Es gibt keine richtige Auslegung biblischer Texte

                                                                                            

Niemand, der die Bibel liest und auslegt, kommt an einer individuellen Interpretation vorbei. Darüber sollte man sich und anderen Rechenschaft ablegen und darf dies nicht hinter dem Anspruch kaschieren, die einzig wahre, bibeltreue Auslegung zu präsentieren. Werner Kahl, Studienleiter an der Missionsakademie an der Universität Hamburg, schrieb vor einigen Jahren: „Das Evangelium ist nicht nur interpretationsfähig; es ist interpretationsbedürftig. Und dazu braucht es Gläubige, die zuversichtlich, offen, mutig, kreativ und selbst-kritisch beten, Bibel und Welt lesen und darüber nachdenken, wie Evangelium angemessen zu bezeugen sei.“

 

Es gelte dabei, nicht nur den historischen Kontext zu verstehen, der den Hintergrund für einen biblischen Text bildet, sondern auch die Intentionen der Verfasser dieser Texte und die Tatsache, dass die Interpre­tin­nen und Interpreten ihn aus einer je eigenen Lebens- und Verstehensweise lesen. „Die Ausleger und Auslegerinnen nehmen die Bibel jeweils unter einer bestimmten, nicht zu vernachlässigenden Perspektive in den Blick. Erst in der Zusammenschau ihrer Analysen werden wir der Mehrdimensionalität biblischer Texte ansichtig.“

 

Zu berücksichtigen ist auch, dass sich in großen Teilen der katholischen und der evangelischen theologischen Wissenschaft sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Texte des Neuen Testaments von Menschen verfasst wurden, die das Wirken Jesu selbst nicht mehr erlebt hatten und die deshalb auf (inzwischen verloren gegangene) Sammlungen von Worten und Taten Jesu sowie auf mündlich überlieferte Berichte angewiesen waren. Einigen Verfassern der Evangelien standen wahrscheinlich bereits vorher entstandene Evangelien zur Verfügung.

 

Die einzelnen Texte des Neuen Testaments entstanden im Blick auf jeweils unterschiedliche Leserschaften und mit recht unterschiedlichen Intentionen. Beides lässt sich heute nur noch zum Teil rekonstruieren. Keiner der Verfasser neutestamentlicher Texte hatte das Ziel, eine Biografie Jesu zu schreiben. Man kann sich daher der in der heutigen Theologie weit verbreiteten Formel anschließen: Die Bibel ist nicht Gottes Wort, sie enthält aber Gottes Wort.

 

Unterschiede im biblischen Kanon

 

Auch müssen wir uns bewusst sein, dass unsere Bibeln nur eine Auswahl der religiösen Texte enthalten, die in biblischen Zeiten von Menschen verfasst wurden, die ihr Verständnis von Gottes Botschaften und Weisungen an die Menschen weitergeben wollten. In der Zusammenstellung der Bücher der Bibel gibt es Unterschiede zwischen der jüdischen Bibel und dem christlichen Altem Testament, aber auch zwischen den christlichen Kirchen bei der Textauswahl für das Neue Testament. In den ersten Jahrhunderten gab es heftige Debatten unter den Jesusanhängern und innerhalb der neu entstandenen Kirchen, welche Bücher einen Platz in der Bibel finden sollten und welche nicht.

 

Johanna Rahner, Professorin für katholische Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie in Tübingen, hat 2020 in einem Interview der „Herder Korrespondenz“ dazu festgestellt: „Die lehramtliche Festlegungen des biblischen Kanons sind ja, wie wir heute wissen, durchaus historisch zufällig. Entscheidend ist, dass sich die Kirche des Anfangs zutraut, diese Texte als Maßstab authentischer Gotteserfahrung für die eigene und alle zukünftige Gottesrede zu sehen.“

 

Viele Texte, die nicht Aufnahme ins Neue Testament fanden, sind verlorengegangen, andere sind nur noch in Bruchstücken vorhanden und wieder andere sind uns heute als sogenannten apokryphe Schriften bekannt. Bei letzteren Texten kann man aus heutiger Perspektive verstehen, warum sie nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden und kann in vielen Fällen dankbar dafür sein. Aber wir sollten uns beim Lesen der Bibel bewusst sein, dass es sich um eine Auswahl religiöser Schriften handelt und dass diese Auswahl sich je nach Konfession mehr oder weniger deutlich unterscheidet. Für alle gilt, so Johanna Rahner: „Sie sind von Menschen für Menschen geschrieben, damit sie in die Gottesbeziehung hineinkommen.“

 

Gar nicht genug betont werden kann, dass die Bibel eine der ganz wenigen überlieferten umfangreichen Textsammlungen aus der Antike ist, in denen die Besiegten sich zu Wort meldeten. Die Israeliten waren über lange Zeiträume ein unterdrücktes Volk, abhängig von den wechselnden Herren der Region am östlichen Mittelmeer. Zugleich besaßen sie an der Schnittstelle dieser Mächte ein beträchtliches Wissen über die Kräfte- und Wirtschaftsverhältnisse in dieser Region - und sie hatten einen Glauben, der ihnen half, ihre Identität und ihren Zusammenhalt auch nach schlimmsten Katastrophen zu bewahren.

 

Es mag auf den ersten Blick einfach nur logisch klingen, dass man sich mit dem Kontext einer Geschichte, den Intentionen ihres Verfassers oder ihrer Verfas­serin und der Verstehensweise der Leserinnen und Leser eines biblischen Textes beschäftigen sollte. Aber die Konsequenzen sind gravierend. Während sich manche konservative und pietistische Christen unter dem Slogan „Kein anderes Evangelium“ sammeln, wird bei der skizzierten Beschäftigung mit biblischen Texten deutlich, dass wir vielleicht noch in einer historisch-kriti­schen Analyse den Text und seinen Kontext mit einiger Zuverlässigkeit erfassen können, dass wir aber im Blick auf die Intentionen der Verfasserinnen und Verfasser nicht selten auf Mutmaßungen angewiesen sind. Wir werden dann einsehen, dass wir nicht nur mit vier Evangelien, sondern auch mit einer Vielzahl von Auslegungen der biblischen Texte leben müssen, von denen keine dem Anspruch genügt, allein richtig und für alle verbindlich zu sein. Und wir können lernen, dass diese Vielfalt ein Reichtum ist, den wir wertschätzen können.

 

Viele Perspektiven und Interpretationen beim Lesen der Bibel

 

Die unterschiedlichen Perspektiven der heutigen Leserinnen und Leser bedeuten dann endgültig, dass es „das“ Ver­­ständnis eines biblischen Textes nicht geben kann, auch nicht annäherungsweise. Es kann aus dieser Perspektive keine Hüter des Evangeliums geben, die es gegen ein „anderes“ Evangelium verteidigen, sondern das eine Evangelium kann sehr unterschiedlich gelesen und geglaubt werden.

 

Öffnet das nun einer Beliebigkeit Tür und Tor, kann jede und jeder die biblischen Texte nach eigenem Gusto lesen? Nein, kann die Antwort nur lauten. Ein „everything goes“ kann es in Glaubensfragen nicht geben, sondern es sind Austausch und auch Streitgespräche in der Christenheit darüber unverzichtbar, wie wir in der heutigen Zeit die biblischen Texte auslegen. Und dieser Austausch sollte auch Laien einbeziehen. Gelingt das, kann dieser Austausch alle Beteiligten in ihrem biblischen Verständnis bereichern, auch wenn Unterschiede bestehen bleiben.

 

Es kommt auf ein verantwortliches Lesen und Interpretieren biblischer Texte an. Verantwortlich bedeutet, sich gründlich mit dem zu befassen, was wir über den historischen Kon­text eines biblischen Textes und die Intentionen der Verfasserin oder des Verfassers wissen, ebenso mit unterschiedlichen Auslegungen und Übersetzungen dieses Textes zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen heutigen Kontexten.

 

Das klingt nach Arbeit, auch wenn der Anspruch nicht lauten kann, jede und jeder Gläubige erst einmal ein umfangreiches Theologiestudium absol­vieren sollte, um biblische Texte besser zu verstehen. Gefragt ist aber eine Mündigkeit der Gläubigen, zu der es auch gehört, aus den gewonnenen Einsichten klare Kon­sequenzen für das eigene Leben und das eigene Engagement in Kirche und Gesellschaft zu ziehen.

 

Vielleicht mag dies manchen Leserinnen und Lesern wie eine Vertreibung aus dem Paradies vorkommen, nachdem man einmal vom Baum der Er­kenntnis gekostet hat. Aber dies kann auch der Beginn einer spannenden Reise – und möglichst einer gemeinsamen Reise – sein, bei der die Bibel in ihren vielen Facetten und ihren vielen Interpretationen dennoch oder gerade deshalb zum Kom­pass für das eigene Leben wird.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann