„Dort trat ein Matrose aufs Podium, der sichtlich duhn war, ein kleiner Kerl mit einem vom Wind und Feuerwasser gegerbten Geiergesicht, die Haut spannte sich straff über die Backenknochen, die Wangen eingefallen, und unter einer großen messerscharf geknickten Nase sprang noch schärfer ein Kinn spitz hervor, darüber ein Seemannsmaul mit herabgezogenen Mundwinkeln und herabfallender, vorspringender Unterlippe. Es war die seltsamste Vereinigung von Sachse und Seemann, und dort oben stand er im blauen Tabakqualm und trug zuerst seine Turngedichte vor und bald darauf seine Balladen von Kuttel Daddeldu. Es wäre falsch, anzunehmen, daß diese Gedichte alle salonfähig gewesen wären, im Gegenteil …“ So hat Bruno E. Werner 1934 in einem Nachruf geschildert, wie er kurz nach dem Ersten Weltkrieg Ringelnatz erlebt hatte.
In Hamburg hatte Ringelnatz seine kurze Seemannslaufbahn begonnen und hier durfte er von 1933 an nicht mehr auftreten. Das, was dazwischen lag, war ein Leben mit vielen Aufs und Abs – eigentlich mehr Abs, aber Ringelnatz gab nicht auf und verarbeitete viele seiner Erlebnisse in Gedichten, die bis heute amüsiert und oder nachdenklich gelesen werden.
Kindheit in einer Künstler- und Literatenfamilie
Geboren wurde er am 7. August 1883 als Hans Gustav Bötticher in Wurzen bei Leipzig. Da war sein Weg zum witzig-skurrilen Schriftsteller, Kabarettisten und Maler natürlich noch nicht vorgezeichnet. Aber die Voraussetzungen dafür waren günstig. Sein Vater Georg Bötticher war Zeichner und vor allem erfolgreicher Verfasser humoristischer Verse und Kinderbücher. Er konnte von seiner schriftstellerischen Tätigkeit leben, veröffentliche vierzig Bücher und war - auf diesem Gebiet - das große Vorbild des Sohnes. Die Mutter Rosa Marie zeichnete ebenfalls und erstellte Muster für Perlenstickereien. Die Eltern waren mit ihrer künstlerischen und schriftstellerischen Tätigkeit so erfolgreich, dass sie zu Wohlstand kamen und zum Beispiel zwei Dienstmädchen hatten.
1886 zog die Familie nach Leipzig um, wo der Vater noch besser Kontakte für seine schriftstellerische Tätigkeit knüpfen konnte. So gab er nun zum Beispiel regelmäßig „Auerbachs Deutschen Kinderkalender“ heraus, wo dann auch die ersten literarischen Arbeiten des Sohnes erschienen, ein Märchen und zwei Gedichte.
Als ein Tattoo den Besuch des Gymnasiums beendete
In der Schule hatte der zukünftige Schriftsteller große Probleme, nicht nur mit den Lehrern, sondern auch den Mitschülern. Diese hänselten ihn wegen seiner mädchenhaften Frisur, seiner Vogelnase und seinem markanten Kinn. Später bekannte Ringelnatz: „Ich bin überzeugt, dass mein Gesicht mein Schicksal bestimmt. Hätte ich ein anderes Gesicht, wäre mein Leben ganz anders, jedenfalls ruhiger verlaufen.“ So aber flüchtete der Junge erst einmal in die Welt des Zeichnens und Schreibens. Über seine Schulzeit schrieb Bötticher später: „Das einzige Verlockende am Königlichen Staatsgymnasium waren Senfgurken, die der Pedell selber einlegte und davon er uns gegen geringe Bezahlung verkaufte. Sie zergingen auf der Zunge wie Butter und schmeckten ungleich köstlicher als die gewohnten Mahlzeiten daheim.“
Das Gymnasialzeit ging abrupt zu Ende, nachdem Joachim Bötticher sich bei einer „Völkerschau“ in Leipzig von einer Samoanerin ein Tattoo auf dem Unterarm stechen ließ und es stolz in der Schule präsentierte. Er wurde daraufhin mit sofortiger Wirkung vom Gymnasium verwiesen. Beim anschließenden Besuch einer Privatschule verbesserten sich seine schulischen Leistungen nicht und er war nach eigenem Bekunden rasch wieder der „Haupthanswurst“. Er musste zwei Schuljahre wiederholen und beendete mit der Obersekundarreife seine Schulzeit im Jahre 1901. Er schrieb später: „Keines der Lehrfächer regte mich an. Ich war in allen schlecht.“
Die Flucht aus dem bürgerlichen Milieu
Zum Entsetzen seiner Eltern beschloss der Schulabbrecher, Seemann zu werden. Sein Biograf Herbert Günther schrieb über das Verhältnis des jungen Mannes zu seinen Eltern: „Das Leben von Ringelnatz war nicht zuletzt bestimmt durch seine Flucht aus dem bürgerlichen Milieu des Elternhauses.“ Die Beziehung zu den Eltern und besonders zum Vater war schwierig, das hat der Dichter Ringelnatz später nicht verschwiegen. 1905 schrieb er ein Gedicht zum Geburtstag des Vaters mit diesem Vers:
Daß ich so oft Dich kränkte
Und daß ich Dir heute nichts schenke
Mein lieber Papa, verzeih.
Mögst Du, Gott wolle es geben,
Gesund und glücklich verleben,
Den nächsten zwanzigsten Mai!
Alle Warnungen der Eltern halfen nichts, und als der Sohn sich 1901 von Leipzig auf den Weg nach Hamburg machte, um Seemann zu werden, da begleitete ihn sein Vater. Er war es, der beim „Heuerbas“ die 450 Mark bezahlte, die erforderlich waren, um den zukünftigen Seemann mit allem auszustatten, was er an Bord brauchen würde, von den Fausthandschuhen bis zur Tabakpfeife. Auch ein dolchartiges Messer samt Scheide gehörte zur Ausrüstung: „Das erschien mir das Wertvollste an der ganzen Ausrüstung. Meine achtzehnjährige Phantasie malte sich dabei abenteuerliche, wilde Szenen an fernen Küsten aus, wo dieses Messer eine Hauptrolle spielte.“
Bötticher heuerte auf dem Segelschiff „Elli“ an. Das Schiff lag nicht im Hamburger Hafen, sondern in Le Havre. Deshalb musste der zukünftige Matrose erst einmal an Bord eines französischen Dampfers zu diesem Hafen reisen. Hamburg verließ er, der zuletzt ohne seinen Vater in der Stadt gelebt hatte, in trüber Stimmung: „Mir war sehr beklommen zu Mute … Bald kamen wir an das Freihafenviertel. Über Brücken hinweg. Links und rechts zeigten sich die für Hamburg charakteristischen Fleete. Vor den langen Lagerhäusern standen große, eiserne Kräne. Arbeiter, Packer, Kutscher, Zollwächter waren überall lärmend beschäftigt. Plattdeutsche Laute, Schimpfworte, Kommandos und Pfeifensignale drangen an mein Ohr. Aber alles, was ich sah, war mir fremd und abstoßend.“
Endlich an Bord der „Elli“, wurde der jugendliche Seemann gehänselt (allein schon wegen seines sächsischen Dialekts) und beleidigt, musste sogar körperliche Gewalt erdulden. Und trotzdem blieb Bötticher zunächst Seemann, eine Tätigkeit, die er in den Häfen immer wieder unterbrach, um für eine Weile Aushilfsjobs anzunehmen. „Ich fuhr als Schiffsjunge, Leichtmatrose und Matrose auf Seglern und Dampfschiffen einige Jahre lang nach Süd-, Zentral- und Nordamerika, Afrika, Spanien, Russland – nach etwa 22 außerdeutschen Ländern. Einige davon lernte ich näher kennen, indem ich mehrmals desertierte und mich dann, meist mittellos, herumtrieb, bis ich irgendwelche Beschäftigung fand.“
Nach eigenen Angaben hat Bötticher an Land mehr als 30 verschiedene Tätigkeiten ausgeübt. Die Arbeit als Aushilfe bei einem Schlangenbeschwörer in der „Schlangenbude“ auf dem Hamburger Dom gehört zweifellos zu den interessantesten dieser Tätigkeiten. Hier hatte er die Aufgabe, die Riesenschlangen zu ihrem Auftritt und zurück zu tragen. Seine Seemanns-Karriere beendete Bötticher 1905 bei der Kaiserlichen Marine in Kiel. Aber sein Traum, weiter als Seemann die Meere der Welt zu befahren, blieb lebendig, und er verarbeitete ihn später zu seinen berühmten „Kuddel-Daddeldu“-Versen. Auf der Bühne trat er passenderweise in Matrosenkleidung auf.
