Warum die Armen selig sind

 

„Selig seid ihr Armen“, diese Aussage Jesu in der lukanischen Fassung (Lukas 6,20) der Bergpredigt (einer Sammlung zentraler Aussagen Jesu, bei Lukas als „Predigt auf dem Felde“ stilisiert), hat Christinnen und Christen immer wieder herausgefordert, die Reichen selbstverständlich anders als die Armen. Kann es sein, dass die Armen schon durch ihre Armut den Schlüssel zum Reich Gottes besitzen? Das kann doch nicht sein, war die Auffassung vieler Theologen der letzten zwei Jahrtausende. Manche haben sich zur Matthäus-Version der Bergpredigt gerettet, weil hier von den geistlich Armen die Rede ist, und dazu scheinen wir dann alle irgendwie zu gehören.[1]

 

Aber auch dann bleiben die vielen anderen Aussagen von Jesus und von Propheten des Alten Testaments erhalten, in denen die Armen gepriesen und die Reichen gewarnt werden.[2] Die Wirkungsgeschichte der Seligpreisungen in ihren zwei Fassungen in der europäischen und in der Dritte Welt-Theologie wäre eine eigene Untersuchung wert.[3] Die ökumenische Position ist von Martin Stöhr schon vor Jahren so zusammengefasst worden: „Wir achten Christus gering, wenn wir die radikale Veränderung im persönlichen und sozialen Leben der Menschen und in ihren Verhältnissen erst an der Todesgrenze der Menschen beginnen lassen. Sie hat mit seinem so menschlichen Erscheinen auf dieser Erde bereits begonnen.“[4]

 

Die Frage von Armut und Reichtum ist nur eine der Provokationen in der Bergpredigt. Und deshalb hat dieser biblische Text auch Politiker immer wieder zu pointierten Aussagen provoziert, so Bismarck: „Mit der Bergpredigt kann man keinen Staat regieren.“[5] Helmut Schmidt äußerte sich als Bundeskanzler ähnlich, wohingegen Bischof Kurt Scharf die Bergpredigt als die „Regierungserklärung der Politik Jesu“ bezeichnete. Aktualisiert wäre wohl zu fragen, ob mit der Bergpredigt die Globalisierung gestaltet werden kann – und auch hier wäre mit vehementem Einspruch der Realpolitiker zu rechnen.

 

Das Problem – für die Reichen – bleibt erhalten: Es sind die Armen, die selig gepriesen werden, während von den Reichen eine Umkehr gefordert ist. Diese Aussage hat offenkundig gravierende Auswirkungen auf das ökonomische Leben oder sollte es wenigstens haben. Die Aussage, dass die Armen selig sind, ist nicht loszulösen von der ökonomischen Situation in Judäa und Galiläa zur Zeit Jesu. Damals bedeutete arm sein, zu den Verlierern eines ökonomischen Systems zu gehören, das auf einer Rohform der Marktwirtschaft beruhte und ganz auf die Interessen der Mächtigen in Rom ausgerichtet war. Die Römer bestimmten die „Spielregeln“ des Wirtschaftslebens. Die Armen waren die Objekte dessen, was aus der Sicht der Reichen ein durch und durch rationales und erfolgreiches Wirtschaftssystem war.

 

Die Kluft zwischen den Gewinnern und den Verlierern dieser globalen Wirtschaft war groß, und dies besonders in einem Gebiet der Peripherie wie Palästina. Wer hier reich wurde, der musste sich in den Dienst des politischen und wirtschaftlichen Systems der Römer stellen, wie es der Zolleinnehmer Zachäus getan hatte. Wer sein Leben an der Tora orientierte, dem war in diesem System ein nennenswerter Reichtum fast ausgeschlossen, denn das Zinsverbot, das Gebot für das Sabbatjahr und andere Bestimmungen waren auf Ausgleich zwischen Arm und Reich ausgerichtet, nicht auf die Anhäufung von Reichtum in den Händen weniger. Deshalb gab es sicher viele strenggläubige jüdische Familien, die die Tora höher stellten als die Gesetze des Marktsystems und der Anhäufung von Reichtum und die deshalb zu den Armen gehörten.

 

Andere Familien gerieten durch den Tod des Mannes, durch schlechte Ernten und ähnliche Gründe in Not. Sie hatten nach der Tora einen Anspruch auf die Unterstützung durch die Reichen. Und diese Unterstützung wurde von Jesus eingefordert, wie das Gleichnis vom armen Lazarus und dem reichen Mann drastisch zeigt. Der Arme, der vor dem Tor des Reichen lag und um Hilfe bettelte, hatte einen göttlich verbrieften Rechtsanspruch darauf, dass ihm geholfen wurde. In seiner Not konnte er sich auf nichts anderes verlassen als auf Gott und seine Regeln für das Zusammenleben. Er konnte nur darauf hoffen, dass die Regeln, die Gott für den Weg in sein Reich aufgestellt hatte und die nicht erst im Jenseits gelten sollten, auch eingehalten wurden. Der Arme war bereits auf dem Weg zu diesem Reich Gottes, der hartherzige Reiche hingegen verweigerte sich, war nicht bereit, sich mit dem Armen gemeinsam auf diesen Weg der Geschwisterlichkeit, der Gerechtigkeit und der Liebe zu machen.

 

Die Verheißung für die Armen - und die Botschaft für die Reichen

 

Die Armen vertrauen auf Gott, er soll ihnen Rettung und Heil bringen, das ist auch die Erfahrung in vielen wirtschaftlich armen Ländern im Süden der Welt. Ist es nun an den Reichen, festzulegen, wann die Armen wirklich selig sind? Müssen sie sich nicht der drängenden Aufforderung Jesu stellen, umzukehren. Kann man aber die Situation im alten Judäa und Galiläa überhaupt mit der heutigen Situation vergleichen? Gelten in einem Sozialstaat noch die Regeln, die ein Wanderprediger aufgestellt hat, der an den staubigen Straßen und in den überfüllten Gassen der Kleinstädte unendlich viel Elend sah? Aber dieses Elend gibt es auch heute, vor allem in den Ländern des Südens der Welt, und in einer zusammenwachsenden Welt reicht unsere Mitverantwortung über den eigenen Ort hinaus.[6]

 

Es gibt eine inzwischen umfangreiche theologische Literatur im Süden der Welt zur Frage, was das Evangelium den Armen und den Reichen verheißt und welche Konsequenzen sich daraus für heutige Christinnen und Christen ergeben. So hat sich der koreanische Minjung-Theologe Byung-Mun Ahn auf dem Hintergrund einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in seiner Heimat mit dieser Thematik beschäftigt. Er warnt davor, die Armen dazu aufzufordern, ihre Situation einfach hinzunehmen: „Verbreitet ist etwa das Opium, das die Armen betäubt, damit sie ihre Armut, ohne zu klagen, auf sich nehmen? Keineswegs! Denn das Wort verkündet den jetzt Reichen Unheil. Es ist alles andere als ein Mittel, das die Armen zum Vorteil der Reichen betäuben will. Nur ein Christentum, das sich mit dem Kapitalismus als einem Herrschaftssystem verbrüderte, könnte so predigen. Das Wort Jesu verkündet dagegen das Ende einer Gesellschaft, in der die Reichen herrschen.“[7]

 

Aber auch die Debatten über die Vertreibung von Bettlern aus den Innenstädten deutscher Metropolen und vor allem aus den Straßen mit teuren Geschäften muten im Lichte des Evangeliums skandalös an. Da werden neue Verwaltungsvorschriften erfunden, politische Konzepte zur Vertreibung von Bettlerinnen und Bettlern entwickelt (in Hamburg, einer der wohlhabendsten Metropolen der Welt, wurde in Behördenkreisen an einem entsprechenden „Bettlerpapier“ gearbeitet) und Einkaufspassagen privatisiert, damit dort private Wachdienste unter Ausnutzung des Hausrechtes die Bettler vertreiben können.

 

Das Ganze hat eine wirtschaftliche Logik. Die Bettler stören schlicht das Ambiente für die reichen Kunden, und auch eine Stadt, die auf hohe Steuereinnahmen von Luxusläden hofft, kann es ökonomisch rechtfertigen, die Bettler zu vertreiben, die die Geschäfte stören. Aber was nach vorherrschenden ökonomischen Vorstellungen berechtigt ist, erscheint im Lichte des Evangeliums als Skandal, noch gravierender als das Verhalten des Reichen, der Lazarus übersieht.

 

Die Ökonomie, für die Jesus eintrat, unterschied sich grundlegend von der damals vorherrschenden und der heute weltweit praktizierten Ökonomie. Jesus setzte sich ein für eine an den Armen ausgerichtete Ökonomie und aktualisierte dabei die Tora auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten eines total von der Weltmacht Rom abhängigen Landes. Die Armen sollten genug zum Leben haben, war eine Anforderung Jesu an die Wirtschaft, und er stand damit, wie bereits dargestellt, ganz in der Tradition seiner Vorväter, die im Gehorsam gegenüber Gott die Bücher der Bibel aufgeschrieben hatten. „Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben“ – das ist der Maßstab Jesu für ein Verhalten, das hin zum Reiche Gottes und nicht in den Untergang führt. Gemessen an diesem Maßstab wirken manche kirchliche Beiträge zur Globalisierungsdebatte merkwürdig uneindeutig, und es stellt sich die Frage, ob die Bergpredigt nicht eine solide Grundlage für kirchliche Stimmen zur Globalisierung bilden kann und muss.

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 



[1] Es sei hier zumindest kurz eingefügt, dass die Matthäus-Fassung vermutlich eine Neufassung der ursprünglichen Botschaft Jesu war, wie sie Lukas überliefert hat. Ulrich Luz schrieb hierzu: „Aus der uneingeschränkten und bedingungslosen Heilszusage an die Armen und Leidenden ist bei Matthäus eine Art Christenspiegel geworden, mit dessen Hilfe eine christliche Gemeinde, vermutlich im Gottesdienst, ermahnt und ermuntert wird. Die ursprüngliche Stoßrichtung Jesu scheint erheblich umgebogen, um nicht zu sagen in ihr Gegenteil verkehrt.“ Ulrich Luz: Die Bergpredigt im Spiegel der Wirkungsgeschichte, in: Jürgen Moltmann (Hrsg.): Nachfolge und Bergpredigt, München 1981, S. 42

[2] Die Seligpreisung der Armen ist ein Beispiel dafür, wie Jesus Aussagen des Alten Testaments in Erinnerung rief und ihre Dringlichkeit in Erwartung des Reiches Gottes herausstellte. So heißt es im 5. Buch Mose 15 in Vers 11: „Es werden allezeit Arme sein im Lande; darum gebiete ich dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder, der bedrängt und arm ist in deinem Lande.“

[3] Im Blick auf die deutsche Theologiegeschichte bietet sich der eben zitierte Aufsatz von Ulrich Luz als Einstieg an, vgl. auch Theißen/Merz: Der historische Jesus, Göttinger 2001, S. 244ff.

[4] Martin Stöhr: Gottes Hinwendung zu den Armen, in: Hartwig Liebich (Hrsg.): Die Mülltonnen der Reichen und der arme Lazarus, Stuttgart 1982, S. 31

[5] Zitiert nach der Einleitung von Jürgen Moltmann (Hrsg.): Nachfolge und Bergpredigt, München 1981, S. 10

[6] In der Denkschrift der EKD „Gemeinwohl und Eigennutz“ (Gütersloh 1991) wird der Versuch unternommen, die biblischen Aussagen zu Armen und Reichen zu einer Orientierung für unsere heutige Situation zu machen (Vgl. S. 92ff.).

[7] Byung-Mu Ahn: Draußen vor der Tür, Kirche und Minjung in Korea, Göttingen 1986, S. 52