„Mama Blume war nicht nur die bekannte Wahrsagerin vom Hamburger Dom, in deren kuschelig überheiztem Wagen sich unzählige Menschen in den letzten Jahrzehnten die Karten legen ließen. Mama Blume, die Sinteza, die mit bürgerlichem Namen Hilde Rosenberg hieß, war ein Kraftwerk. Ein Überlebenswunder. Ein winziges, zähes Persönchen mit Witz und unglaublicher Frechheit, eine Frau, die sich nie hat kleinkriegen lassen.“ Das schrieb Tania Kibermanis im Februar 2019 in einem Nachruf in der „Zeit“. Der Zentralrat Deutscher Sinti & Roma sprach nach ihrem Tod von „einer hochgeachteten Institution nicht nur für die Sinti und Roma“. Mama Blume war ein beeindruckendes Hamburger Original, jedenfalls, wenn man unter einem Original nicht eine Witzfigur versteht, über die ihre Umgebung lacht.
Mama Blume kam 1928 im polnischen Lódź in einer Sinti-Familie zur Welt, unter deren Vorfahren mütter- und väterlicherseits viel Musiker waren. Ihr Vater war Kammerjäger, die Mutter eine bekannte Wahrsagerin. Gern erinnerte sich Mama Blume an die Zeit, als die Familie in einer Wohnung lebte, aber auch einen Wohnwagen und Pferde besaß: „… am Lagerfeuer schmeckt alles besser. Allein diese gemütliche Stimmung am Feuer. Stundenlang konnte ich in die Flammen schauen. Und wenn dann noch die Pferde hinter dem Wohnwagen standen, war alles irgendwie abenteuerlich und romantisch zugleich. Leider ist diese Zeit vorüber …“ Das hat sie ihrem Sohn Tornado erzählt. Er hat 2019 die Lebensgeschichte seiner Eltern unter dem Titel „Vom Glück im Leben“ veröffentlicht.
Auf der Suche nach den Musikern im Radio
Mama Blume erinnerte sich im Alter an ein Erlebnis, als sie acht Jahre alt war. Ihr Vater hatte ein Radio gekauft, und als ihr Bruder und sie allein waren, stellten sie das Radio an und hörten schöne Musik: „Doch ich und mein Bruder wollten unbedingt wissen, wer diese Musiker sind. Also nahmen wir einen Hammer und haste nicht gesehen, das Radio war entzwei. Es schauten nur noch Federn heraus. Und von den Musikern? Natürlich keine Spur.“ Als der Vater nach Hause kam, schimpfte er die Kinder nicht aus, sondern lachte und versuchte, ihnen zu erklären, wie ein Radio funktioniert. Diese Geschichte sagt viel über den Erziehungsstil im Elternhaus von Mama Blume aus.
Bald darauf starb der Vater, und die Mutter musste nun die Familie allein als Wahrsagerin ernähren. Die Tochter sah ihr dabei häufig zu. „Oft war ich überrascht, wenn ich hörte, was alles eingetroffen war und wurde immer neugieriger.“ Die Tochter wollte nun auch selbst die Zukunft voraussagen. Sie sprach auf der Straße einen Jungen an und bot ihm an, ihm zu sagen, welche Zukunft er haben würde, wenn er ihr einen Pfennig zahlte. Er war einverstanden, und sie sagte ihm eine schöne Zukunft voraus. Daraufhin fand sie einige weitere Kinder, die für einen Pfennig etwas über ihre Zukunft erfahren wollten.
Als Mama Blume stolz ihrer Mutter von ihren Erfolgen erzählte, antwortete diese: „So mein Kind, höre jetzt immer gut zu und lerne.“ Die Mutter prägte Hilde ein, den anderen Kindern nie etwas Schlechtes vorherzusagen. Die Tochter beobachtete ihre Mutter nun noch intensiver: „Ich war sehr oft davon berührt, wenn ich sah, wie die Menschen mit ihren Nöten zu ihr kamen. Oft weinten sie, aber sie gingen mit fröhlichen Gesichtern aus der Tür … Sie sagte mir, dass sie die Gabe hat, Menschen in jeder Situation zu helfen.“
Als die Tochter fragte, woher sie diese Gabe her hätte, antwortete sie, dass es ein Geschenk wäre. Die Tochter solle ihr geduldig zuschauen, denn sie brauche viel Weisheit und habe eine große Verantwortung den Menschen gegenüber.
Leidenszeit in SS-Arbeitslagern
Nach dem deutschen Überfall auf Polen musste Mama Blume als Sinti-Mädchen im Alter von 11 Jahren die Schule verlassen. Mit 13 Jahren verschleppten die Nazis sie in ein Arbeitslager und später musste sie in Niederwiesa bei Chemnitz in einer Munitionsfabrik Zwangsarbeit leisten. Als Folge wiederholter Misshandlungen erlitt sie mehrere Knochenbrüche, verlor auf einer Seite das Gehör und litt zeitlebens unter den Folgen einer zertrümmerten Schulter.
Sie machte in diesen Jahren auch positive Erfahrungen, die ihr halfen, den Glauben an das Gute im Menschen nicht zu verlieren: „Unser Chef in der Munitionsfabrik, Herr Litke, war uns Frauen, die wir die Arbeit dort machten, immer gut gesinnt.“ Das zeigte sich auch, als Hilde ein defektes Kabel anfasste und mehrere starke Stromschläge erlitt. In dieser Situation war es der Chef, der den Stromschalter rasch ausschaltete. „Ich habe ihm mein weiteres Leben zu verdanken.“
Im Arbeitslager lernte die Jugendliche im Juli 1944 ihren späteren Mann Lani Rosenberg kennen, ein Sinto. Er war im Mai 1940 im Alter von 17 Jahren in Hamburg festgenommen und in Arbeitslager verschleppt worden. In der Nähe des Arbeitslagers mussten die Häftlinge mitten im Winter Schützengräben ausheben. Lani Rosenberg bot dem Mädchen an, ihr bei der schweren Arbeit zu helfen und sie kamen einander näher.
Einmal arbeiteten sie auf einem Feld, und da sie an diesem Tag eine kleine Gruppe waren, bewachte sie nur ein einziger Soldat. Das machte Hilde sich zunutze. Zur Überraschung ihrer Mithäftlinge sprach sie den jungen Soldaten an und sagte ihm: „Hey du, du siehst aus wie eine Ziege.“ Der Soldat hatte tatsächlich einen Bart, der dem einer Ziege ähnelte. Die Bemerkung über den Bart hätte eine harte Bestrafung des Mädchens auslösen können. Aber wie später so oft, bewährte sich Mama Blumes beeindruckende Menschenkenntnis.
Der junge Soldat nahm die Bemerkung humorvoll auf und lachte. Sie fragte ihn daraufhin, ob sie zu dem Bauernhof in der Nähe gehen dürfte, um etwas zu Essen zu holen. Der Soldat lehnte das zunächst ab, aber sie konnte ihn für sich einnehmen und er schaute weg, als sie sich zum Bauernhof entfernte. Dort erhielt sie einen Topf mit Essen, den die Häftlingsgruppe noch auf dem Feld aß, ohne dabei von dem Soldaten gestört zu werden.
Das war eine Ausnahme. Meistens behandelten die SS-Wächter die Häftlinge mit großer Brutalität. Mama Blume überlebte, weil es den SS-Wachmännern aus der Hand las und ihnen eine gute Zukunft vorhersagte. Viele ihrer Angehörigen wurden ermordet. Ihr späterer Mann Lani überlebte, weil er für die SS-Leute auf der Gitarre spielte. Hilde Rosenberg erhielt für ihre Leiden im Konzentrationslager später eine Entschädigungsrente von 40 Euro im Monat.
Ein Neuanfang in Hamburg
Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager heirateten Mama Blume und Lani Rosenberg und ließen sich in seiner Heimatstadt Hamburg nieder. Dort wohnten sie zunächst in einem Wohnwagen, den der Ehemann selbst gebaut hatte. Er machte als Musiker Karriere, und die Familie konnte sich schon bald eine Wohnung leisten. Das Ehepaar bekam sechs Kinder. Der zweitälteste Sohn Tornado erinnerte sich später daran, dass es für ihn eine wunderbare Zeit war, als er selbst noch als Kind mit dem Orchester seines Vaters auftreten konnte. Er behielt aber auch dies in Erinnerung:
„Wir sahen unseren Vater manchmal weinen, wenn er allein in der Essdiele saß. Er redete kein Wort. Zuerst wusste ich nicht, warum er ohne ein Wort nur dort saß. Erst später erfuhr ich, dass er wegen des Verlustes seiner Eltern und Verwandten durch die Nazis nachdachte. Er allein überlebte das KZ. Alle seine Brüder kamen um. Nur er und seine Schwester und einige Neffen und Nichten hatten es überlebt.“ Auch die Eltern von Lani Rosenberg und viele Familienmitglieder seiner Frau waren ermordet worden. Tornado Rosenberg schrieb über die Trauerarbeit seiner Mutter Hilde: „Unsere Mutter steckte es irgendwie anders weg.“ Aber auch sie brauchte lange Zeit, bevor sie über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen konnte.
Hilde Rosenberg war bald eine angesehene Wahrsagerin und beteiligte sich viele Jahre am Hamburger Dom. Auch bildete sie andere Wahrsagerinnen und Wahrsager aus. Sie arbeitete bis ins hohe Alter, was angesichts ihrer geringen Rente auch geboten war. 2017 bekam sie eine Nachzahlung von 27 Euro Wiedergutmachung. Da war ihr Antrag auf Entschädigung für erlittenes Unrecht noch immer nicht abschließend bearbeitet, mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende der Naziherrschaft. Ihre Familie sorgte für Mama Blume, aber das ersetzte nicht die Anerkennung und angemessene Entschädigung als Opfer des Naziregimes.
„Uns Sinti gibt es nicht allein“
„Mama Blume öffnete mir die Tür, schaute mich kurz an und lächelte: ‚Das ist scheen, du bist ja eine von uns. Du hast ein warmes Herz.‘“ So begrüßte die Wahrsagerin ihre Besucherin, die Journalistin Tania Kibermanis. Daraus entwickelte sich eine langjährige Freundschaft zwischen der Journalistin und der Sinti-Familie. Sie wurde auch eingeladen, zuzuschauen, wenn Mama Blume und ihre Tochter Esmeralda den Besuchern des Hamburger Doms die Karten legten oder aus der Hand lasen. Anita Kibermanis schrieb in der „Frankfurter Rundschau“, dass Mama Blume den Besuchern auch unbequeme Wahrheiten sagte, so zum Beispiel mit donnernder, empörter Stimme: „Hör auf zu saufen, sonst wird dich deine Frau verlassen.“ In dem Beitrag heißt es weiter: „Auch mir hat sie ein paarmal die Karten gelegt. Dinge prophezeit, die mir ganz unglaublich schienen. Und sie hat immer Recht behalten.“
„Uns Sinti gibt es nicht allein“, sagte Esmeralda der Journalistin, und die schrieb: „Stimmt. Immer, wenn ich bei Rosenbergs zu Besuch bin, kommt spätestens nach zehn Minuten jemand aus der Familie vorbei, bleibt auf einen Kaffee, spielt vielleicht ein neues Stück auf der Gitarre vor … Enkelkinder toben durch die Wohnung, dazwischen wuselt ein kleiner Hund. Und egal, um welche Uhrzeit ich auch vorbeischaue, immer köchelt in einem riesigen Topf irgendein stark fleischhaltiges Essen, falls vielleicht jemand auf der Matte steht, der noch Hunger hat. Immer ist noch Platz und ein Moment Zeit für einen, der gerade etwas braucht.“
Die Tochter setzt die Hellseher-Tradition der Mutter fort
Die jüngste Tochter Simona, genannt Esmeralda, hat das Wahrsagen in dem buntem Wagen auf dem Hamburger Dom fortgeführt. Sie war zunächst selbst skeptisch gewesen, wie sie 2021 in einem Interview der „Kreiszeitung-Wochenblatt“ (Buchholz) einräumte: „Als junges Mädchen habe ich an die Hellseherei nicht geglaubt. Dann kam es aber zu einem Schlüsselerlebnis für mich: Ich habe meine Mutter gebeten, einem Bekannten aus der Hand zu lesen. Dem schuldete ich einen kleinen Geldbetrag. Mit der Sitzung sollten die Schulden beglichen werden. Ohne vorher mit ihm zu sprechen, sagte meine Mutter dem Mann, dass er große Angst vor Feuer habe. Das traf tatsächlich zu, denn mein Bekannter hatte sich als Kind ganz fürchterlich verbrannt. Ich habe mich danach der Wahrsagerei geöffnet und entdeckte, das ich über die gleiche hellseherische Gabe wie meine Mutter verfügte.“ 2015 sagte sie in einem anderen Zeitungsgespräch über ihre Tätigkeit: „Man braucht viel Kraft für diese Arbeit. Aber es ist unsere Bestimmung. Wir versuchen, den Menschen zu helfen und ihnen den Weg zu weisen.“
Mama Blume starb am 1. Februar 2019 in Hamburg. Ihren Kindern hatte sie mit auf den Weg gegeben: „Der Sinn des Lebens ist, dass du einfach da bist und dich an dieser Welt freuen sollst.“ Zum Tod äußerte die tiefgläubige Frau: „Nur Gott zündet die Kerze an und pustet sie auch wieder aus.“
Der Sohn Tornado ist ein bekannter Musiker. Wie erwähnt hat er die Gesichte von Lani Rosenberg und Mama Blume unter dem Titel „Vom Glück im Leben“ veröffentlicht. Er bekämpft die Vorurteile gegen die „Zigeuner“ und fordert für ihre Anerkennung als KZ-Opfer sowie endlich eine angemessene Entschädigung für erlittenes Unrecht. Über sich selbst schreibt er: „Ich fühle mich als deutscher Sinto, als Hamburger, und erwarte genau den Respekt, den die Menschen auch von mir erwarten können.“
Ein Platz für Mama Blume
2021 gab es eine Initiative, den Lohseplatz in Mama-Blume-Platz umzubenennen. Das würde sich anbieten, weil der Ehemann und Verwandte von Hilde Rosenberg vom Hannoverschen Bahnhof, der sich hier früher befand, in Konzentrationslager verschleppt wurden. Aber wie schon zu Lebzeiten, waren die Paragrafen auch diesmal gegen sie. Das zuständige Fachamt des Bezirksamtes Mitte lehnte den Antrag ab: „Eine Umbenennung ist in diesem Fall nicht möglich. Die Benennungsbestimmungen des Senats geben vor, dass Umbenennungen ausschließlich erfolgen dürfen, wenn diese der Beseitigung von Unklarheiten (Verwechslung, Änderungen des Wegeverlaufs) dienen. Zu Unklarheiten kam es beim Lohseplatz bisher nicht.“
Immerhin schlug das zuständige Amt vor, die Bezirksversammlung möge den Vorschlag auf die „Warteliste“ für die Benennung neuer Straßen setzen. 2022 gab es eine neue Eingabe, dieses Mal mit dem Vorschlag, eine Fläche an der Davidstraße als Mama-Blume-Platz zu benennen. Bis heute ist aber weder ein Platz noch eine Straße nach Mama Blume benannt worden.
Tania Kibermanis hat in einem Nachruf in der Wochenzeitung „Die Zeit“ über die letzte Lebenszeit von Mama Blume geschrieben: „Am liebsten saß sie inmitten ihrer Familie, ganz still, und beobachtete lächelnd das Treiben um sie herum. Sie liebte Blumen. Und natürlich Gitarrenmusik. Sie konnte schimpfen, wenn einer mit ungebügeltem Hemd zu ihr kam. Noch an Silvester hat sie getanzt. Nie hat sie jemanden abgewiesen, der zu ihr kam. Sie war eine fürsorgliche und warmherzige Mama, weit über ihre eigene Familie hinaus. Wer diese wunderbare Frau mit der rauen Stimme jemals erlebt hat, kann dankbar sein. So ein großes Herz findet man nur alle 100 Jahre.“
Zum Weiterlesen:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro