Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Der Mut zur Wahrhaftigkeit

 

Das historische Babylon hatte wenig gemein mit dem Bild, das von der Stadt in biblischen Texten gezeichnet wurde. Dieser Befund ist eindeutig. Um so bedauerlicher ist es, dass in zahllosen Predigten und Bibelarbeiten der Eindruck vermittelt oder nahegelegt wird, dass die biblischen Geschichten vom Turmbau zu Babel oder vom Menetekel von historischen Ereignissen erzählen. Es ist unredlich, so zu tun, als sei es irrelevant, ob der Turm zu Ende gebaut oder der babylonische Herrscher von seinen eigenen Leuten getötet wurde.

 

„Everything goes“ ist in der Gesellschaft eine gefährliche Botschaft, und im Umgang mit historischen Tatsachen ist dies auch der Fall. Die Versuche, im Stil von „Die Bibel hat doch recht“ zu versuchen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Archäologie und Altorientalistik so selektiv wahrzunehmen oder umzudeuten, dass sie anscheinend doch noch irgendwie mit den biblischen Aussagen im Einklang zu bringen sind, schadet der Glaubwürdigkeit der Kirchen und ihrer Predigerinnen und Prediger.

 

Vor allem aber verbaut ein solcher Versuch den Zugang zur Botschaft biblischer Texte. Wir können dann zu einem tieferen Glauben gelangen, wenn wir viele der biblischen Geschichten nicht als historische Tatsachenberichte lesen, sondern als erzählte Theologie, mit der tiefe religiöse Wahrheiten vermittelt werden sollen. Dem werden viele Theologinnen und Theologen vermutlich zustimmen. Aber dann ist der Mut gefordert, dies in Predigten nicht zu „vergessen“. Nicht selten ist es einfacher, so zu predigen, als hätten die Menschen wirklich vergeblich am Turm von Babylon gearbeitet und wären an menschlichem Größenwahn gescheitert. Das lässt sich trefflich mit heutigem Größenwahn in Beziehung setzen. Aber die Wahrhaftigkeit erfordert es, auf solche plakative Gegenüberstellung zu verzichten und die Turmgeschichte als Glaubenszeugnis erkennbar werden zu lassen.

 

Und wer daran noch Zweifel haben sollte, der möge das Nachwort der zuletzt erschienenen Ausgabe von „Und die Bibel hat doch recht“ lesen. Dort wird über die Bibel festgestellt: „Längst wissen wir: Sie enthält Elemente der unterschiedlichsten Literaturgattungen – vom erbaulichen Traktat bis zum Kriminalroman, von der Predigt bis zum Gesetzestext, vom liturgischen Hymnus bis zum Liebeslied, von der Geschichtsschreibung bis zur Novelle; auch Sagen, Anekdoten und Volksmärchen fehlen nicht.“[1] Diese Aussage muss nach allem, was bisher aus diesem Buch zitiert worden ist, überraschen, zumal hinzugefügt wird: „Die Bibel ist durchaus nicht ‚aus einem Guss‘, und wir kennen einigermaßen ihre ‚Gussnähte‘.“[2] Wenn dem so ist, dann ist es offenkundig unsinnig, mit archäologischen Mitteln die historische Zuverlässigkeit all jener biblischen Texte beweisen zu wollen, die als Novellen oder Sagen einzuordnen sind.

 

Eigentlich müsste das Buch „Und die Bibel hat doch recht“ nach diesem Nachwort ganz neu geschrieben werden auf der Grundlage einer Einordnung der einzelnen biblischen Texte in die erwähnten literarischen Gattungen. Nun muss verraten werden, dass das Nachwort nicht von Werner Keller stammt, sondern von Joachim Rehork, der 1978 auf Bitten von Werner Keller das Buch im Blick auf neue Forschungsergebnisse bearbeitet hatte. Er bezeichnet die Bibel in seinem Nachwort als „Glaubensdokument“,[3] und dieser Einordnung kann ich mich uneingeschränkt anschließen.

 

Der Umgang mit den „Anderen“

 

Es gibt eine weitere Dimension, die beim Umgang mit den Babylon-Geschichten nicht vernachlässigt werden kann: die Frage nach der Darstellung der „Anderen“. Es ist menschlich nur zu verständlich, dass die Verfasser biblischer Texte einen großen Groll und Zorn gegen die hegten, die Jerusalem erobert, den Tempel zerstört und viele Menschen verschleppt hatten. Aber wir sollten uns heute hüten, dieses Bild von Babylon mit der historischen Realität jener Stadt zu verwechseln, die zwei Jahrtausende lang zu den führenden politischen, ökonomischen und kulturellen Zentren in Mesopotamien gehörte.

 

Babylonien und seine Hauptstadt waren kein Paradies, und ihr Reichtum beruhte in beträchtlichem Maße auf der Ausplünderung und Ausbeutung eroberter Gebiete. Aber die Menschen in Babylonien lebten nicht schlechter oder waren stärker unterdrückt als die Bewohner anderer damaliger Reiche in der Region zwischen Nil und Indus. Es ging den meisten Menschen in Babylon ökonomisch relativ gut, sie lebten vergleichsweise sicher und konnten ihre Rechte in vielen Fällen vor Gerichten einklagen. Frauen waren besser gestellt als anderswo, wahrscheinlich auch als im damaligen Palästina. Selbst den Sklaven ging es in Babylon eher besser als in manchen benachbarten Reichen. Man sollte die gesellschaftlichen Verhältnisse in Babylon gewiss nicht idealisieren, aber sie sind denkbar ungeeignet, um Babylonien zum „Reich des Bösen“ der damaligen Zeit zu machen.

 

 Es gehört fast schon zu den Banalitäten jeder Friedenserziehung, von einem Freund-Feind-Schema und einer Verteufelung der „Anderen“ wegzukommen. Das gilt es auch im Umgang mit biblischen Texten zu beherzigen, und wir sollten uns davor hüten, die pauschale Diffamierung von Fremdvölkern im Alten Testament unbesehen zu übernehmen. Gerade das, was an biblischen Texten – wie den Visionen in der Offenbarung des Johannes – häufig so beeindruckt, ist zugleich das Problematische an diesen Texten: die schroffe Gegenüberstellung von Gut und Böse, von denen, die für oder aber gegen Gott sind, von Heiligen und Huren. Solche Gegenüberstellungen verleihen Selbstvertrauen und Überzeugungskraft, wenn man davon überzeugt ist, zu den Guten zu gehören – und diese Überzeugung ist wahrlich weit verbreitet. Aber es bildet auch die Grundlage für Fundamentalismus, Intoleranz und nicht selten Gewalt. In der heutigen komplexen Welt, in der alles mit allem zusammenzuhängen scheint und Orientierung schwer fällt, sind solche Aufteilungen in Gut und Böse attraktiv. Allerdings ist auch die Gegentendenz gefährlich, die Relativierung von Allem und Jedem.

 

Zwischen beiden Extremen einen Weg zu finden, ist anstrengend. Es erfordert, Zusammenhänge genau zu analysieren, Interessen zu erkennen, Propaganda zu durchschauen. Gerade die bunte Vielfalt der Bilder von Babylon, die antike Historiker wie Herodot, biblische Autoren, die Maler und Schriftsteller vieler Jahrhunderte und nicht zuletzt die Babylonier selbst auf ihren Tontafeln hinterlassen haben, lädt ein zu einer gründlichen und möglichst vorurteilsfreien Beschäftigung mit einer Stadt, die auf vielfältige Weise das mit beeinflusst hat, was wir als „moderne Zeiten“ ansehen. Babylon zu verstehen, hilft deshalb auch, die Wurzeln unseres heutigen Lebens besser zu verstehen – und uns zu verabschieden von pauschalen Bewertungen, die oft nicht das Geringste mit dem zu tun haben, was einmal an den Ufern des Euphrats geschah, was gedacht und geglaubt wurde.

 

Abschied von religiösen Schwarz-Weiß-Bildern

 

Zu einer achtungsvollen Wahrnehmung des Lebens in Babylon gehört es auch, die Religion der Menschen zu achten. Wenn wir heute die pauschale Diffamierung traditioneller Religionen durch viele europäische Missionare kritisch betrachten und einen interreligiösen Dialog für unverzichtbar halten, können wir dann eine fremde Religion im alten Orient pauschal negativ darstellen und bewerten, ohne uns näher mit ihr zu beschäftigen? Wie in diesem Buch dargestellt, war der Glaube der Babylonier keineswegs „primitiv“, und es ist lohnend, sich mit dieser Religion zu beschäftigen. Das hat auch eine aktuelle Bedeutung. US-amerikanische Truppen hätten mit Sicherheit nie die Via Dolorosa in Jerusalem mit ihren Panzerketten platt gemacht, während sie offenkundig nicht zögerten, dies mit der Prozessionsstraße in Babylon zu tun. Wir lernen erst allmählich, auch bedeutenden Orten anderer Religionen aus früherer Zeiten mit Achtung zu begegnen. Es geht im Kern um die Frage, ob wir Gottes Wirken auch in anderen Religionen wahrnehmen können oder auch nur wahrnehmen wollen. Wir können uns an dem sehr frommen Dichter Matthias Claudius orientieren, der über die asiatischen Religionen äußerte: „Alle sind übermenschlichen Ur­sprungs und durch ein himmlisches Wesen geoffenbart und mitgeteilt worden.“[4]

 

Ein solches Verständnis anderer Religionen war in biblischen Zeiten nicht selbstverständlich und ist es heute auch nicht. Aber es kann die Grundlage für ein Miteinander der Religionen bilden, die unsere Welt dringend nötig hätte. Auch für die theologische Beschäftigung mit Babylon und dem Glauben der Babylonier kann das gelten, was Professor Stefan M. Maul für die Übersetzungsarbeit der Altorientalistik formuliert hat: „Unsere große Aufgabe liegt darin, die anderen, uns zunächst fremden Formen des Ausdrucks zu erkennen und zu verstehen. Nur ehrfürchtiger Respekt, Offenheit, genaues Hinsehen und große Sachkenntnis werden es uns ermöglichen.“[5]

 

So, wie wir uns vor einigen Jahrzehnten vom Schwarz-Weiß-Fernseher verabschiedet haben, sollten wir uns endgültig von Schwarz-Weiß-Bildern verabschieden, um eine immer komplexere Welt der Religionen und deren Wurzeln zu verstehen und zu interpretieren. Das meiste in dieser Welt ist grau oder im günstigen Falle bunt. Die Befürchtung, „das wird mir nun aber zu bunt“, kann uns dazu verleiten, auf einfache Schwarz-Weiß-Bilder zurückzugreifen, um die Welt in Gut und Böse, in „Wir“ und „die Anderen“ zu unterteilen. Religiösen Fundamentalisten gelingt es perfekt, die Welt auf diese Weise zu sortieren, aber um welchen Preis? Alle anderen gewöhnen sich besser an den Gedanken, dass es keine Alternative dazu gibt, den oft mühsamen Weg des genauen Hinsehens, des Abwägens, des Verständnisses zu gehen. Dieser Weg darf nicht dazu führen, alle Übel dieser Welt so zu relativieren, dass eigener Zorn über schlimme Zustände verfliegt und eigenes Engagement unterbleibt. Aber wer die vielen Grautöne und das Bunte in dieser Welt entdeckt, der ist davor gefeit, in blinder Wut auf die Vernichtung der Anderen zu hoffen oder sogar daran mitzuwirken.

 

Gerade weil Babylon in manchen biblischen Texten mit so viel Hass und Vernichtungswünschen bedacht wird, lohnt es sich, an diesem Beispiel die vielen Grautöne und bunten Farbtupfer einer der ältesten Städte der Welt zu entdecken. Dieses Buch hat hoffentlich gezeigt, wie spannend und wie bereichernd ein solcher Prozess ist. Babylon war kein multikulturelles Paradies, aber auch kein Reich des Teufels. Es war vor allem eine Stadt, in der Menschen mit unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und religiösen Wurzeln miteinander gelebt und gearbeitet haben. Sogar einen hohen Turm haben sie fertig gestellt. Und das Ganze ist trotz aller Widrigkeiten mehr als zwei Jahrtausende lang die meiste Zeit gut gegangen. Das verdient Achtung, ohne all die Mängel und Schattenseiten zu ignorieren oder zu verschweigen.

 

Das wirkliche Leben, lernen wir gerade von Babylon, beginnt erst jenseits von Schwarz-Weiß-Bildern.

 

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Werner Keller: Und die Bibel hat doch recht, a. a. O., S. 440f.

[2] Ebenda, S. 441.

[3] Ebenda, S. 442.

[4] Zitiert nach: Peter Berglar: Matthias Claudius, Reinbek 1977, S. 120.

[5] Stefan M. Maul: Wiedererstehende Welten, Aufgaben und Möglichkeiten moderner Altorientalistik, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin, 130, Berlin 1988, S. 273.