Die Abgesandten des Reichskammergerichts in Speyer waren beeindruckt. Sie waren nach Lübeck gekommen, um sich an diesem neutralen Ort mit dem Streit zwischen Hamburg auf der einen und den Städten Buxtehude, Harburg, Lüneburg und Stade auf der anderen Seite zu befassen. Es ging wieder einmal um die Frage, wer den Handel auf der Elbe kontrollieren durfte – und damit um viel Geld. Hamburg hatte 1482 zum Ärger der Nachbarn von Kaiser Friedrich III. das Stapelrecht auf der Elbe erhalten. Wer auf der Elbe Waren transportierte, musste sie erst in Hamburg zum Verkauf anbieten, bevor sie woanders entladen werden konnten. Die Nachbarstädte wollten das nicht hinnehmen. Sie argumentierten, die Süderelbe wäre der Hauptstrom des Flusses und das Hamburger Privileg gelte nur für den Nebenstrom Norderelbe zwischen Bunthäuser Spitze und Mühlenberger Loch.
Eine Karte soll Hamburgs Ansprüche auf die Beherrschung der Schifffahrt auf der Elbe untermauern
Die Hamburger wollte hingegen beweisen, dass die Norderelbe der Hauptstrom des Flusses war und Hamburgs Ansprüche bis zur Elbmündung reichten. Als große Überraschung rollte der Kupferstecher und Kartograf Melchior Lorich am 3. Dezember 1567 in Lübeck eine zwölf Meter lange und einen Meter hohe kolorierte Karte der Elbe von Geestacht bis zur Elbmündung mit dem Leuchtturm von Neuwerk aus. Acht Monate lang hatte er an der Karte gearbeitet, die nicht nur alle Orte an den Ufern des Flusses darstellte, sondern vor allem die vielen Seezeichen wie Tonnen und Baken, mit denen Hamburg das sichere Navigieren auf dem Fluss ermöglichte.
Vor allem aber war auf der Karte die Süderelbe sehr viel schmaler und die Norderelbe sehr viel breiter dargestellt, als sie tatsächlich waren. Da die Karte beeindruckend detailliert war, nahmen die Vertreter des Reichskammergerichts offenbar an, dass auch dieser Teil der Karte der Realität entsprach. Und parallel zu Erstellung der Karte tat der Hamburger Rat alles, um vor Ort den Harburgern das Wasser abzugraben und die Norderelbe allmählich tatsächlich zum Hauptarm des Flusses zu machen.
Für die Erstellung der Karte hatten die Hamburger mit Melchior Lorich eine sehr gute Wahl getroffen, wenn auch eine teure. Er gehörte zu den hoch angesehenen Gelehrten und Künstlern der Renaissance. Geboren wurde er etwa 1527 in Flensburg. Sein Vater Thomas Lorich (oder Lorck) war Stadtvogt, Ratsherr und königlicher Zolleinnehmer in Flensburg, das zum dänisch regierten Herzogtum Schleswig gehörte. Der Sohn ging bei einem Goldschmied in Lübeck in die Lehre und fertigte auch bereits erste Kupferstiche an. Er zog anschließend nach Süddeutschland und reiste 1551 mit einem Reisestipendium des dänischen Königs nach Italien. Dort lernte er die Kunst und Wissenschaft der Renaissance kennen. In Venedig entdeckte er für sich die damals in Europa noch junge Kartografie, die an antike Vorbilder anknüpfte.
Es folgte eine Zeit im kaiserlichen Dienst in Wien, und er unternahm von dort aus eine mehrjährige Reise nach Istanbul, wo er unter anderem eine 9 Meter lange detaillierte Stadtansicht vorbereitete, die er nach der Rückkehr nach Wien fertigstellte. In Wien zeichnete Lorich auch Karten und empfahl sich damit für den Großauftrag aus Hamburg. 1567 kam er nach Hamburg und fertigte die Elbkarte an, wofür er auch verschiedene Orte an der Elbe besuchte.
Lorich wurde gut bezahlt, erhielt aber keine Festanstellung
Für seine achtmonatige Arbeit erhielt er mehr Geld als die höchstbezahlten Beschäftigten der Stadt im ganzen Jahr. Es war gut angelegtes Geld, denn das Reichskammergericht schloss sich in seinem Urteil im Jahre 1569 weitgehend der Hamburger Argumentation an. Nur das Stapel- und Zollrecht für die Süderelbe gestand das Gericht der Stadt nicht zu. Aber je erfolgreicher Hamburg den Harburgern das Wasser abgrub, desto unangefochtener dominierte die Hansestadt den Handel an der Elbe.
Melchior Lorich erhielt weitere Aufträge in Hamburg. So entwarf er das Schaartor, das neue Tor der Stadt zum Hafen. 1575 erhielt er einen neuen Auftrag für eine Karte, dieses Mal zur Bekräftigung der Hamburger Ansprüche auf die Vierlande. Eine feste Anstellung wurde ihm in der Hansestadt allerdings nicht angeboten, und in den folgenden Jahren arbeitete er unter anderem in Kopenhagen, wo er als Maler viel Anerkennung fand. Es ist nicht bekannt, wann er starb.
In Barmbek erinnert die Lorichstraße an den Mann, der mit seiner Karte die Vorherrschaft Hamburgs an der Unterlebe festigte.
Aus: Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte