Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Der Mythos lebt noch immer

 

Der Mythos Babylon lebt weiter, auch in Deutschland. Der Name Babylon dient heute vor allem dazu, die Offenheit für unterschiedliche kulturelle Beiträge zum Ausdruck zu bringen. Nicht die Sprachverwirrung prägt dabei die Erinnerung an die antike Großstadt, sondern das friedliche und bereichernde Miteinander von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Diesen Reichtum schätzen viele Initiativen, die Bildungs-, Stadtteilkultur- und Sozialarbeit in multikulturell geprägten Städten ins Leben gerufen haben.

 

In Essen hat sich ein multikulturelles Bildungszentrum nach Babylon benannt. Ein Verein, der in Berlin interkulturelle Sozialarbeit betreibt, hat als Logo einen stilisierten Wohnturm und firmiert als „Babel e. V.“. Ein Tanzstudio in Karlsruhe erinnert auf seiner Website an die Legende von der Zeit, als alle Leute eine einzige Sprache hatten, heute sei die gemeinsame Sprache der Tanz: „Tanzstudio Babylon vereint die Tänze unterschiedlicher Nationalitäten und bietet Kurse für Bauchtanz, Flamenco, Irisch, Russisch und Salsa-Karibic.“

 

Zu den kulturellen Initiativen, die eine ganz eigene Babylon-Tradition entstehen lassen, gehört auch das Jugendmusiktheater-Ensemble „Trying Babylon“ des Kulturzentrums COPRA in Solingen, bei dem u. a. professionelle Künstler junge Leute in Schauspiel, Musik und Tanz unterweisen und gemeinsam mit ihnen Theaterstücke erarbeiten. An der Universität Regensburg hat sich die internationale Theatergruppe „Babylon“ gebildet. In Bremen musiziert das junge Ensemble „New Babylon“ mit Mitwirkenden verschiedener Nationalitäten.

 

In Berlin trägt ein bekanntes Programmkino den Namen „Babylon“, und ausgerechnet dort versammelt sich jeden Sonntag eine Gemeinde im Rahmen eines freikirchlichen „Berlinprojekts“. Es wendet sich an „junge Kreative“, für die Pastor Christian Nowatzky diese Botschaft hat: „Viele Menschen hier machen extreme Erfahrungen, sei es im Job, im Sex, bei Partys. Denen können wir sagen: Macht das alles, lebt, genießt, und genau dann, wenn ihr merkt, dass da noch etwas fehlt, dann kommt zum Berlinprojekt. Das meint Jesus doch, wenn er sagt: ,Ich bin das Brot des Lebens.’“[1] Das neue Babylon an der Spree braucht anscheinend auch neue religiöse Antworten, und die finden Interessierte sonntags im „Babylon“. Auch Kinos in Hagen und Fürth haben diesen Namen gewählt. Zahlreich sind die Filme und Fernsehserien, die das Wort Babylon im Titel führen, zum Beispiel die Serie „Babylon Berlin“.

 

Zu den Hoffnungsträgern für eine Vielfalt, die bereichert, gehört der Sportverein „FC Turabdin-Babylon Pohlheim“. Angefangen hat der Klub 1979 als „FC Babylon“ in der Stadt Pohlheim. Die Stadt liegt im Landkreis Gießen, wo mehr als 1.000 aramäische Familien leben, die aus ihrer irakischen Heimat geflüchtet sind. 2002 erfolgte die Fusion mit einem ebenfalls aramäischen Verein, der sich nach dem Berg und der Region Turabdin benannt hatte, einem Zentrum des nordirakischen Christentums mit assyrischen und aramäischen Wurzeln. Inzwischen gehören dem Verein Fußballer an, die aus unterschiedlichsten Ländern in den Landkreis Gießen gekommen sind. Die „Gießener Zeitung“ schrieb 2010 über die „Babylonier“, ihr Verein sei „ein Beispiel für ein erfolgreiches, sportliches Miteinander verschiedenster Kulturen vereint im Sport Fußball“.[2]

 

Nachdem die Vielsprachigkeit in Babylon nach einem biblischen Bericht im Chaos geendet haben soll, bietet heute „Babylon“ Abhilfe. Sie ist nach eigenen Angaben „die am häufigsten heruntergeladene Übersetzungssoftware der Welt“. Für eine andere Verständigung will die Zeitschrift „Babylon“ sorgen, denn sie widmet sich der Beschäftigung mit dem deutsch-jüdischen Verhältnis und ist eine unverzichtbare intellektuelle jüdische Stimme in Deutschland. Und das Berliner RBB-„Inforadio“ bietet jeden Sonntag mit der Sendung „Babylon“ vielfältige Beiträge aus Kirche und Religion, Integration und Gesellschaft an.

 

Auch gastronomische Anbieter haben die Stadt am Euphrat entdeckt, zum Beispiel der „Babylon Pizza Service“ in Delmenhorst. Ein ähnliches Angebot hat das Restaurant „Babylon“ in Memmelsdorf mit Lieferservice. In Itzehoe hat ein Restaurant die Stadt am Euphrat etwas verlegt und preist sich unter dem Namen „Babylon“ als „Mediterranes Restaurant“ an. Gäste schätzen es in Internet-Beurteilungen als „griechisches Restaurant“. Das „Babylon“ in Köln kommt der kulturellen und geografischen Namensgeberin näher, stellt es sich doch als „Orientalisches Restaurant“ vor. Der Name der antiken Metropole löst offenbar weiterhin so viele Assoziationen aus, dass landauf, landab Firmen unterschiedlichster Art das Wort Babylon im Namen führen. Das reicht vom „Babylon Grill“ in Bottrop über diverse Friseursalons bis zu Juweliergeschäften. Und seit einiger Zeit trägt eine Strauchrosen-Neuzüchtung den klangvollen Namen „Babylon Eyes“.

 

Nicht vergessen dürfen wir die Stadt Babylon auf Long Island in den USA. Dort leben mehr als 200.000 Menschen, deren Vorfahren aus Europa, Afrika, Lateinamerika, Asien und selbst von den pazifischen Inseln in die USA gekommen sind. Sogar eine winzige Minderheit von Angehörigen der indianischen Bevölkerung gibt es in der Stadt, die früher weitgehend „weiß“ war und sich inzwischen zu jener ethnischen Vielfalt entwickelt, die schon das antike Babylon geprägt hat.

 

Selbst die Vorstellung vom „Sünden-Babel“ lässt sich heute gut vermarkten und inspiriert die Besitzer von „einschlägigen“ Betrieben bei der Wahl ihres Namens. „The Babylon“ in Hamburg wirbt als FKK- und Nightclub. In Buchholz in der Nordheide verspricht der „Nachtclub Babylon“ eine „Reise in 1.000 und eine Nacht“, und der „Club Babylon“ in Neckarsteinach offeriert einen „Babylon-Discount“.

 

Hier befinden wir uns schon an der Grenze zwischen der Faszination Babylon und dem Bild von Babylon als sündiger Stadt, als Moloch. Und dieses Bild wird im Zeitalter der Globalisierung auf Städte in aller Welt angewendet. Der russische Schriftsteller Wiktor Jerofejew bezeichnet seine Heimatstadt Moskau als „Hure Babylon“ und fügte in einem Interview mit „Spiegel Online“ hinzu: „Amsterdam und New York sind dagegen Kinderspielplätze. Dieses Moskau ist für mich das Licht des Teufels …“[3]

 

Deutlich weniger negativ hat Kurt F. de Swaaf 2010 das „Babylon am Main“ beschrieben, das Bahnhofsviertel Frankfurts, wo „die multikulturelle Bevölkerung des Viertels recht friedlich, wenn schon nicht mit-, dann zumindest nebeneinander“[4] lebt. Wenig überraschend bewertet die NPD die gewachsene kulturelle Vielfalt in unserem Land negativ. So hielt ein Mitarbeiter der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag im März 2006 einen Vortrag unter dem Titel „Heimat statt ‚Babylon‘ – Die Überfremdung als deutsche Schicksalsfrage“, und zwei Jahre später sprach ein Mitglied dieser Fraktion von der Gefahr, „in einem babylonischen Sprachgewirr unterzugehen oder zumindest zu primitivisieren“.

 

Kein Zweifel: Der Mythos Babylon lebt. Oder sollten wir besser sagen, dass die Mythen leben. Je nach Bedarf wird ein bestimmter Mythos wieder belebt oder neu kreiert. Die Beschäftigung mit der tatsächlichen Geschichte des antiken Babylons würde eine solche Mythenbildung nur stören. Und während im Irak die übrig gebliebenen Lehmziegel immer mehr zerfallen, wachsen die Mythen ungehindert weiter – ohne irgendeinen Bezug zum realen Babylon.

 

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 



[1] Zitiert nach: Renate Meinhof: Dein Berlin-Mitte komme, Süddeutsche Zeitung, 15.12.2013.

[2] Björn Gerdesam: FC Turabdin-Babylon – erfolgreicher Fußball und Völkerverständigung, Gießener Zeitung, 15.12.2010.

[3] „Moskau ist die Hure Babylon“, Interview mit Wiktor Jerofejew, Spiegel-Online, 15.7.2008

[4] Kurt F. de Swaaf: Frankfurter Bahnhofsviertel – Babylon am Main, Spiegel-Online, 18. 8. 2010.