Emil Naucke kam am 2. Mai 1855 auf der Insel Poel zur Welt. Sein Vater betrieb dort eine Tabakhandlung. Emil soll schon als Säugling ein Gewicht von 14 Kilogramm erreicht haben und war bald übergewichtig, wie wir es heute nennen würden. Trotzdem war er gelenkig und versuchte sich sogar als Seiltänzer. Der Junge war fasziniert von Artisten und Komödianten. Heimlich schloss er sich noch als Heranwachsender einer Zirkusgesellschaft an und reiste mit ihr kreuz und quer durch Europa. Seine Eltern starteten eine Suchaktion und konnten ihn unter Mühen in die Heimat zurückholen. Was dann geschah, hat Lars Amenda in seiner Biografie Nauckes („Der schwerste Radfahrer der Welt!“) so beschrieben:
„Im Gegensatz zu ihrem Sprössling waren seine Eltern ganz und gar nicht angetan von der brotlosen Kunst der Unterhaltungsbranche. Sie bestimmten, dass Emil eine Lehre als Bäcker machen musste. Immerhin konnte er die Zeit mit – in seinen Augen – sinnvollen Dingen nutzen und trainierte sich ‚Exercitien mit Mehlsäcken‘ ganz nebenbei ‚zum künftigen Athleten‘. Wohl auch wegen dieses Mehlsack-Workouts entwickelten sich seine Muskeln im Alter von 15 Jahren recht erheblich.“
1873 setzte Emil Naucke sich durch und wurde Artist. In Hamburg fand er eine Anstellung im St. Georg-Theater. Genaueres über seine artistische Arbeit in diesem Unterhaltungstheater ist nicht bekannt. Anschließend trat er in einem Lokal in Eimsbüttel als Berufsringer auf. Das Ringen war damals eine Mischung von sportlichem Ringen und Show. Naucke trat nun auf Bühnen und in Zirkussen sowohl als Artist als auch als Ringer auf.
Ein schwergewichtiger Artist löste Begeisterung aus
Später konzentrierte er sich wieder ganz auf die Artistik. Er lebte in Hamburg, unternahm aber viele Tourneen in andere deutsche und europäische Städte. Zwischen St. Peterburg und Bordeaux beeindruckte er das Publikum mit seiner Kraft und seinen artistischen Fähigkeiten.
Die „Hamburger Freie Presse“ beschrieb damals seine Auftritte so: „Emil Naucke schleuderte eine eiserne Kugel von ungefähr 70 Pfund, welche an einer Kette befestigt ist, durch die Luft, um sie dann mit seinem Genick aufzufangen. Zweitens streckte er eine Hantel von 212 Pfund mit einer Hand.“ Naucke war aber nicht nur ein gewichtiger „Kraftmensch“ von zeitweise 230 Kilogramm Gewicht und 190 Zentimetern Bauchumfang, sondern gleichzeitig ein behänder Artist mit erstaunlicher Gewandtheit und viel Humor. Auch abseits von den Bühnen der Welt soll er ein vergnügter Mensch gewesen sein.
„Pauline vom Ballett“ und der Partner Hansen
Naucke gründete 1880 ein eigenes Unternehmen, die Tournee Naucke. Selbstverständlich trat er selbst dort auf, engagierte aber auch andere Artisten, um eine abwechslungsreich Show anbieten zu können. Großes Aufsehen erregte Naucke in Frauenkleidern als „Pauline vom Ballett“ und wurde ob seiner Beweglichkeit trotz großen Gewichts bestaunt. Er war jetzt regelmäßig auf dem Hamburger Winterdom zu sehen.
Naucke fand einen für seine zunehmend von Komik geprägten Auftritte einen idealen Partner, den Gastwirt Peter Hansen. Dieser war nur 98 Zentimeter groß und sehr dünn. Lars Amenda schreibt über ihre Auftritte: „Naucke und Hansen bildeten damit ein ungleiches Paar, das ihre jeweiligen körperlichen Besonderheiten durch ihr Gegenüber noch einmal verstärkten. Das damalige Publikum belustigte bereits der Anblick des schwergewichtigen Naucke und des leichten und kleinen Hansen … Sie traten aber darüber hinaus als Akteure, als Darsteller von selbst geschriebenen ‚Burlesken‘ auf, wie die derb-komischen und teilweise improvisierten Stücke seinerzeit genannt wurden.“ Man feierte Naucke und Hansenals Erfolgsduo.
Carl Thinius hat in seinem St-Pauli-Buch die Auftritte Nauckes beschrieben: „Wenn er als ‚Pauline vom Ballett‘ im kurzen Röckchen süß lächelnd auf der Bühne tanzte und sich von dem 80 Zentimeter kleinen Peter Hansen, einem Mitglied des Ensembles, den Hof machen ließ, erntete er jedesmal im Zuschauerraum Lachstürme. Neue Besucher wurden von der Grazie und der Beschwingtheit des Athleten-Tänzers geradezu überrascht.“
Von Anfang 1887 bis Ende 1888 unternahm Naucke mi seiner Truppe eine sehr erfolgreiche Tournee durch die USA. Nach der Rückkehr von der anstrengenden Reise suchte Naucke erst einmal Ruhe und erwarb eine Villa in Bad Oldesloe. Er wohnte nahe genug zu Hamburg, dass er hier seine künstlerische Karriere fortsetzen konnte.
War Naucke nur ein „aufgeblasener“ Artist?
Es gab gelegentlich Zweifel, ob Naucke wirklich einen solchen gewaltigen Körperumfang hatte. Johannes Sass hat in seinem Buch über die Hamburger Originale eine solche Begebenheit überliefert. Zwei Bauern besuchten das Varieté und bei der Ballettnummer kamen einem von ihnen Zweifel: „Du, Hinnerk, weetst wat? De Kerl is nich echt, de is oppust.“ Sein Reisegefährte wollte die Vermutung des aufgeblasenen Artisten aber nicht übernehmen und verkündete seinem Nachbarn: „De is echt, Willem, dor kannst die op verloten, da t heff ik swatt op witt in’t Programm leest.“ Aber das überzeugte Willem nicht, und sie wetteten um eine Flasche Wein.
Nach dem Ende der Aufführung begaben die beiden sich hinter die Bühne, wo sie auf den Inspizienten trafen. Sie gaben vor, Herrn Naucke einmal guten Tag sagen zu wollen und der Inspizient wies ihnen den Weg zur Garderobe Nauckes. In der Aufregung verwechselten die beiden aber rechts und links. Sie klopfen deshalb an die Tür von Hansen, der die Besucher hereinbat. Willem kam gleich zur Sache: „Seggen Se mol, Herr, sünd se Emil Naucke?“
Der humorvolle kleine Hansen durchschaute die Situation sofort und immer zu einem Spaß aufgelegt antwortete: „Jo, de bün ik, wat kann ik for Se doon?“ Willem sah seinen Mitreisenden triumphierend an und verkündete: „Wat heff ik seggt, Hinnerk? De Kerl weer doch oppuust!“ Die Sache endete damit, dass die beiden Besucher in einer nahe gelegenen Bodega die Flasche Wein tranken, die Hinnerk ohne zu murren bezahlte.
Wahrscheinlich ist die Geschichte erfunden, aber sie zeigt, wie sehr die Verbindung von großem Körpergewicht und Behändigkeit, die Naucke zur Schau stellte, seine Zeitgenossen zum Staunen und ins Grübeln brachte. Naucke und Hansen werden in ihrer Kindheit und Jugend häufig ob ihrer von der Norm abweichenden Körpermaße gehänselt und verspottet worden sein. Aber sie besaßen das Selbstbewusstsein, als Erwachsene ihre Körper dem staunenden Publikum zu präsentierten – und das wirkte natürlich besonders bei ihren gemeinsamen Auftritten.
Eröffnung eines eignen Varietés in St. Pauli
1896 kaufte Naucke ein Varieté am Spielbudenplatz und benannte es in Emil Naucke’s Varieté um. Neben Auftritten des Duos Naucke und Hansen bot der Direktor dem Publikum auch die humoristischen und artistischen Auftritte anderer Künstler. Das Publikum und auch die Presse waren begeistert. Die „Altonaer Nachrichten“ berichteten: „Groß und Klein amüsirt sich dabei auf das Köstlichste.“ Von 1897 an nahm Naucke auch die gerade erst entstandenen Kurzfilme in sein Unterhaltungsprogramm auf.
Als Ende des 19. Jahrhunderts erlebte Hamburg einen Fahrradboom, und auch Naucke kaufte sich ein Rad. Mit seinem beträchtlichen Gewicht radelte er durch die Stadt und fand wieder einmal viel Beachtung. Naucke erkannte sofort das humoristische Potenzial des neuen Fortbewegungsmittels und übte mit Hansen einige Fahrradnummern ein, die wie zu erwarten große Heiterkeit auslösten. Dazu noch einmal Lars Amenda: „Die Naucke wiederholt attestierte Beweglichkeit und überraschende Körperkontrolle wird ihm auch ein den Fahrrad-Aufführungen geholfen haben und ermöglichte ihm überhaupt erst, die körperlich sehr anstrengende Leistung auf dem Fahrrad zu erbringen. Auch als humoristischer Radartist verzichtete Emil Naucke nicht auf seine üblichen Marketingmaßnahmen. Als ‚schwerster Radfahrer der Welt‘ bewarb sich Naucke selber und machte sich damit abermals zur Marke.“
Der Tod auf einem Wohltätigkeitsfest
Naucke und Hansen engagierten sich immer wieder für soziale Vorhaben, so auch am 25. Januar 1900 bei einem Fest in Sagebiels Etablissement zugunsten von Kindergärten. Ihr gemeinsamer Auftritt wurde mit „brausendem Beifall“ quittiert. Aber der anstrengende Auftritt löste bei dem Artisten Naucke einen Herzinfarkt aus, der zum Tod des erst 44-Jährigen führte. Drei Tage später fand die Beerdigung statt. Eine Zeitung berichtete am nächsten Tag, dass sich eine „förmliche Völkerwanderung nach St. Pauli“ ergoss. Das Varieté des Verstorbenen diente als Trauerkapelle, erwies sich aber als viel zu klein für Tausende Hamburgerinnen und Hamburger, die Abschied von Emil Naucke nehmen wollten.
Nach der Trauerfeier formierte sich ein langer Trauerzug mit mehreren Zehntausend Menschen. Die Popularität Nauckes beruhte auch darauf, dass er sich immer wieder an Wohltätigkeitaktionen beteiligt und auch einzelnen Menschen in Not geholfen hatte. Das Familiengrab der Familie Naucke auf dem Ohlsdorfer Friedhof mit dem hohen dunklen Obelisk wurde später von vielen Hamburgerinnen und Hamburgern besucht.
Die Witwe Nauckes führte das Varieté gemeinsam mit Peter Hansen fort, unterstützt von vielen Freunden des Verstorbenen. Ein Jahrzehnt lang konnten Johanna Naucke und Peter Hansen das Varieté erhalten und ein vielfältiges Programm mit Artistik und komischen Nummern anbieten. Aber es fehlte der Artist und Komiker Emil Naucke, und 1911 musste das Varieté verkauft werden.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro