er ein Grabungsloch, an dem man zufällig vorbeikam, als „Daniels Löwengrube“ und einen Ziegelschlackenberg als den Feuerofen aus der Danielgeschichte.
Koldewey ging noch einen Schritt weiter und erklärte einen zufällig daliegenden Lehmziegel mit einem Stempel von Nebukadnezar zur Textzeile aus dem berühmten Menetekel. Als die Reisegruppe dankbar und beglückt abgereist war, kritisierten seine Mitarbeiter den Archäologen, aber Robert Koldeway antwortete: „Wieso? Wer glaubt, wird selig! Sollte ich ihnen die Freude nehmen und sie enttäuschen? Das wird bis an ihr Lebensende das Erlebnis für sie bleiben!“
Die Erwartung, unter den Lehmbergen tatsächlich Daniels Löwengrube zu finden, hegte Robert Koldewey nicht. Dafür unterschied er zu deutlich Mythen und historische Wirklichkeit. Gerade deshalb können seine archäologischen Funde und Erkenntnisse über das historische Babylon uns so gut dabei helfen, die biblischen Geschichten über diese Stadt besser zu verstehen und einzuordnen.
Als der Kaiser zur „Biesterkonferenz“ einlud
1903 trafen zwei Schiffsladungen mit 399 Kisten voller glasierter Steine und anderer Funde aus Babylon in Berlin ein. Sie bildeten die Grundlage für die Babylon-Schätze des Vorderasiatischen Museums. Wer heute das Museum besucht, steht staunend ehrfurchtsvoll vor dem Ischtar-Tor und der Prozessionsstraße, den beeindruckenden Zeugnissen babylonischer Bau- und Berliner Rekonstruktionskunst. Die Archäologen in Babylon hatten intakte Reste des Tors und der Prozessionsstraße ausgraben können und machten sich die Mühe, jedes einzelne der vielen Tausend Fundstücke zu nummerieren, in eine Papiertüte zu legen und zu verschnüren. Präzise wurde die jeweilige Fundstelle vermerkt. Das sollte es ermöglichen, die Stücke bei der Rekonstruktion des Tores möglichst an die ursprüngliche Stelle zu platzieren.
Der Aufwand war vergeblich, denn in Berlin wurden die ausgepackten Bruchstücke unsortiert auf große Tische gelegt, um für die Rekonstruktion einer Figur oder eines Wandstücks passend erscheinende Stücke auszuwählen und ggf. zurechtzusägen oder zurechtzuschleifen. Wo die Glasur fehlte, wurde die Stelle übermalt. So entstanden schön aussehende Wände und Tierreliefs aus den zufällig ausgewählten Bruchstücken.
Als der Archäologe Walter Andrae, der engste Mitarbeiter Koldeweys, bei einem Besuch in Berlin 1908 die Arbeiten begutachtete, war er entsetzt. Er forderte, dass fehlende Teile für den Betrachter erkennbar bleiben sollten, statt sie zu übertünchen. Der Streit mit den Museumsleuten eskalierte, sodass schließlich der Kaiser höchstpersönlich zur sogenannten „Biesterkonferenz“ am 14. Oktober 1908 einlud, bei der geklärt werden sollte, wie mit den Relieftieren (den „Biestern“) umzugehen sei.
Walter Andrae konnte sich beim Kaiser mit seinen Auffassungen auf ganzer Linie durchsetzen. Aber das nützte ihm nicht viel, denn nach seiner Abreise zurück nach Babylon wurde wieder kräftig gesägt, geschliffen und gemalt. Erst bei der letzten Lieferung von archäologischen Funden, die 1927 das Museum erreichte, wurde stärker darauf geachtet, an welcher Stelle ein Bruchstück gefunden worden war und mit welchen anderen Bruchstücken es zusammengehörte.
Die Entdeckung der Reste des Turms
Trotz dieser und zahlreicher anderer Probleme war die archäologische Erforschung Babylons überaus erfolgreich. Es gelang den deutschen Archäologen sogar noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg, den berühmten Tempelturm zu finden. Viel war von dem einst weit über Babylonien hinaus berühmten Bauwerk nicht mehr zu erkennen, aber wichtig war vor allem, dass nun bewiesen war, dass es den Turm tatsächlich gegeben hatte.
Es ist heute immer noch beeindruckend, was Robert Koldeway, seine deutschen Assistenten und die zahlreichen einheimischen Arbeiter in wenigen Jahren unter schwierigsten äußeren Bedingungen geleistet haben. Selbst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte nicht zur Einstellung der Grabungstätigkeit. Erst 1917, als britische Truppen sich rasch Babylon näherten, verließ Robert Koldewey die Grabungsstätte am Euphrat.
Robert Koldewey hatte annähernd zwei Jahrzehnte lang fast ohne Urlaub nicht nur in Babylon gearbeitet, sondern auch die deutschen Ausgrabungen in den bedeutenden mesopotamischen Städten Assur und Uruk betreut, ebenso einige weitere Ausgrabungen in der Region. Seine ausgezeichneten Arabischkenntnisse, seine Ausbildung als Archäologe und als Architekt, sein Zeichentalent und seine beeindruckende Hartnäckigkeit machten ihn zum idealen Ausgrabungsleiter.
Als er Ende des Ersten Weltkriegs nach Berlin zurückkehrte, waren viele berühmte Bauten und auch ganz gewöhnliche Wohnhäuser in Babylon lokalisiert und zum Teil ausgegraben worden. Man wusste nun unvergleichlich mehr über das Babylon in der Zeit von Nebukadnezar II. als zwei Jahrzehnte vorher. Auch hatte Robert Koldewey neue Maßstäbe für wissenschaftliche Ausgrabungen im Mittleren Osten gesetzt und sich mit seiner Auffassung durchgesetzt, dass es nicht nur darum geht, einige schöne Schmuckstücke auszugraben, sondern dass es darauf ankommt, systematisch zu erfassen, wie die Menschen in früheren Zeiten gelebt haben.
Aber die intensive archäologische Arbeit in Mesopotamien hinterließen Spuren. Alfred Lichtwark, der damalige Direktor der Hamburger Kunsthalle, schrieb über eine Begegnung mit dem Archäologen bei dessen Deutschlandreise 1904: „Koldeway aus Babylon, ganz zum Araber geworden, er blickt, lächelt, gestikuliert wie ein Semit vom arabischen Typus …“ Etwas skurril und kauzig muss der Archäologe in all den Jahren in der Wüste wohl geworden sein. Nach dem Tod des Archäologen am 4. Februar 1925 in Berlin schrieb sein Schüler Julius Jordan: „Koldewey war ein Einsiedler drüben am Euphrat und hier unter den vielen Leuten.“
Unumstritten sind die deutschen deutschen archäologischen Grabungen in Babylon nicht. Reiner Luyken hat für die „Zeit“ 2009 die Reste der antiken Stadt besucht und diagnostiziert: „Nach knapp 20 Jahren hinterließ der vom Reich ausgesandte Archäologe ein seiner Kostbarkeiten entblößtes Gerippe. Er verpackte alles, was glänzte, in Kisten ... Der teutonische Gelehrte räumte gründlicher auf als alle anderen Schatzgräber seiner Zeit. In den an Kunstraub reichen Annalen der Altertumsforschung war sein Beutezug einer der dreistesten.“
Mehr über die berühmte Stadt am Euphrat und ihre Bedeutung für die heutige Welt finden Sie in meinem Buch „Babylon – Mythos und Wirklichkeit“, das im Steinmann Verlag erschienen ist.