Globalisierungs-Alternativen: die Liste unentbehrlicher Arzneimittel zum Maßstab machen

 

International werden Zehntausende Medikamente angeboten. Deshalb berief die Weltgesundheitsorganisation WHO vor drei Jahrzehnten eine Expertenkommission, um zu prüfen, welche Arzneistoffe für die Behandlung der am meisten verbreiteten Krankheiten geeignet seien. 1975 stellte der damalige WHO-Generalsekretär Hafdan Mahler fest: „Es besteht die dringende Notwendigkeit, dass die unentbehrlichen Medikamente zu verträglichen Preisen zur Verfügung stehen.“[1]

 

1977 wurde von der WHO eine erste Modell-Liste unentbehrlicher Medikamente veröffentlicht, die 208 Wirkstoffe enthielt, inzwischen sind es über 500. Auf der Grundlage der immer wieder aktualisierten WHO-Liste haben inzwischen mehr als 150 Länder eigene nationale Listen veröffentlicht. Sie dienen in ärmeren Ländern als Grundlage für den Import von den Medikamenten, die diese Wirkstoffe enthalten und preiswert sind, und verhindern, dass wertvolle Devisen für den Kauf überflüssiger oder überteuerter Mittel aufgewendet werden.[2]

 

Die Pharmaindustrie war zunächst gegenüber diesem Versuch, die Kosten für den Medikamentenkauf zu reduzieren, sehr negativ eingestellt, akzeptiert die Listen aber inzwischen – jedoch nur als Mittel, um die Ärmsten zu versorgen, die mangels Kaufkraft ohnehin keine potenziellen Kunden der Pharmaunternehmen sind. Demgegenüber wird sie für den nationalen und internationalen Arzneimittelmarkt weiterhin abgelehnt. Deutschland gehört nicht zufällig zu den Ländern ohne eine Liste unentbehrlicher Arzneimittel, denn die Pharmalobby ist hier besonders einflussreich. Sie konnte sogar die abgemilderte Form einer solchen Liste, eine sogenannte „Positivliste“, bisher verhindern. Unvergessen ist der 60. Geburtstag des Hauptgeschäftsführers des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, Hans-Rüdiger Vogel. Als besonderes Geschenk überreichte damals, Mitte der 90er Jahre, Baldur Wagner, mit herzlichen Grüßen von Minister Horst Seehofer einen Plastiksack mit den geschredderten Überresten der Positivliste als Geburtstagsgeschenk.[3]

 

Mit dieser Kapitulation war der Versuch gescheitert, mit einer Liste medizinisch wirksamer und wirtschaftlicher Medikamente die Kostenexplosion der Medikamente in Deutschland zu stoppen. Die Krankenkassen geben jedes Jahr fast 20 Milliarden für Arzneimittel aus, hinzu kommen die Ausgaben der Patienten selbst. Wer sich mit dieser Branche anlegt, muss mit massivem Druck rechnen. So bleibt abzuwarten, ob die jetzige Regierung es schafft, eine Positivliste durchzusetzen. Allerdings sind die hohen Arzneimittelpreise schlicht nicht mehr von den Krankenkassen zu bezahlen – so unähnlich sind die deutschen Probleme strukturell nicht von den Problemen eines Landes wie Mali oder Kenia, nur eben auf einem höheren Niveau.

 

Albert Petersen, der sich im DIFÄM primär mit Fragen der Medikamentenversorgung im Süden der Welt befasst, stellte in einem Arbeitspapier fest: „Die Kosten für Arzneimittel werden auch in Deutschland zunehmend zu einem ernsten Problem. Eine kritische öffentliche Diskussion über den Nutzen mancher Präparate ist deshalb angebracht.“[4]

 

Außerdem geht er in seinem Papier auf die „Compliance“ von Pharmaindustrie, Ärzten und Apothekern ein, die sich zum Beispiel bei der Finanzierung von Fortbildungsveranstaltungen durch die Industrie zeige, während kritische Informationen, wie sie zum Beispiel von der WHO kommen, kaum bekannt werden.[5]

 

In vielen europäischen Ländern von Griechenland bis Schweden gibt es inzwischen Listen unentbehrlicher Arzneimittel, und vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Medikamente in Deutschland so unbezahlbar geworden sein werden, dass auch hier die Einsicht sich durchsetzt, dass solche Listen einen Sinn machen, um die Ausgaben für Medikamente zu begrenzen. In den Ländern des Südens haben die Listen der unentbehrlichen Arzneimittel positive Wirkungen, weil wenige überflüssige Medikamente importiert werden. Allerdings wirkt sich in den letzten Jahren negativ aus, dass die erwähnte Politik der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens zum Ergebnis hat, dass die Armen die Medikamente nicht mehr kostenlos erhalten und für viele selbst geringe Arzneimittelkosten nicht zu finanzieren sind.

 

Diana Smith hat als verantwortliche Redakteurin der ökumenischen Gesundheitszeitschrift „Contact“ diese Gefahren bereits 1998 so beschrieben: „Weltweit in über 120 Ländern wendet man das Essential-Drugs-Konzept an. Aber wenn die Ziele, die damit verfolgt werden, auch tatsächlich umgesetzt werden sollen, erfordert dies den Einsatz der Regierung und strenge Kontrollen ebenso wie regulierende Maßnahmen der Pharmaindustrie gegenüber. Wenn sich aber die Regierung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens immer mehr zurückzieht und sich der Markt immer mehr öffnet für ausländische Investitionen, wird die Umsetzung einer Essential-Drug-Politik noch schwieriger.“[6]

 

Ein weiteres Problem entsteht dadurch, dass Pharmaunternehmen mit einem – gemessen an den wirtschaftlichen Verhältnissen der Länder – hohen Werbeaufwand auch entbehrliche Medikamente auf den Märkten durchboxen. Deshalb spricht viel dafür, die unentbehrlichen Medikamente zentral einzukaufen, damit Preisnachlässe zu erreichen und außerdem dem Kauf von überflüssigen Medikamenten einen Riegel vorzuschieben. Dies geschieht zum Beispiel in Thailand und hat zu einer 25-prozentigen Verminderung der Arzneimittelpreise für die Krankenhäuser geführt.[7] Der Marktmacht der großen Pharmakonzerne ist das einzelne Krankenhaus oder die einzelne Gesundheitsstation hilflos ausgeliefert. Man mag auch das noch einen freien Markt nennen, aber den Patienten ist mehr geholfen, wenn Medikamente zentral beschafft und dann allerdings auch effizient verteilt werden.

 

Aus Anlass des 25jährigen Jubiläums der Liste unentbehrlicher Arzneimittel erinnerte die Generaldirektorin der WHO, Gro Harlem Brundtland, im Oktober 2002 daran, dass dies nicht nur ein technisches Konzept ist, sondern dahinter auch ein Verständnis von Gesundheit steht: „Lebenswichtige Medikamente sind keine gewöhnlichen Waren. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht. Regierungen und internationale Organisationen sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass dieses Recht in zunehmendem Maße auch tatsächlich in Anspruch genommen werden kann.“[8] Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist die Liste der unentbehrlichen Medikamente.

 

 © Frank Kürschner-Pelkmann

 



[1] Zitiert nach. Pharma-Brief, 6/20002, S. 2

[2] Vgl. Gesundheit in der Einen Welt, 4/2002, S. 14

[3] Vgl. Süddeutsche Zeitung, 1.7.2002

[4] Albert Petersen: 25 Jahre WHO-Liste der unentbehrlichen Arzneimittel, Arbeitspapier des DIFÄM, Tübingen 2002, S. 5

[5] Ebenda, S. 6

[6] Zitiert nach epd-Entwicklungspolitik, 7/2000, S. 43

[7] Vgl. DIFÄM-Jahresbericht 1999, S. 5

[8] Gro Harlem Brundtland: Access to Essential Medicines as a Global Necessity, WHO, Genf 2002, S. 4