Lehrzeit in einer Dachpappenfirma in Hamburg
Es war in Hamburg, wo Bötticher 1903 in ein Kabarett und eine ganz neue Welt für sich entdeckte: „Ich ging auch zum ersten Mal in ein Kabarett, in der Wexpassage. Eine robuste Dame sang dort allabendlich ‚Ich bin a armer Bettelbuah.‘ Dem Zauber dieser Dame erlag ich eine Zeit lang.“ Anfang 1905 begann Bötticher eine Lehre bei der Hamburger Dachpappenfirma Ruberoid. In der zweijährigen Ausbildungszeit hat er sich dort wohlgefühlt: „Bald war ich eingelebt, kannte die Leute und ihre besonderen Eigenheiten. Es war ein großes Stück Gemütlichkeit in diesem Kontorleben. Die Firma war sowohl in ihrem geschäftlichen Gebaren als auch in ihrer Haltung zum Personal hamburgisch vornehm.“ Der Lehrling erhielt zwar kein Gehalt, aber zu Weihnachten Gratifikationen. Als eine Zeichnung und ein Text des jungen Mannes geeignet befunden wurden, für die Reklame der Firma genutzt zu werden, erhielt er Sonderhonorare.
Weil sein Vater ihn jeden Monat finanziell unterstützte, konnte Bötticher sich ein Zimmer bei einer Wirtin in der Großen Reichenstraße leisten. Hier entstanden seine ersten Gemälde und er schrieb weiterhin Gedichte, die er an satirische Zeitschriften wie „Kladderadatsch“ schickte - viele kamen allerdings unveröffentlicht zurück. Bötticher besuchte eine Handelsschule, wo er „allerhand Allotria“ trieb, und nahm außerdem Klavierunterricht. Wie so oft, verbaute Bötticher sich auch diesen Klavierunterricht durch seinen Schabernack. Er zwickte den Schwanz der Katze seines Klavierlehrers, der ihn daraufhin zur Tür hinaus schob und dem Schüler bedeutete, er möge nie wieder kommen.
Ringelnatz tauchte in die Welt der Hamburger Bohème ein und war häufiger Gast des Juweliers Wilkens, dessen Haus am Jungfernstieg ein Treffpunkt der avantgardistischen Maler-, Musiker- und Literatenkreise war. Nach langen Abenden soll Ringelnatz sich in einen Teppich des Hausherrn eingerollt und geschlafen haben. Er nannte den Juwelier „Kapitän Muckelmann“ und hat ihm 1923 in der Geschichte „Kuttel Daddeldu erzählt seinen Kindern das Märchen vom Rotkäppchen“ ein literarisches Denkmal gesetzt: „Also Kinners, wenn ihr mal fünf Minuten lang das Maul halten könnt, dann will ich euch die Geschichte vom Rotkäppchen erzählen, wenn ich mir das noch zusammenreimen kann. Der alte Kapitän Muckelmann hat mir das vorerzählt, als ich noch so klein und so dumm war, wie ihr jetzt seid. Und Kapitän Muckelmann hat nie gelogen.“
Erfahrungen im Militärarrest
Nachdem Bötticher zu einer vorgeschriebenen „Kontrollversammlung“ des Militärs nicht erschienen war, erhielt er die schriftliche Nachricht, dass er sich zu einem 24-stündigen Arrest einzufinden hätte. Als er erschien, war aber gerade keine Arrestzelle frei, man „vertröstete mich auf andernmal“. Für den zweiten Termin holte ihn ein Soldat ab.
Was dann geschah, hat Böttcher später so beschrieben: „Unterwegs beschwatzte ich ihn, mit mir in einer entlegenen Schenke einzukehren. Dort besoff er sich auf meine Kosten so sehr, dass er, nachdem er mich im Arrestlokal unter vorschriftsmäßigem Zeremoniell abgeliefert hatte, selbst abgeführt wurde. Man nahm mir die Hosenträger ab, damit ich mich nicht erhängen könnte. Ich verbracht vierundzwanzig abscheuliche Stunden bei Wasser und Brot. Kaum erträglich, obwohl meine Phantasie viele Spiele in der kahlen Zelle erfand.“
Die Ruberoid-Gesellschaft schickte Bötticher nach Abschluss seiner Ausbildung in Hamburg als Angestellten nach Leipzig und Frankfurt am Main. In den folgenden Jahren wechselte er die Arbeitgeber, aber die Bemühungen Böttichers, eine dauerhafte feste Anstellung zu finden, scheiterten immer wieder an seinen spontanen abenteuerlichen Reisen ohne ausreichend Geld.
Kabarettist in München und Kriegsdienst in Cuxhaven
1909 begannen – etwas – bessere Zeiten für Bötticher. Er trat in der Künstlerkneipe Simplicissimus in München auf und stieg zu so etwas wie dem Hausdichter auf. Er bekam viel Lob, aber wenig Honorar. Zunächst erhielt er für jeden Auftritt lediglich ein Bier und etwas zu essen, dann zusätzlich zwei Mark. Davon konnte er nicht leben und ebenso wenig von den Honoraren der Zeitschrift „Simplicissimus“. Er fühlte sich zu Recht ausgebeutet und machte sich wieder auf die Wanderschaft. Auf Meldezetteln schrieb er als Beruf „reisender Artist“.
Bötticher kam weit herum und blieb bitterarm. Daran konnte auch sein erster schmaler Gedichtband im Jahre 1910 nichts ändern. Dass er von 1912 an zwei Jahre lang in den Bibliotheken von Adligen arbeiten konnte, war die große Ausnahme, änderte aber nichts an seiner insgesamt beklagenswerten Situation. 1914 meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst bei der Marine, wo er vergeblich auf einen Einsatz bei einer Seeschlacht hoffte. Er musste sich damit zufrieden geben, zum Kommandanten eines Minensuchbootes in Cuxhaven (damals ein Teil Hamburgs) aufzusteigen.
In all den Jahren schrieb und veröffentlichte er zahlreiche Gedichte, Geschichten und Novellen. Sie erschienen von 1919 an unter dem Pseudonym Joachim Ringelnatz.
Ich komme und gehe wieder,
Ich, der Matrose Ringelnatz.
Die Wellen des Meeres auf und nieder
Tragen mich und meine Lieder
Von Hafenplatz zu Hafenplatz.
Ihr kennt meine lange Nase,
Mein vom Sturm zerknittertes Gesicht
Daß ich so gerne spaße,
Versteht ihr das?
Oder nicht?
Als Offizier auf der Seite der Revolutionäre
1918 schloss Ringelnatz sich den aufständischen Matrosen an, beharrte aber darauf, mit der Offiziersmütze auf dem Kopf an der Revolution teilzunehmen. Bekanntlich scheiterten die aufständischen Matrosen mit ihren Vorstellungen von einer deutschen Revolution und Ringelnatz tat es auch. Ein Jahr später heiratete er die Lehrerin Leonharda Pieper, ein großer Glücksfall für ihn, denn sie wurde zum sicheren Hafen in seinem Vagabundenleben. „Muschelkalk“, wie er sie liebevoll nannte, unterstützte ihn intensiv bei seiner Arbeit. Er war inzwischen durch Auftritte in Kabaretts und Veröffentlichungen bekannt und anerkannt. Auch im neuen Medium Rundfunk war er gefragt. Unvergessen sein Gedicht „Im Park“:
Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum
still und verklärt wie im Traum.
Das war des Nachts elf Uhr zwei.
Und dann kam ich um vier
Morgens wieder vorbei.
Und da träumte noch immer das Tier.
Nun schlich ich mich leise - ich atmete kaum -
gegen den Wind an den Baum,
und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips.
Und da war es aus Gips.
Erfolgreiche Jahre als Kabarettist und Dichter
Ringelnatz trat auch wieder als Kabarettist im Münchner Simplicissimus auf, ebenso in Hamburg. So erinnerte sich der Journalist und Kunsthistoriker Lovis H. Lorenz an die vielen Auftritte von Joachim Ringelnatz in der Hansestadt: „An seinen Vortragsabenden trug er Matrosenbluse und flattrige Seemannsbüx. Selten ließ er dabei das Glas aus der Hand, nahm zwischen den Zeilen einen stärkenden Schluck und schwankte gelegentlich auch bedenklich. Doch er fiel niemals aus der Rolle, auch bei einem anschließenden Zug über St. Pauli nicht.“
Daneben schrieb er zahlreiche Gedichte, darunter Tiergedichte, und Bücher, vor allem auch Kinderbücher. In einem dieser Kinderbücher steht dieser Vers:
Was du verschweigst,
Was du den andern nicht zeigst,
Was dein Mund spricht
Und deine Hand tut,
Es kommt alles ans Licht.
Sei ohnedies gut.
Der sich oft verschlossen gebende Ringelnatz, der vielen misstrauisch und scheu erschien, öffnete sich Kindern. Der befreundete Schauspieler Paul Wegener hat geschrieben: „Am schnellsten gab er sich Kindern, die hingen sofort an ihm. Wer sein köstliches Kinder-Verwirr-Buch kennt, diesen Schreck aller bürgerlichen Eltern, wird es verstehen. Meine Söhne und Neffe und Töchter und Nichten liebten ihn gleichermaßen.“
Zu den Erwachsenen, zu denen Ringelnatz Vertrauen fasste, gehörte die berühmte Filmschauspielerin Asta Nielsen. Sie freundete sich mit ihm an, lud ihn in ihr Haus auf Hiddensee ein und beschrieb ihn so: „Ringelnatz war klein und unwahrscheinlich mager. Auf den ersten Blick schien sein Gesicht von einer mächtigen Don-Quichote-Nase beherrscht zu sein, sah man aber näher hin, wich alles in seinem großen Antlitz, ja beinahe seine ganze Gestalt, hinter ein Paar großer, dunkelblauer Augen zurück, die so schön waren, wie ich es kaum jemals erlebt habe.“
1928 erschien Ringelnatz Buch „Matrosen“, das sein Biograf Herbert Günther uns so vorstellt: „In diesem Buch Matrosen tritt der Verfasser zurück, und doch trägt es seine persönliche Note. Ringelnatz erzählt hier in kurzen Kapiteln und einfachen knappen Sätzen von den Nöten und Freuden jener weltfahrenden Menschen voller Fernweh und Heimweh, von diesem gutmütigen, groben, sentimentalen und tapferen Volk, das wir Matrosen nennen … Diese Berichte sind ehrlich, ungewollt, ungekünstelt, ohne Verzerrung und ohne Verklärung. Sie atmen den kräftigen Geruch von blanken Planken, braunen Mädchen, Branntwein, Apfelsinen, Schweiß. Wer sie liest, weiß mehr von der Welt.“
Von den Nazis geächtet
Dann kamen die Nazis an die Macht, und Ringelnatz musste erleben, dass sein Humor bei den neuen Herren nicht gefragt war. Im Gegenteil. Er erhielt ein Auftrittsverbot und seine Bücher wurden verbrannt. Dem Verbot fiel auch die von Freunden geplante Veranstaltung zu seinem 50. Geburtstag in Hamburg zum Opfer. Es war vorgesehen, dass er selbst Gedichte vortragen würde. Als der Rowohlt-Verlag 1943 zwangsweise geschlossen wurde, war die Begründung, dass der Verlag die Werke von Ringelnatz und Fallada veröffentlicht hatte. Ringelnatz Kommentar zu den unsicheren politischen Verhältnissen hatte er bereits 1931 so formuliert:
Wir haben keinen günstigen Wind.
Indem wir die Richtung verlieren,
Wissen wir doch, wo wir sind.
Aber wir frieren.
Das Ehepaar Ringelnatz verarmte, und dann erkrankte er zu allem Unglück auch noch an Tuberkulose. Joachim Ringelnatz starb am 17. November 1934 in Berlin. Seine Frau Leonharda Gescher-Ringelnatz, „Muschelkalk“, hatte er in einem Gedicht zugerufen:
Wenn ich tot bin, darfst du garnicht trauern,
Meine Liebe wird mich überdauern
Und in fremden Kleidern dir begegnen
Und dich segnen.
„Muschelkalk“ und Asta Nielsen gehörten zu den wenigen Trauergästen, denn seine Frau hatte den Tod von Ringelnatz bewusst erst danach bekannt gemacht. Bei der Trauerfeier erklang noch einmal sein Lieblingslied „La Paloma“. Dazu passen diese Zeilen seines Freundes, des Schauspielers Paul Wegener: „Es gibt Wanderer auf dieser Erde, die seelische Nomaden bleiben und als ewig fahrendes Volk durch die Wälder und Steppen des Lebens treiben und ohne Möbel in leichten Zelten flüchtig nächtigen. – So einer war Ringelnatz. Sein einzig fester Punkt, seine Heimat jenseits aller Dinge – Muschelkalk, seine Frau.“
Als Dichter bis heute in Erinnerung
„Muschelkalk“ wohnte bis zu ihrem Tod 1977 in Berlin. In der Nachkriegszeit erlebten die Gedichte ihres Mannes, nicht nur die humorvollen, eine Renaissance. Auch der Maler Ringelnatz wurde mit mehreren Ausstellungen gewürdigt. In Othmarschen gibt es eine Ringelnatztreppe. In Cuxhaven wurde ein Joachim-Ringelnatz-Museum eröffnet. Dabei hatte er über Cuxhaven geschrieben: „Eine Stadt, die mir gipsern, starr und unerträglich langweilig vorkam.“
Dieses Porträt kann nicht abgeschlossen werden, bevor eines seiner berühmtesten Gedichte hier erscheint, wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass an der Ecke Liebermannstraße/Elbchaussee eine Bronzeskulptur mit zwei überlebensgroßen Ameisen steht (wenn sie nicht gerade wieder einmal gestohlen wurde):
In Hamburg lebten zwei Ameisen,
die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der Chaussee,
da taten ihnen die Beine weh,
und da verzichteten sie weise
dann auf den letzten Teil der Reise.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro