„Von allen Menschen, denen ich bisher begegnet bin, kommt Harry Rowohlt einem Genie am Nächsten.“ Das schrieb der irisch-stämmige amerikanische Schriftsteller Roger Boylan über seinen Übersetzer, als dieser 60 Jahre alt geworden war. Boylan erinnerte sich an eine gemeinsame Lesereise im Jahr 2000. Sie führte auch nach Wien, wo „wir spätabends vor einem erschöpften Publikum lasen, das den ganzen Tag schon Lesungen über sich hatte ergehen lassen. Doch es hielt durch, mehr Harrys als meinetwegen, weil es in ihm ein Original erkannte, eine einzigartige Erscheinung mit jenem Maß an Unberechenbarkeit, das seiner Kunst einen Hauch von Gefahr und Aufregung verlieh. Das tun Genies eben: Sie bringen das Unerwartete in die Welt alltäglicher Gewissheiten, die wir übrigen bewohnen.“
Eine Kindheit mit „Pu der Bär“
Harry Rowohlt kam am 27. März 1945 in einem Luftschutzbunker in der Hamburger Hochallee zur Welt. Sein leiblicher Vater war der Verleger Ernst Rowohlt, seine Mutter die Schauspielerin Maria Pierenkämper, die bei der Geburt von Harry in dritter Ehe mit dem Maler Max Rupp verheiratet war. Der kam als Erzeuger von Harry nicht infrage, weil er sich zum fraglichen Zeitpunkt in russischer Kriegsgefangenschaft befand. In den ersten zehn Jahren trug Harry trotzdem den Nachnamen Rupp.
Die Mutter spielte weiter Theater, längere Zeit in Wiesbaden. In dem Interview-Buch „In-Schlucken-zwei-Spechte“ von Ralf Sotschek hat sich Harry Rowohlt so an diese Zeit erinnert: „Bewusst aufgewachsen bin ich in Wiesbaden im Alter von zwei bis sechs. Mit großem Genuss. Wir hatten einen wunderbaren Kindergarten. Lauter Schauspielerinnen und Künstlerinnen – also das, was man heutzutage als allein erziehende Mütter bezeichnen würde – haben zusammengelegt und eine Kindergärtnerin bezahlt, die wir alle sehr liebten … Das war ein Kinderladen lange vor der Zeit.“
Die Mutter nahm sich die Zeit, dem kleinen Harry „Pu der Bär“ vorzulesen, und der Sohn lernte Lesen, um dieses Buch allein genießen zu können. Das war natürlich noch die ältere Übersetzung jenes Buches, durch dessen Neuübersetzung Harry Rowohlt später ge- und berühmt wurde.
Das „ausgelagerte“ Kind
Nach der Wiesbadener Zeit wechselte die Mutter oft die Bühne und der Sohn Harry die Schule, „da bin ich ihr immer von Engagement zu Engagement nachgefolgt und war manchmal auch bei Freunden ausgelagert“. Sechszehn oder achtzehn verschiedene Schulen besuchte Harry. Auch nachdem die Mutter sich von ihrem dritten Mann hatte scheiden lassen und 1957 Ernst Rowohlt heiratete, war die „Bildungsreise“ noch nicht zu Ende, weil der Vater aus gesundheitlichen Gründen mit seiner Familie ins Allgäu zog und erst danach nach Hamburg zurückkehrte. Von seinem Vater hatte Harry Rowohlt später keine hohe Meinung: „Meinen Vater habe ich als jemanden erlebt, der zu den seltenen Menschen gehört, die überhaupt nichts können. Das ist ja eine echte Begabung.“
Harry Rowohlt als „Biedermann“
Trotz der nicht gerade günstige Bedingungen für den schulischen Erfolg schaffte Harry Rowohlt am Walddörfer-Gymnasium in Volksdorf das Abitur. Sein Abituraufsatz wurde als bester Aufsatz in Hamburg und seinem Umland ausgezeichnet. Der Klassen- und Deutschlehrer Horst-Jürgen Glockauer hat sich so an den Schulabschluss Rowohlts erinnert: „Der krönende Abschluss unserer gemeinsamen Oberstufenzeit war für mich das Musische Abitur, in dem die gesamte Klasse eine atmosphärisch dichte, geradezu unheimliche Aufführung von Biedermann und die Brandstifter ablieferte. In ihrem Zentrum stand – wen wunderte es - Harry Rowohlts schaurig-komische Verkörperung des negativen Protagnisten Biedermann (‚Zum Glück ist’s nicht bei uns … Zum Glück‘). Ich schätze, es war seine erste große satirische Leistung.“
Die Leistung war noch bemerkenswerter, wenn man weiß, dass Harry Rowohlt im Anzug seines Vater, mit grauer Perücke und aufgeklebtem Schnurbart auftrat. „An der spannendsten Stelle ging immer der Schnurbart ab.“ Wer solche Kalamitäten souverän meisterte, den konnte auch später bei Auftritten nichts erschüttern.
Die Studienzeit Harry Rowohlts war sehr kurz: „Amerikanistik in München, zweieinhalb Stunden lang. Ich hab so kurz studiert, dass ich noch nicht einmal in der Mensa war, dabei war es Freitag, und es hätte Fisch gegeben. Weil ich aber wirklich etwas lernen wollte, habe ich ziemlich bald gemerkt, dass man an der Uni falsch ist. Da kann man zwar in mehreren Jahren mehrere Scheine machen, aber um etwas zu lernen, ist es der falsche Ort.“
Als der Sohn sich weigerte, mit dem Verlag Konkurs zu gehen
Es bestand in der Familie die Hoffnung, dass der Sohn Harry im Rowohlt-Verlag tätig werden würde. Er machte deshalb eine Lehre beim Suhrkamp-Verlag. In Frankfurt am Main. Dort lernte er seine spätere Frau Ulla kennen. Nach dem Abschluss der zweieinhalbjährigen Lehrzeit arbeitete Harry Rowohlt als Volontär im Rowohlt-Verlag, in dem sein Halbbruder Heinrich Maria Ledig-Rowohlt nach dem Tod des Vaters die Leitung übernommen hatte.
Harry Rowohlt war über die wilhelminischen Strukturen und den Umgang mit den Beschäftigten im Verlag entsetzt. Er äußerte später über den Verlag: „Ich kannte den ja vorher nicht. Da hab ich ihn dann kennen gelernt und gedacht: Womit habe ich dieses Straflager verdient? Ich hatte doch niemanden umgebracht.“ Er fasste den Entschluss, sich nicht an der Leitung des Verlages zu beteiligen. Sein Vater war mit dem Verlag fünfmal pleitegegangen, und der Sohn war überzeugt, „diese Tradition hätte ich als erstes wiederbelebt“.
Harry Rowohlt heiratete seine Freundin Ulla und beide reisten in die USA. Der Verlegersohn war froh, jenseits des Atlantiks nicht ständig nach seiner Verbindung zum Rowohlt-Verlag gefragt zu werden, war dieser dort doch unbekannt. Er sammelte als Mitarbeiter des avantgardistischen New Yorker Verlages Grove Press weitere Erfahrungen in der literarischen Welt. Eineinhalb Jahre blieb er dort. „Das war eine wunderbare Zeit bei Grove“, erinnerte er sich später, aber sie endete abrupt mit einer fristlosen Kündigung, als er sich für die Bildung einer Gewerkschaftsgruppe engagierte.
Ein begnadeter und fleißiger Übersetzer
In seiner Zeit in New York stieß Harry Rowohlt auf ein Kinderbuch von Alexander Sutherland Neill, der gerade als Leiter der alternativen englischen Summerhill-Schule in Deutschland viel Interesse fand. Harry bot seinem Bruder an, das Buch zu übersetzen, aber der erklärte es für nicht übersetzbar, weil so viel amerikanischen 40er-Jahre-Gangsterslang darin vorkomme. Harry Rowohlt gelang es trotzdem meisterhaft, das Buch ins Deutsche zu übertragen, und er begründete damit seinen Ruf als begnadeter Übersetzer. Das Buch „Die grüne Wolke“ landete 1970 auf Platz Eins der Spiegel-Bestsellerliste.
Deshalb endete Rowohlt Tätigkeit als Werbetexter, die er nach der Rückkehr aus den USA übernommen hatte, rasch und er etablierte sich 1971 als freiberuflicher Übersetzer: „… weil ich ziemlich ungern vor die Tür gehe, bin ich beim Übersetzen geblieben, denn da muss man nicht vor die Tür gehen“. Ganze Generationen hat Harry Rowohlt mit seiner Übertragung und seinen Lesungen des Buches „Pu der Bär“ erfreut. Es hat auch heute noch einen festen Platz in Bücher- und Hörbuchregalen von Kindern und Erwachsenen. Daran anknüpfend hat Rowohlt unregelmäßig, aber dafür über etliche Jahre die Kolumne „Pooh’S Corner“ in der „Zeit“ veröffentlicht.
Im Laufe der Jahrzehnte hat Rowohlt annähernd 200 Bücher übersetzt, darunter viele irische Romane und einige Comics. Wie hoch seine Übersetzungsleistungen geschätzt wurden, zeigte sich an mehreren Auszeichnungen, aber auch an einem pfiffigen Cartoon des Zeichner-Duos Hauck & Bauer mit dieser Zeile: „Das Buch musst Du in der Übersetzung von Harry Rowohlt lesen. Im Original geht da viel verloren.“ Auch fünf Theaterstücke und ein Film hat Rowohlt ins Deutsche übertragen.
Wie gründlich Rowohlt als Übersetzer vorging, hat der amerikanische Schriftsteller Padgett Powell erlebt: „Als er um 1987 herum mein erstes Buch übersetzte, schickte er mir zwanzig oder dreißig Fragen über die genaue Bedeutung englischer idiomatischer Wendungen und Wörter. Ich erinnere mich, ihm zur Antwort sechs Seiten geschickt zu haben, die mir mehr Arbeit gemacht hatten als das ganze Buch.“
Als Obdachloser in der „Lindenstraße“
Durch einen Zufall geriet Rowohlt 1975 in die Fernsehserie „Lindenstraße“. Die Zeitschrift „Essen und Trinken“ veröffentlichte damals regelmäßig Beiträge über den gemeinsamen Besuch mit Prominenten in Restaurants irgendwo in Europa. Die Redaktion rief auch Harry Rowohlt an, der kein Interesse an der Mitwirkung an einem solchen Beitrag hatte und ablehnte. Seine Frau Ulla kritisierte ihn daraufhin, er hätte doch das Lokal „Akropolis“ in der Fernsehserie „Lindenstraße“ vorschlagen können. Dann hätte er seine Ruhe gehabt und es hätte höflicher geklungen. Harry Rowohlt rief auf der Stelle die Zeitschriftenredaktion an und machte diesen Vorschlag.
Wider Erwarten lud man ihn tatsächlich zur Mitwirkung an einer Folge der Fernsehserie in einer Nebenrolle im Lokal „Akropolis“ ein. Er schlug vor, die Rolle eines Obdachlosen im Restaurant zu übernehmen, „weil das die einzige Randgruppe ist, die bisher in der ‚Lindenstraße‘ etwas stiefmütterlich behandelt wurde. Und außerdem brauche ich dafür nicht viel Maske.“
Harry Rowohlt spielte den Obdachlosen so überzeugend, dass er zwei Jahrzehnten lang in insgesamt 193 Folgen der „Lindenstraße“ zu sehen war. Der Produzent der „Lindenstraße“, Hans W. Geißendörfer, erinnerte sich so an den Schauspieler: „Harry Rowohlt, unser intellektueller Penner aus der ‚Lindenstraße‘, war unvergleichlich naiv, schlau, schlitzohrig, charmant, klug und intellektuell, Dichter, Lesekünstler und Selbstdarsteller. Er war kein Schauspieler mit Fremdtext, er war immer er selbst und schenkte dem Publikum mit jedem Blick, Wort oder stummen Lächeln sein Herz.“
In den 1970er Jahren engagierte sich Harry Rowohlt in der Regierungszeit von Willy Brandt in der SPD. Später kühlte sein Verhältnis zur Partei ab, aber ausgetreten ist er nicht. Zu seinem politischen Engagement hat stets die Teilnahme an 1. Mai-Demonstrationen gehört. Seine Ablehnung des zweiten Irakkrieges der USA veranlasste ein Redakteurin des WDR zu der Interviewfrage, ob er antiamerikanisch wäre. Er widersprach vehement: „Ich – antiamerikanisch?? Ich habe geweint, als Winnetou starb!“
„Der dröhnende Bass hinter einem Urwald aus Bart“
1982 verkauften Harry Rowohlt und sein Bruder ihre Anteile am Rowohlt-Verlag an die Holtzbrinck-Verlagsgruppe, womit Harry Rowohlt endgültig von der Sorge befreit war, vielleicht doch noch einmal Verleger werden zu müssen. Stattdessen eröffnete sich ihm mit Lesungen ein neues Tätigkeitsfeld. David Hugendick schrieb in der „Zeit“ in einem Nachruf: „Als Vorleser war Rowohlt der größte, den wir hatten. Der dröhnende Bass hinter einem Urwald aus Bart. Ein ganzes Stimm-Orchester kam da hervor, so nannte es der Kritiker Rolf Michaelis einmal, das seufzte, schmatzte, schnaufte, gluckste, zwitscherte und ja, so hat es Pu sicher gewollt: brummte.“
Ein Meisterwerk war zweifellos das Hörbuch „Pu der Bär“, dazu noch einmal David Hugendick: „Rowohlt in jeder Rolle, für Ferkel in der Kopfstimme, dem depressiven Esel I-Ah leiht er ein traniges Näseln, das immer geschäftige und beschäftigte Kaninchen immer außer Atem, und selbstredend Pu, der summend umherwandert: ‚Der Schnee, der Schnee, in dem ich geh, tidelipom!‘“
Harry Rowohlt löste mit seinen Lesungen beim Publikum immer wieder Begeisterung aus, obwohl manch eine Veranstaltung vier oder auch sechs Stunden dauern konnte. Es waren nämlich keine Lesungen im engeren Sinne, weil Rowohlt das Lesen der Texte immer wieder für Abschweifungen unterbrach. Im Verlauf seiner Lesungen nahm er häufiger einen Schluck alkoholischer Getränke zu sich, vorzugsweise irischen Whisky. Er war besonders stolz darauf, dass ihm der Titel „Ambassador of Irish Whisky“ verliehen wurde. Aber auch am fortgeschrittenen Abend und nach so manchem Whisky hielt er sich an seine Lieblingstugend: „Sagen, was man denkt. Und vorher was gedacht haben.“ Deshalb „geriet ihm jede Vorlesung zu einer abenteuerlichen Odyssee der Abschweifungen“, wie Arno Frank in einem „Spiegel“-Nachruf schrieb. Und auf dieser Odyssee spielten eigene literarische Texte immer eine große Rolle.
Gelegentlich hatte Rowohlt Mühe, zu den eigenen Lesungen hereingelassen zu werden, weil die Veranstalter ihn mit langer Mähne und ungezähmtem Bart für einen Obdachlosen hielten. „Ich bin so oft in meinem Leben, weil ich so aussah, wie ich aussah, irgendwo nicht reingelassen worden. Zum Beispiel im Hamburger Literaturhaus in meine eigene Lesung nicht.“ Eine studentische Hilfskraft erklärte ihm kategorisch: „Nee, das kann gar nicht sein, wir haben hier heute Abend Dichterlesung.“
Erinnerungen an einen wunderbaren Übersetzer und humorvollen Menschen
2007 machte Rowohlt bekannt, dass er an Polyneuropathie litt, eine Erkrankung, die seine Gehfähigkeit stark einschränkte. Sein Trost: „Ich brauch‘ mich als passionierter Stubenhocker nicht groß umschulen zu lassen.“ Und in der Tat saß er viel öfter einsam am Schreibtisch und übersetzte, als er in Lesungen oder bei Fernsehaufnahmen zu finden war. Der Literaturkritiker Hellmuth Karasek war gut mit ihm bekannt und hat gelegentlich Abende in Kneipen mit ihm verbracht. Er hat betont, dass Rowohlts Alkoholkonsum oft übertrieben dargestellt worden ist: „In Wahrheit verbarg sich hinter dem Porträt des großen Trinkers ein Mensch, der sehr scheu war. Und ein fast fieberhaft arbeitender Mensch. Deshalb ist er ein so wunderbarer Übersetzer geworden. Und in den Kneipen fiel er nur durch kurze Einwürfe trockenen Humors auf.“
Im Alter lebte Rowohlt mit seiner Frau in Eppendorf. Ein Lungenkrebs führte 1975 zu seinem Tod. Sein Grab befindet sich auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Der Lindenstraßen-Produzent Geißendörfer äußerte sich so zum himmlische Leben Rowohlts: „Ich kann mir gut vorstellen, dass er jetzt neben Petrus im Himmel sitzt und sein Bier mit ihm teilt, während beide die Neuankömmlinge dort oben liebevoll willkommen heißen und ihnen (mit einem Schluck aus der Flasche) die Angst vor dem Neuanfang nehmen.“
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro