Viola und Mitri Raheb - die Suche nach Versöhnung im Heiligen Land

 

„Ehre sei Gott und Friede auf Erden“, zu diesem Lobruf der Engel in der Weihnachtsgeschichte hielt Viola Raheb am 19. September 2010 eine Predigt zum Abschluss der ökumenischen „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ in Essen. „Als christliche Palästinenserin aus Bethlehem habe ich zu diesem Satz eine ganz besondere Verbindung. Laut der Überlieferung sangen die Engel diese Zeile nicht weit weg von dem Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin … Bethlehem bzw. Beit Sahour, die Stadt, in der die Hirten ihre Herden wachten, ist heute ein Teil der palästinensischen Autonomie-Gebiete. Das Wort ‚Autonomie’ verschleiert, dass die Städte weiterhin unter israelischer Besatzung leben. Besatzung war auch damals die Erfahrung der Leute – eine Besatzung durch die Römer … Bei allen Unterschieden zwischen damals und heute: ‚Friede’ war das damals für die Menschen nicht, und ‚Friede’ ist es heute nicht. Die Menschen in Bethlehem kämpfen damals wie heute gegen Armut, die die unfriedlichen Lebensbedingungen verursacht, und gegen militärische Gewalt. Die Menschen damals hatten keine Erfahrungen der Selbstbestimmung, die fehlt auch heute.“[1]

 

Es war kein Zufall, ist Viola Raheb überzeugt, dass sich die Verkündigung des Engels an die Hirten richtete, an Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten und dringend Frieden in einem von Gewalt geprägten Alltag benötigten. Es sei also nicht überraschend, dass der Engel den Hirten zunächst einmal sagte: „Fürchtet euch nicht!“ Die Worte dienten nicht nur der Beruhigung: „Die erste Verkündigung ist die Zusage von Gott: Fürchtet euch nicht, die Rettung ist nahe, eure Freude ist groß, der Messias ist geboren. Das bedeutet, dass der Friede in greifbare Nähe gerückt ist.“[2]

 

Nach der Beruhigung, sich nicht fürchten zu müssen, verkündete der himmlische Chor der Engel: „Ehre sei Gott und Friede auf Erden!“. Als Christen bezeugen wir, führte Viola Raheb in ihrer Predigt aus, das Lob und die Preisung, die Gott gebührt. Diese Proklamation erfolgt in Zusammenhang mit der Inkarnation Gottes als Kind: „Gott wird Mensch in einem armen Kind, das un­ter den Umständen leidet, dass eben kein Friede herrscht … Die Ehre gebührt Gott, der sich uns annimmt, in unserem Leben im Hier und Jetzt und als Friedensfürst zur Welt kommt.“[3] Lukas verbindet die Ehre Gottes und den Frieden auf Er­den. „Diese Verknüpfung bindet die vertikale Dimension, die Beziehung zu Gott, an eine zweite Dimension unsers Christseins, nämlich die Horizontale, die Beziehung zu unseren Mitmenschen. Die beiden miteinander verflochtenen Dimensionen las­sen sich nicht von einander lösen. Wer ‚Ehre sei Gott’ bekennt, kann nicht anders, als ‚Frieden auf Erden’ zu bezeugen.“[4]

 

Diese Auffassung teilt auch ihr Bruder Mitri Raheb, Pastor an der evangelischen Weihnachtskirche in Bethlehem. Er lebt, schrieb er vor einigen Jahren, in einem Stadtgebiet von fünf Quadratkilometern, „umgeben von 45 Kilometer langen Mauern, Zäunen und Gräben, die jegliches zukünftige Wachstum ausschließen“.[5] Er entschied sich, diese Wirklichkeit in seiner Weihnachtspredigt nicht zu ignorieren oder zu beschönigen, sondern sich ihr zu stellen, so wie an den übrigen Tagen des Jahres: „Als Christen wagen wir es, die Dinge beim Namen zu nennen – nicht, um die anderen zu dämonisieren, sondern weil wir daran glauben, dass es eine Alternative gibt. In Bethlehem müssen die Christen Weihnachten einfach ernst nehmen, denn in dieser Heiligen Nacht an gerade diesem Ort hat Gott sich entschieden, ganz konkret zu werden, Fleisch anzunehmen und unsere Welt sehr ernst zu nehmen.“[6] Gerade in Bethlehem wird die Weihnachtsgeschichte als eine Hoffnungsgeschichte verstanden, können wir von Pastor Mitri Raheb lernen. Es gelte, die Beton­mauern und auch die rassischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Mau­­ern einzureißen: „Wir wünschen uns nichts mehr, als dass die verwandelnde Kraft der Menschwerdung uns alle stärkt in unserem Engagement, Mauern einzureißen, Frieden zu stiften und Brücken zu bauen.“[7]

 

Viola Raheb: In Bethlehem geboren

 

„Deine Mutter ist in Bethlehem geboren, als Tochter einer palästinensischen Fa­milie, die unter israelischer Besatzung lebte. Beide Elternteile sind als Staatenlose ge­boren. Beide haben ihre Kindheit und Jugend im Krieg und in Konflikten verbracht, beide haben um ihr Leben bangen müssen – dass sie heute in Österreich le­ben, ist dem Schicksal zu verdanken.“[8] So beschreibt Viola Raheb in einem Brief an ihren Sohn Ranad, wie sie und ihr Mann aufgewachsen sind. Viola Raheb wurde am 2. Oktober 1969 in Bethlehem geboren, zwei Jahre nach dem Sechstagekrieg und der Beset­zung der Westbank durch Israel. In einem Radiointerview sagte sie im Rückblick: „… Ich bin da­mit groß geworden, dass Besatzung, Armee, Soldaten, Waf­fen, Straßen­sperren, Schi­kanen, all das zum Alltag gehört … Ich sage immer, der höchste Preis, den ich bezahlt habe, war meine Jugend und meine Kindheit, weil ich in so einem Kontext viel weniger die Möglichkeit hatte, Kind zu sein.“[9]

 

Ihre Heimatstadt der Kindheit hat Viola Raheb später mit diesen Worten beschrieben: „Für mich ist Beth­lehem seit meiner Kindheit eine laute, staubige orientalische Stadt mit kleinen Gassen, einem Suq, vielen Kirchen und Moscheen.“[10] Ihr Elternhaus lag ganz in der Nähe der Geburtskirche, und so beobachtete sie von der Terrasse aus die vielen Touristen aus aller Welt, die die Spuren Jesu suchten. „Ich konnte nicht – und es ge­lingt mir noch immer nicht – nachvollziehen, dass sie Jesus in den Trümmern der Ge­schichte suchten. Gott hat sich uns in Bethlehem als Mensch offenbart. Es ist mir daher ein Rätsel, dass Pilger und Pilgerinnen gerade in dieser Stadt das menschliche Antlitz Gottes in ihrem Nächsten so verfehlen.“[11] Dass gerade zur Weihnachts­zeit sehr viele Besucherinnen und Besucher nach Bethlehem kommen, freute Viola Raheb als Kind nicht: „Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind die Weihnachtszeit nicht mochte. Am Heiligabend habe ich mich mit meiner Mutter und meinem Bruder durch die Schar der Touristinnen hindurch gedrängt, um in unsere kleine lutherische Weihnachtskirche zu gelangen.“[12] Deshalb wünscht sie sich mit anderen Menschen in Bethlehem, dass die Menschen über das ganze Jahr verteilt kom­men – und dass es zu menschlichen Begegnungen kommt.

 

Aber die Geschäftigkeit und das Gedränge am Heiligabend in Bethlehem waren fast vergessen, wenn Viola Raheb in der Weihnachtskirche saß: „… dort versam­melten wir uns alle, um gemeinsam den Gottesdienst vom Heiligen Abend zu feiern. Die Weihnachtslieder weckten die Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit. Begleitet von Abu Firas an der Orgel sang ich jedes Jahr mein Solo, das mittlerweile zur Tradition geworden war. Meine Stimme gewann durch die Gewölbe unserer Kir­che eine unendliche Tiefe. Eine Tiefe, die durch den Hall eindringlich wirkte … Ich habe den Abend anschließend mit der Familie verbracht. Ein Abend, der ganz und gar der engsten Familie gewidmet war. In einer Zeit, in der wir immer weniger Zeit für einander hatten, war dieser Abend umso schöner und wertvoller.“[13]

 

Nach dem Besuch einer kirchlichen Schule und dem Abitur 1987 ging Viola Raheb im Alter von 19 Jahren für sechs Jahre zum Studium nach Deutschland. Sie studierte Erziehungswissenschaften und Evangelische Theologie in Heidelberg. Neben dem Studium hielt sie in Deutschland zahlreiche Vorträge und beteiligte sich an Veran­stal­tungen zu Palästina. Eine „Lernerfahrung“ in Deutschland war, dass sie sel­­tener sagte, dass sie aus Palästina komme und häufiger ihre Geburtsstadt Beth­le­hem erwähnte: „Denn während die Reaktion auf das Wort ‚Palästina’ eher skep­tisch, zurückhaltend und ein wenig ängstlich war, reagierte die Mehrheit auf ‚Beth­lehem’ mit ... einem Lächeln, ja mit Freude. Es schien mir so zu sein, als würden sie alle wieder in ihre Kindheit zurückgeschickt. Es schien fast so zu sein, als würde sich die Freude, die sie am Heiligabend bei der Bescherung spürten, erneut in ihren Gesichtern widerspiegeln.“[14]

 

Nach der Rückkehr nach Bethlehem arbeitete Viola Raheb von 1995 bis 2002 als Koordinatorin für Erwachsenenbildung und Internationale Beziehungen im „Internationalen Begegnungszentrum Bethlehem“. Zusätzlich übernahm sie 1995 das Amt der stellvertretenden Schulrätin und dann ab 1998 das der Schulrätin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und Palästina. Seit 2002 ist Viola Raheb mit dem Musiker Marwan Abado verheiratet, einem Palästinenser aus dem Libanon, der in Österreich lebt. Sie ist Assistentin am Lehrstuhl für Religionswissenschaften der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

 

Mitri Raheb: Inmitten von Mauern leben in Bethlehem

 

Mitri Raheb wurde als älterer Bruder von Viola am 26. Juni 1962 geboren. Seine Familie gehörte traditionell zur griechisch-orthodoxen Kirche. Aber sein Großvater Mitri wurde als Waisenkind in das Syrische Waisenhaus aufgenommen, einer evangelischen Einrichtung in Jerusalem. Dort entschloss er sich, den evangelischen Glauben anzunehmen.[15] Zurückgekehrt nach Bethlehem, wurde er Mitglied der dortigen Evangelisch-Lutherischen Gemeinde. Über die nächste Generation, seine El­tern, hat Mitri Raheb geschrieben: „Meine Eltern gehörten der Evangelisch-Luthe­rischen Gemeinde in Bethlehem an. Sie waren beide ‚fromme’ Christen. Die Heilige Schrift war für meine Eltern kein Schmuckstück, sondern etwas Elementares, Notwen­diges und Lebensbegleitendes. Tägliches Bibel-Lesen war bei uns an der Tages­ordnung.“[16]

 

Als Mitri Raheb 13 Jahre alt war, starb sein Vater, und der Sohn kümmerte sich von nun an neben der Schule auch um den Buchladen der Familie. Nach dem Abschluss der Schule studierte er am Missionsseminar in Hermannsburg in Niedersach­sen und an der Universität Marburg Theologie. Anschließend promovierte Mi­tri Raheb mit einer kirchengeschichtlichen Arbeit über die evangelisch-lutherische Kirche seiner Heimat. Seit 1988 ist er Pastor der evangelisch-lutherischen Weihnachts­kirchengemeinde in Bethlehem. Die Kirche wurde von 1886 an auf Initiative von Ludwig Schneller erbaut, der damals als Pfarrer und Missionar im Auftrag des deutschen „Jerusalemsvereins“ in Bethlehem arbeitete. Die Weihnachtskirche ist im Stil des deut­schen Historismus errichtet worden und gehört heute zu den mar­kanten christ­lichen Gebäuden in Bethlehem. Sie wurde im Sechstagekrieg 1967 von Bomben getroffen und bei den Kriegshandlungen 2002 erneut beschädigt. Die Gemeinde hat etwa 200 getaufte Mitglieder. Seit 1989 ist Mitri Raheb mit Najwa Khoury verheiratet. Zu ihrer Familie gehören inzwischen die beiden Töchter Dana und Tala.

 

Es ist für Mitri Raheb eine besondere Aufgabe, Pastor an der Weihnachtskirche zu sein, an dem Ort, wo Jesus nach dem Matthäus- und dem Lukasevangelium geboren wurde und wo jedes Jahr viele Tausend Gläubige die heiligen Stätten aufsuchen. Aber enttäuscht stellt der Pastor fest: „Die Touristen rennen von Ort zu Ort, an denen Jesus ging, sie sind immer in Eile, sie interessieren sich für das, was Gott hier vor 2000 Jahren getan hat, aber sie interessiert nicht, was Gott heute hier tut.“[17]

 

Das Heilige Land braucht Brücken

 

„In meinen 48 Lebensjahren habe ich acht Kriege erlebt!“[18] Diese bittere Bilanz zog Mitri Raheb im November 2010 bei einer Veranstaltung in der St. Reinholdi-Kirche in Dortmund, und er fügte hinzu: „Palästina ist ein einziges Schlachtfeld!“ Wenn der Bau von Siedlungen und Mauern nicht gestoppt werde, gäbe es keine Hoffnung auf einen gerechten Frieden: „Bethlehem wird erwürgt von der Mauer.“ Der Pastor der Weihnachtskirchengemeinde ist überzeugt, dass Maria und Josef heute nicht nach Bethlehem gelangen könnten. Sie „… würden heute durch den Check­point nicht durchgelassen. Sie würden einfach bis zur Mauer von Bethlehem kommen können und weiter nicht.“[19] Israelischen Bürgern sei es aus „Sicherheitsgründen“ verboten, die Westbank zu betreten. Aber Mitri Raheb fragt sich, ob das Militär Angst davor hat, dass sich jüdische Israelis und Palästinenser begegnen und die Menschlichkeit der „Gegner“ entdecken. Mitte 2011 sagte Mitri Raheb gegenüber einer österreichischen Zeitung: „Ein Dialog ist fast unmöglich. Die palästinensische Jugend darf nicht nach Israel, die jüdische nicht zu uns.“[20] Der Pastor der Weihnachtskirche schrieb an anderer Stelle: „Was das Heilige Land braucht, sind keine Mauern, sondern Brücken. Weihnachten ist nichts anderes als die Geschichte des größten Brückenbaus der Weltgeschichte. Gott selbst schlug eine Brücke zwischen Himmel und Erde. Er wollte nicht, dass der Mensch in seiner Feindschaft verharrt und sich verhärtet.“[21]

 

Innerhalb von zwei Jahrzehnten ist es Mitri Raheb gelungen, rund um die Weihnachtskirche ein breites Spektrum von Programmen aufzubauen, die Kreativität und Hoffnung fördern, den Dialog ermöglichen und wirtschaftlich Zukunfts­per­spek­­tiven eröffnen. Das Angebot reicht von der Musikausbildung von Kindern und Jugendlichen über Fernsehproduktionen, ein Gesundheits- und Fitnesszentrum, ein Aus­bildungsprogramm für Touristenführer und Frauenfußball-Angebote bis zu theologischen Stu­dien und Tanztheater. Insgesamt sind in den Programmen mehr als 100 Menschen beschäftigt. Ulrike Beckmann, die Theologie an der Universität Graz lehrt, schrieb 2010 über diese vielfältigen Programme: „Dort kann man palästinensische kontex­tuelle Theologie in ihrer Umsetzung in konkrete Projekte zur inneren und äußeren Befreiung vom Druck erleben. Diese gemeinwesenorientierte Aufbauarbeit richtet sich nicht nur an Christen und Christinnen, sondern an die ganze Bevölkerung von Bethlehem. Christlich und muslimisch gemischte Gruppen gehören zur Normalität.“[22]

 

Die Programme sind kein zufälliges Ergebnis von Initiativen der Weihnachtskirchengemeinde, sondern Teil des planvollen Bemühens, aus dem christlichen Glau­ben heraus exemplarisch zu zeigen, dass es Alternativen zum bedrückenden Status quo gibt. Anlässlich der Einweihung eines neuen Bildungszentrums sagte Mi­tri Raheb 2010: „Mein erster und letzter Dank gilt Gott, der uns diese einzigartige Vision gab und uns befähigt hat und immer noch befähigt, sie auf paläs­ti­nensischer Erde zu verkörpern, dort, wo das Wort Fleisch wurde, der die Quelle aller Inspiration und Kreativität und der Herr von Schönheit und Melodien ist. Gott hat uns die Vernunft geschenkt zu wissen, zu erstreben und zu suchen, damit wir uns weiterentwickeln für den Dienst am Menschen und für den Fortschritt der Gesellschaft. Und darüber hinaus ein Heimatland aufbauen, das zum paläs­tinensi­schen Menschen passt. Wir sind geehrt durch Deine Präsenz unter uns.“[23]

 

Am 2. April 2002 wurde die Arbeit abrupt unterbrochen, als israelische Soldaten im Rahmen der militärischen Reaktion auf palästinensische Proteste (Zweite Intifada) in das Internationale Begegnungszentrum der Weihnachtskirche eindrangen und es verwüs­te­ten. Sie richteten einen Schaden von etwa einer halben Million Dollar an. Aber die Initiatoren des Vorhabens ließen sich nicht abschrecken, sondern began­nen umgehend mit dem Wiederaufbau und der Ausweitung der Arbeit. Die Friedensarbeit von Mitri Raheb unter schwierigsten Bedingungen findet international viel Anerkennung. 2008 wurde er mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet. 2015 wurde er mit dem „Olaf Palme Preis“ geehrt.

 

Aber trotz der sichtbaren Erfolge seiner vielen Initiativen kann der Bethlehemer Pastor die Augen vor der politischen Realität nicht verschließen. Im Oktober 2011 sagte er in einem Interview: „Die politische Lage ist sehr aussichtslos, eigentlich war es noch nicht so aussichtslos wie jetzt seit Beginn der Verhandlungen zwischen Israel und Palästina vor rund 20 Jahren.“[24] Mich selbst hat diese Aussage da­ran erinnert, mit welchen Gefühlen ich Anfang 1999 aus Israel/Palästina abge­reist bin. Nach zwei Wochen Rundreise und zahlreichen Gesprächen kehrte ich so gänzlich ohne Hoffnung nach Deutschland zurück, wie ich es noch nie erlebt hatte, und ich hatte immerhin vorher schon Länder wie das Burma der Generäle und Chile unter Pinochet besucht. Damals im Flugzeug dachte ich, hoffnungsloser könnte die Situation in Israel/Palästina gar nicht mehr werden, aber die letzten mehr als eineinhalb Jahr­zehnt haben gezeigt, dass ich mich geirrt habe. Inzwischen gleicht die Westbank, hat Mitri Raheb in den letzten Jahren mehrfach erklärt, einem Emmentaler Käse, wobei Israel sich den Käse angeeignet hat und die Palästinenser in die Löcher verdrängt worden sind.[25]

 

Gegen alle Gewalt und Hoffnungslosigkeit setzt Mitri Raheb seine Arbeit fort und sieht sich dabei in der Tradition Martin Luthers. Wie dieser ankündigt haben soll, er werde auch angesichts eines drohenden Weltuntergangs einen Apfelbaum pflanzen, sagte der palästinensische Theologe im Dezember 2006 in einem Interview mit dem „Sonntagsblatt – Evangelische Wochenzeitung für Bayern“: „Die einzige Alternative, die wir heute haben, ist: heute in den Garten gehen und Olivenbäume pflanzen. Heute, nicht morgen. Denn morgen ist es zu spät. Alles, was wir machen, ist Olivenbäume pflanzen.“[26]

 

Für seine Friedensarbeit wurde Mitri Ra­heb am 13. Januar 2012 mit dem Deutschen Medienpreis 2011 ausgezeichnet. Zusammen mit drei weiteren Preisträgern wurde er dafür geehrt, dass er zu den „leisen Friedensstiftern“ gehört, „deren Wirken ohne große mediale Beachtung stattfindet“.[27] Diese Preisverleihung war für manche Christen und Juden in Deutschland ein Anlass zu Widerspruch, manchmal auch zu hasserfüllten Angriffen auf den Pastor von Bethlehem. Sie forderten den früheren Bundespräsidenten Roman Herzog auf, nicht als Laudator für die Ehrung des Preisträgers zur Verfügung zu stehen. Hans-Jürgen Abromeit, Bischof der Pommerschen Evangelischen Kirche und Vorsitzender des Jerusalemvereins, der Mitri Raheb seit vielen Jahren kennt, schrieb in einem Brief vom 12. Februar 2012 an Roman Herzog: „Ich möchte Sie herzlich bitten, sich von den wirklich ungerechtfertigten Diffamierungen, die Dr. Raheb zu erleiden hat, nicht beeindrucken zu lassen … Er ist eine zutiefst vom christlichen Glauben in evangelisch-lutherischer Tradition geprägte Persönlichkeit, die es wagt, Kritikwürdiges beim Namen zu nennen, aber gleichzeitig Wege zur Lösung von Konflikten nur durch Dialog, auf friedlichem Wege und gewaltlos anstrebt.“[28] Roman Herzog nahm die Ehrung der Preisträger am 25. Februar 2012 vor und würdigte die Verdienste der Preisträger um die Menschenwürde. „Wir brauchen die Menschen und nicht primär die Organi­sati­onen.“[29] Mitri Raheb sagte in einem kurzen Dankeswort unter anderem: „Frieden im Heiligen Land zu schaffen, muss unser aller Auftrag sein.“[30]

 

Im Exil in Wien

 

Seine Schwester Viola Raheb lebt seit 2002 in Wien im Exil. Ihrem Mann Marwan, der in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon geboren wur­de und aufwuchs, wird die Einreise nach Israel verweigert. Aus diesem Grunde kann die Familie nur im Exil zusammenleben. Die Familienmitglieder sind seit 2005 österreichische Staatsbür­ger. Viola Raheb bemüht sich in Vorträgen und bei Veranstaltungen, nicht ausschließlich das Leiden des palästinensischen Volkes darzustellen: „Denn Palästina hat nicht nur Leiden mitzuteilen, sondern auch einen Willen zum Leben. Inmitten von Tod und Leid blüht ein ungewöhnliches Leben, das es wert ist, wahrgenommen zu werden.“[31]

 

Leben im Exil, das ist für Viola Raheb besonders Weihnachten schwer. Im Dezember 2002 schrieb sie ihre Gefühle in dem Text „Heiligabend 2002“ auf: „Bethlehem ist so weit weg wie noch nie zuvor. Meine Familie so entfernt, wie schon lange nicht mehr … Diaspora – was für ein Zuhause. In der Diaspora muss unser Herz sehr viel ertragen, viel mehr, als es zu tragen geschaffen ist. In der Diaspora fahren unsere Gefühle Achterbahn und wir ebenso.“[32] Und wenn Viola Raheb dann am Heiligabend die gut vertrauten Weihnachtslieder hört, ist die Sehnsucht nach der Heimat besonders groß: „Heute überwältigt mich die Sehnsucht, und ich weiß we­der ein noch aus. Lernen mit der Sehnsucht zu leben, ist zum integralen Bestandteil meines Lebens geworden. Die Sehnsucht zu einer positiven Triebkraft des Lebens zu machen, scheint die einzige Möglichkeit zu sein, weiter zu machen.“[33]

 

Im Exil nimmt Viola Raheb stärker als früher wahr, wie die Exilpalästinenser aus dem Blick geraten sind: „Das Schicksal der im Exil lebenden Palästinenser – und damit meine ich nicht nur die Flüchtlinge, die die Mehrheit des palästinensischen Volkes ausmachen – wird marginalisiert bzw. kaum noch angesprochen – auch nicht von der palästinensischen politischen Führung.“[34]

 

„Nächstes Jahr in Bethlehem“ hat Viola Raheb eines ihrer Bücher genannt, das 2008 erschien. Zu diesem Titel schreibt die Autorin: „Für mich ist die Hoffnung, eines Tages mit meiner Familie in meiner Heimatstadt Bethlehem sein zu dürfen, eine lebendige Hoffnung, die mich Tag für Tag begleitet und dazu ermutigt, mich weiterhin dafür zu engagieren, dass die Zukunft anders wird als die Gegenwart.“[35]

 

Die Bibel aus palästinensischer Perspektive lesen

 

„Die Stadt ist dem Herrn geweiht und steht unter seinem Bann mit allem, was darin ist. Kein Mensch und kein Tier darf am Leben bleiben.“ So steht es bei Josua 6,17 in der Übersetzung der „Guten Nachricht“. Der zweite Satz in der biblischen Darstellung der Eroberung Jeri­chos ist für palästinensische Christinnen und Christen ein Anlass zu kri­tischen Fragen. Viola Raheb hat zu diesem Satz geschrieben: „Was ist es für ein Gott, der solch einen Befehl erteilt? Was sind das für Menschen, die solch einen Befehl befol­gen, ohne dabei ihren Glauben zu verlieren? Mit den Trompeten um Jericho herum zu gehen und die Mauern zum Einsturz zu bringen, scheint viele zu begeistern. Nur selten, wenn überhaupt, fragen sich Menschen und Theologen, war diese Geschichte wohl für die, die innerhalb der Mauern Jerichos lebten, bedeutete. Nur selten, wenn überhaupt, wagen sie es, das Bild Gottes in diesem Text zu hinterfragen.“[36] Diese Haltung und Tradition, schreibt Viola Raheb weiter, wurde immer öfter zu einem Stolperstein für ihren Glauben. Tilgen aus der Bibel lässt er sich nicht, aber man sollte sich mit seiner Wirkungsgeschichte beschäftigen: „… gilt es, bei der Interpretation und Anwendung dieser Geschichte nicht selbst zur Gewalt und Missachtung anderer Menschen aufzurufen“.[37]

 

Solche Erkenntnisse sind das Ergebnis von Lernprozessen und der Einsicht, wie die Beschreibung der „Landnahme“ im Alten Testament für die Legitimierung der heutigen „Landnahme“ herangezogen wird. Interessanterweise hat der Bruder Mitri Raheb die Behandlung eben dieser biblischen Jerichogeschichte in seiner Kindergottesdienst- und Jugendarbeitszeit im Gedächtnis behalten: „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir Kinder, den Atem anhaltend, zusammen mit Josua sie­ben Male um die Stadt Jericho gingen. Und als wir von dem Fall der Mauer hörten, haben wir gejauchzt, geklatscht und getanzt. Es kam uns so vor, als ob wir selbst, wir, die christlich-palästinensischen Kinder der Sonntagsschule, die Erobe­rer von Jericho waren.“[38]

 

Mitri Raheb hat dieses euphorische Verhältnis zur Eroberung Jerichos nicht lange behalten, zu deutlich wurde ihm bald, wie biblische Berichte und Pro­phe­zeiungen in der Gegenwart dazu dienen, Ansprüche auf Land zu erheben, dass von Palästinensern bewohnt wird. Der Theologe hat die veränderte Lektüre des Alten Testaments durch die Palästinenser später so beschrieben: „Im gleichen Moment, in dem die Besiedlung Palästinas durch die Juden als Rückkehr in das Land der Väter propagiert wurde, wurden die alttestamentlichen Verheißungen den Palästinensern zum Problem … Von nun an konnten die Paläs­tinenser die Bibel nicht mehr allegorisch auslegen. Vielmehr begannen sie danach zu fragen, wie man die Bibel im politischen Kontext richtig auslegen könnte.“[39]

 

Dazu gehört für Mitri Raheb, sich den Kontext bewusst zu machen, in dem bestimmte biblische Texte entstanden sind. Ebenso gilt es zu beachten, welche Wirkungsgeschichte biblische Texte gehabt haben: „Es ist nicht zu leugnen, dass bestimmte biblische Texte eine verheerende Rolle in der Geschichte gespielt haben. Nicht selten wurden Bibelstellen zur Begründung des Antisemitismus herange­zogen. Nicht selten aber wurden Bibelabschnitte auch gegen das palästinensische Volk und sein Recht auf Land und Leben ausgelegt.“[40]

 

Solidarisch sein mit den Menschen in Israel und Palästina

 

Angesichts des Holocaust zögern viele Menschen in Deutschland, sich kritisch ge­genüber Israel zu äußern und fühlen sich Israel gegenüber solidarisch. Gleichzeitig ist das Unrecht, das der palästinensischen Bevölkerung geschieht, nicht zu übersehen. Viola Raheb sagt: „… wir brauchen eine Solidarität, die sich bewusst ist, dass es nicht darum gehen kann, mit allen solidarisch zu sein, sondern vielmehr mit denen solidarisch zu sein, die sich über die nationalen, religiösen und politischen Grenzen hinweg für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen“.[41]

 

Für ihren Bruder Mitri Raheb gehört zu dieser Solidarität, die Illusion von einer Zwei-Staaten-Lösung aufzugeben. Im Dezember 2011 sagte er der deutschen Wochenzeitung „Freitag“: „Die Westbank wird mit jedem Tag mehr zerstückelt, es entstehen mehr Siedlungen und mehr Checkpoints. Wie wollen Sie daraus noch einen Staat machen? Die einzige Möglichkeit, die uns auf längere Sicht bleibt: ein einziger Staat – mit den Israelis.“[42] Seine Schwester Viola Raheb schreibt über ihre Zukunftshoffnungen: „Als eine Palästinenserin, die unter Besat­zung geboren und aufgewachsen ist, die Gewalt und Unterdrückung am eigenen Leib erfahren hat, vertraue ich darauf, dass eine andere Welt möglich ist. Deshalb wage ich es, eine andere Welt zu träumen: Ich träume eine andere Welt, eine, die keine Kriege braucht, die keine militärischen Machtzentralen benötigt, die keine Ge­walt und Unterdrückung ausübt. Eine Welt, in der die Menschenrechte aller re­spektiert und bewahrt werden. Ich träume eine Welt, in der es keine Mauern gibt … Ich träume eine andere Welt, eine, in der es sich lohnt zu leben, in der das Leben nicht nur ein einfaches Überleben ist, sondern ein Leben in Fülle.“[43]

 

Und was denkt ein Pfarrer in Bethlehem über die Weihnachtsgeschichte? Auf diese Interviewfrage antwortete Mitri Raheb im Dezember 2011: „Was uns an Jesus interessiert, das ist, wie dieser Mensch mit seinen Mitmenschen vor über zweitausend Jahren gelebt hat, was er tat und dachte. Ob die Krippe von Maria und Josef genau an diesem Platz in der Geburtskirche stand, ist dabei nebensächlich. Viel spannender ist, wie die Menschen damals miteinander umgegangen sind. Uns interessieren die Menschen, nicht die Mythen.“[44]

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

Weitere Beiträge der Reihe "Ökumenische Porträts" finden Sie auf der Seite "Ökumenische Porträts". 

 

 



[1] Predigt von Viola Raheb am 19. September 2010 in Essen, Pressemitteilung der Evangelischen Kirche im Rheinland, 19.9.2010, S. 1

[2] Ebenda, S. 2

[3] Ebenda

[4] Ebenda, S.2f.

[5] Mitri Raheb: Weihnachten und die Mauer, Im Lande der Bibel, 3/2005, S. 5

[6] Ebenda

[7] Ebenda, S. 6

[8] Viola Raheb: Geboren zu Bethlehem, Berlin 2004, S. 9

[9] Renate Kirsch: Geboren zu Bethlehem, Eine christliche Palästinenserin im österreichischen Exil, Interview, Deutschlandradio, 29.3.2009, S. 2

[10] Viola Raheb: Geboren zu Bethlehem, a.a.O., S. 14

[11] Ebenda, S. 14f.

[12] Ebenda, S. 15

[13] Ebenda, S. 106f.

[14] Viola Raheb: Geboren zu Bethlehem, Im Lande der Bibel, 3/2009, S. 9

[15] Vgl. Mitri Raheb: Ich bin Christ und Palästinenser, Gütersloh 1998, S. 20

[16] Ebenda, S. 79

[17] Zitiert nach: Ulrike Beckmann: „Nur der Himmel ist die Grenze des Denkens …“, in: Maria Elisabeth Aigner u. a. (Hrsg.): Räume des Aufatmens, Münster 2010, S. 527

[18] „Zu viele Friedensprozesse, zu wenig Frieden“, Bericht auf evangelisch.de vom 8.11.2010

[19] Mitri Raheb: Bethlehem 2009 Jahre später, Im Lande der Bibel, 3/2009, S. 7

[20] Bethlehem zerrissen zwischen Verzweiflung und Hoffnung, Kronen-Zeitung, 3.7.2011

[21] Mitri Raheb: Bethlehem 2009 Jahre später, a.a.O., S. 7

[22] Ulrike Beckmann: „Nur der Himmel ist die Grenze des Denkens …“, a.a.O., S. 525f.

[23] Pfr. Dr. Mitri Rahebs Rede anlässlich der Einweihung des neuen Gebäudes für Höhere Bildung und Forschung des Diyar Konsortiums, auf: www.diyar-consortium.org

[24] Politische Lage für Palästinenser in Israel so aussichtslos wie noch nie, epd-Südwest, 27.20.2011

[25] Vgl. u. a. die Rede von Mitri Raheb zur Verleihung des Aachener Friedenspreises 2008, www.aachener-friedenspreis.de

[26] „Olivenbäume pflanzen“, Interview mit Mitri Raheb, Sonntagsblatt – Evangelische Wochenzeitung für Bayern, 52/2006

[27] Vgl. Pressemitteilung des Pressebüros Deutscher Medienpreis zur Verleihung des deutschen Medienpreises 2012, 13.1.2012

[28] Zitiert nach: Vorsitzender des Jerusalemvereins solidarisch mit Mitri Raheb, auf: www.jerusalemsverein.de

[29] Zitiert nach: Herzog lobt Medien-Preisträger Raheb, epd-Bericht, 25.2.2012

[30] Zitiert nach: ebenda

[31] Viola Raheb: Nächstes Jahr in Bethlehem, Berlin 2008, S. 44

[32] Viola Raheb: Geboren zu Bethlehem, a.a.O., S. 106

[33] Ebenda, S. 107

[34] Viola Raheb: Palästinensisches Exil, Leben zwischen den Welten, Im Lande der Bibel, 1/2009, S. 19

[35] Viola Raheb: Nächstes Jahr in Bethlehem, a.a.O., S. 11

[36] Viola Raheb: Geboren zu Bethlehem, a.a.O., S. 58

[37] Ebenda, S.59

[38] Mitri Raheb: Ich bin Christ und Palästinenser, a.a.O., S. 79

[39] Ebenda, S. 84

[40] Ebenda, S. 86

[41] Viola Raheb: Geboren zu Bethlehem, a.a.O., S. 20

[42] Das Westjordanland wird betoniert, Interview mit Mitri Raheb, Freitag, 25.12.2011

[43] Viola Raheb: Geboren zu Bethlehem, a.a.O., S. 134f.

[44] Das Westjordanland wird betoniert. a.a.O.