Ein Mindestlohn für alle

 

Ist das gerecht? Das fragten sich nicht nur die Tagelöhner im Weinberg (Matthäus 20,1-16), die den ganzen Tag geschuftet hatten und nun mit ansehen mussten, dass auch diejenigen, die nur einige Stunden gearbeitet hatten, den gleichen Lohn bekamen. Es geht in diesem Gleichnis nicht um Wirtschaftsfragen, sondern um das Reich Gottes und das Gleichnis soll besagen, dass alle in diesem Reich in gleicher Weise willkommen sind, auch die, die sich erst zu einem späten Zeitpunkt für Gott entscheiden – so lautet eine Interpretation vieler Theologen.[1] Aber es ist kein Zufall, dass Jesus dieses Beispiel wählte, denn es spiegelt die wirtschaftlichen Probleme vieler Menschen in seiner Heimat Galiläa wider.[2] Immer mehr Kleinbauern wurden zu Tagelöhnern, abhängig davon, ob einer der reichen Bauern sie beschäftigen wollte oder nicht.

 

Das Gleichnis lässt erkennen, dass es im Verhältnis zur großen Zahl der Tagelöhner auch in der Erntezeit so wenig Arbeit gab, dass auch am Nachmittag Arbeiter auf dem Markt darauf warteten, vielleicht doch noch eine Beschäftigung zu finden. Auf die Frage, warum sie müßig dastanden, antworteten sie: „Es hat uns niemand eingestellt.“ (Matthäus 20,7)

 

Dass sie noch warteten, deutet darauf hin, dass es durchaus üblich war, auch mittags noch Arbeiter zuholen, wenn sich herausstellte, dass die vorhandenen Tagelöhner bis zum Abend die Arbeit nicht beenden könnten. Dieses Vorgehen der Weinbergbesitzer hatte durchaus eine ökonomische Rationalität, denn statt eventuell zu viele Tagelöhner zu beschäftigen, die dann am Nachmittag nicht mehr genug zu tun hatten, erlaubte es das flexible Vorgehen, genau so viele Tagelöhner zu bezahlen, wie zur Erledigung der Arbeit unabdingbar gebraucht wurden. Selbstverständlich war es üblich, den später eingestellten Tagelöhnern weniger zu zahlen, nur so war die Kostenersparnis zu erzielen.

 

Was für die Weinbergbesitzer ökonomisch rational war, bedeutete für die Tagelöhner aber, dass ihre wirtschaftliche Situation noch unsicherer wurde. Diejenigen, die nicht gleich morgens eine Beschäftigung fanden, mussten sich den ganzen Tag für den Arbeitsmarkt bereithalten, wie man dies heute wohl formulieren würde. Bekamen sie dann tatsächlich noch eine Beschäftigung, so war sie so schlecht bezahlt, dass sie für ein Auskommen nicht ausreichte. Der Lohn für einen Tag, ein Denar, war genug, um den Tagelöhnern und ihren Familien für einen Tag das Überleben zu ermöglichen.[3]

 

Angesichts der großen Zahl der Arbeitssuchenden wäre es auch sehr unwahrscheinlich gewesen, dass die Weinbergbesitzer nennenswert mehr zahlten, als zum Überleben bei bescheidenen Ansprüchen notwendig war. Einen Bruchteil davon zu bekommen bedeutete, dass die Familie an diesem Tag hungerte. Wenn aber schon in der Erntezeit das Familieneinkommen unzureichend war, wie sollte es dann im übrigen Jahr werden, wo es auf den großen Gütern kaum Arbeit für Tagelöhner gab? Flexible Arbeitsverhältnisse, die in die Verarmung führen, das ist offenkundig nicht erst eine Erfindung derer, die heute ungesicherte Arbeitsplätze auf Teilzeitbasis schaffen und bei der Addition dieser Arbeitsverhältnisse dann von einem „Jobwunder“ sprechen.

 

Damals war die Ausbeutung der Tagelöhner so krass, dass selbst die Sklaven besser dran waren, weil sie als Besitz des Sklavenhalters einen Wert für ihn besaßen und deshalb über das ganze Jahr ernährt wurden. Oft wurden, so belegen römische Quellen, so viele Sklaven beschäftigt, wie das ganze Jahr über Arbeit vorhanden war, während die Tagelöhner nur in den „Arbeitsspitzen“ (so die heutige Terminologie) beschäftigt wurden.[4] Diese Logik einer auf höchstmöglichen Gewinn ausgerichteten Wirtschaftsweise durchbricht der Weinbergbesitzer im Gleichnis. Er gibt allen genug zum Leben. Es fällt auf, wie ausführlich und differenziert die Arbeits- und Lohnverhältnisse im Gleichnis geschildert werden, was offenkundig überflüssig wäre, wenn es nur darum ginge, zu erläutern, dass auch die Spätkommenden einen Platz im Reich Gottes haben. Wenn Gott sich verhält wie ein Weinbergbesitzer, der dafür sorgt, dass alle ein Auskommen haben, soll dann der real existierende Weinbergbesitzer so tun, als gelte dies eben nur für das Reich Gottes und weiter seinen spät eingestellten Arbeitern einen Lohn zahlen, der zum Leben nicht ausreicht?

 

Wenn dieses Gleichnis aber auch mit dem realen Leben der Menschen zu tun hat, wie ist dann das Murren der Arbeiter zu verstehen, die den ganzen Tag geschuftet haben (und das hieß damals 12 bis 13 Stunden in sengender Sonne) und nun erleben müssen, dass die Arbeiter, die nur ein oder zwei Stunden da waren, den gleichen Lohn bekommen? Zunächst einmal ist zu sagen, dass diese Reaktion menschlich, allzu menschlich ist. Das System der Bezahlung scheint ungerecht zu sein. Und es kommt noch etwas hinzu. In einem Wirtschaftssystem, in dem eine große Zahl von Tagelöhnern um wenige Arbeitsstellen konkurriert und wo die eigene Existenz und die der eigenen Familie davon abhängen, zu denen zu gehören, die eine Arbeit bekommen, dazu noch eine Arbeit für den ganzen Tag, da ist es schwer, eine Solidarität unter den Tagelöhnern aufzubauen.

 

Weil in einer solchen Situation das Kapital immer einflussreicher als die Arbeit ist, entstanden in der Neuzeit Gewerkschaften, wurden Tarifverträge abgeschlossen und wurde auf gesetzlichem Wege der Ausnutzung der Zwangssituation der Arbeitssuchenden eine Grenze gesetzt. Wenn nun hierzulande eine „Liberalisierung“ des Arbeitsmarktes gefordert wird bei gleichzeitiger Kürzung der Leistungen für Arbeitslose und der Verschiebung der Zumutbarkeitsgrenze für die Annahme einer schlecht bezahlten Arbeit, dann nähern wir uns in einer Situation scharfer internationaler Konkurrenz wieder den Verhältnissen auf den Weinbergen im alten Palästina.

 

Es ist also nachvollziehbar, dass die Glücklichen, die morgens eine Arbeit gefunden haben und nun sehen müssen, dass sie nicht mehr Geld erhalten, als die Pechvögel, die den größten Teil des Tages müßig dasitzen mussten, durch ein Murren ihren Protest zum Ausdruck bringen. Im Gleichnis ist es der Besitzer des Weinberges, der darauf beharrt, dass alle genug zum Leben haben müssen. In der heutigen Zeit gibt es wenige solcher Weinbergbesitzer, und die Situation ist noch dadurch komplizierter geworden, dass im Zeitalter der Globalisierung Arbeiterinnen und Arbeiter in verschiedenen Teilen der Welt um die gleiche Arbeit konkurrieren. Das Gleichnis vom barmherzigen Gott wirbt für die Solidarität unter den Menschen. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg bleibt eine Provokation, wenn man es nicht ganz von seinen ökonomischen Inhalten entkleidet.[5]

 

Und bei genauer Betrachtung sind in ihm das 188 Reich Gottes und die Ökonomie miteinander verbunden. Dazu Martina S. Gnadt: „Die Ebenen der Arbeitsalltagswelt und des Reiches Gottes verschränken sich. In der gütigen Großzügigkeit des Gutsbesitzers zeigt sich die großzügige Güte Gottes – und umgekehrt. Gott-Grundbesitzer tut den Langarbeitern kein Unrecht, seine volle Entlohnung für die Kurzarbeiter nimmt den Langarbeitern nichts. Das sollen sie erkennen – gegen die in ihr Leben geschriebene Konkurrenz der Märkte. Auf diese fällt durch das unvorhersehbare Handeln Gott-Grundbesitzers ein scharfes Licht. Güte ist keine Erfahrung des Arbeitsmarktes. Sie ist eine Erfahrung des Reiches Gottes.“[6]

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 


[1] Jürgen Ebach beschreibt diese Gefahr so: „.. oder man betont die ‚Jenseitigkeit’ des Gleichnisses so, dass am Ende hier auf Erden alles bleiben kann, wie es ist, denn wir leben ja nicht im Reich Gottes, sondern hier und heute.“ (Junge Kirche 9/97, S. 477)

[2] Luise Schottroff schreibt hierzu: „Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg bezieht sich auf ein damals verbreitetes und typisches Alltagsgeschehen.“ (in: Junge Kirche 6/86, S. 322); vgl. auch: Theißen/Merz. Der historische Jesus, Der historische Jesus, Göttingen 2001, S. 164 sowie Willibald Bösen: Galiläa, Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, Freiburg 1998, S. 199f.

[3] Vgl. Jürgen Ebach: Verrückte Hierarchie, in: Junge Kirche, 9/97, S. 480

[4] Vgl. hierzu: Luise Schottroff: “... Du hast sie uns gleichgestellt”, in: Füssel/Segbers, Luzern und Salzburg 1995, S. 208f.

[5] Dorothee Sölle und Luise Schottroff schreiben in ihrem Buch „Jesus von Nazaret“ zu diesem Gleichnis: „Das Gleichnis schult den Blick für das Elend von Arbeitslosen. Es beschreibt die Zwänge einer am Gewinn orientierten Wirtschaft und die Opfer dieser Wirtschaft ... Das Gleichnis öffnet den Raum für den Gedanken, dass Veränderung möglich ist. Der Arbeitsherr verändert seine Orientierung am Profit, und die Langarbeiter werden zu Solidarität eingeladen.“ (S. 93ff.)

[6] Martina S. Gnadt: Anwerbung zur Solidarität, in: Junge Kirche, 1/97, S. 34