Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Keile, die die Welt veränderten

 

Mehr als zwei Jahrtausende lang büffelten babylonische Schüler und Schülerinnen die Zeichen der Keilschrift. Mit normierten Griffeln ritzten sie die keilförmigen Zeichen von links nach rechts in feuchte Tontafeln. Anders als heutige Schriften war die Keilschrift also dreidimensional. Die beschriebenen Tafeln konnten anschließend in der Sonne getrocknet werden. Wichtige Tafeln, zu denen die Schülerarbeiten natürlich nicht gehörten, wurden in Öfen gebrannt und so wesentlich haltbarer gemacht. Aber auch die sonnengetrockneten Tontafeln erwiesen sich als so haltbar, dass sie heute noch entziffert werden können. Die meisten Tontafeln waren so klein, dass sie in einer Handfläche Platz hatten. Es gab aber auch Tafeln von nur einigen Zentimetern oder aber einigen Dezimetern Größe.

 

Entwickelt wurde die Schrift in Mesopotamien vermutlich noch vor den ägyptischen Hieroglyphen. Die ältesten uns bekannten Keilschrifttafeln entstanden in der Zeit um 3.200 v. Chr. in der Stadt Uruk im heutigen Südirak, die damals zum Sumerer-Reich gehörte. Die Keilschrift verbreitete sich rasch im ganzen heutigen Mittleren Osten und wurde bald zum vorherrschenden Medium, um Informationen schriftlich festzuhalten und weiterzugeben. Das ermöglichte einen ökonomischen und kulturellen Sprung in der Geschichte der Menschheit. Vorher musste alles Wissen mündlich von Generation zu Generation weitergegeben werden, wobei viel verloren ging.

 

Auch Nachrichten an Herrscher oder Kaufleute in anderen Städten mussten memoriert werden. Deshalb hatte man in Mesopotamien angesichts immer komplexerer wirtschaftlicher und politischer Vorgänge nach einem Weg gesucht, Informationen zu speichern und weiterzugeben. Ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Keilschrift waren Rollsiegel. Kaufleute und Herrscher besaßen individuelle Siegel mit einfachen Abbildungen, Linien etc. Ein Siegelabdruck, der in Ton gedrückt war, bestätigte, dass eine Ware oder ein anderer Gegenstand der betreffenden Person gehörte. Ein weiterer Schritt zur Keilschrift waren „Zählmarken“, die Auskunft über die Anzahl von Gütern gaben.

 

Bald ging man dazu über, die jeweiligen Güter durch einfache Zeichnungen ebenfalls in den Ton einzuritzen. Allmählich entstand so ein größerer Kanon von Zeichen, die Tiere, Pflanzen etc. in vereinfachter Form darstellten. Was dann folgte, hat die Altorientalistin Eva Cancik-Kirschbaum so beschrieben: „Innerhalb weniger Jahrzehnte, vielleicht nicht einmal eines Jahrhunderts … wird der Bestand an Symbolzeichen systematisiert. Es kann sich dabei nicht um einen unkontrollierten Prozess gehandelt haben, denn die auf diese Weise übermittelten Informationen mussten ja verständlich bleiben. Unklar ist, wie man sich die Verständigung über ein gemeinsam zu nutzendes Zeichensystem zu denken hat, z. B. die Festlegung ihrer Form und Bedeutung.“[1]

 

Man einigte sich zunächst auf einen Bestand von etwa 1.200 Zeichen, die zur Grundlage der mesopotamischen Schriftkultur wurden. Später reduzierte man die Zahl der Zeichen auf 600. Bald war es auch möglich, mit den Zeichen abstrakte Begriffe und Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Wörter konnten zunächst lediglich mit einem Zeichen dargestellt werden, daraus entwickelten sich aber später auch Zeichen, die einer Silbe entsprachen. Es wurde nun auch möglich, unterschiedliche gesprochene Sprachen in Keilschriftzeichen wiederzugeben. Die Keilschrifttafeln erlaubten es, das ganze Wissen eines Volkes auf Tontafeln festzuhalten, sodass die folgenden Generationen die gesammelten Erkenntnisse systematisch kennen lernen und darauf aufbauen konnten.

 

Zunächst bildeten das Sumerische und das Akkadische die Sprachen, in der Keilschrifttexte verfasst wurden. Einzelne Völker wie die Hethiter entwickelten ihre eigene Keilschriftkultur. In Babylon verfasste man die Keilschrifttexte häufig auf Sumerisch und Akkadisch und das zu einer Zeit, als die Völker ausgestorben waren, die diese Sprachen im Alltag verwendet hatten. Das war kein Zufall, wie noch gezeigt werden wird, und hing aufs Engste mit dem babylonischen Wissenschaftsverständnis zusammen.

 

In Babylon und anderen mesopotamischen Städten entstanden große staatliche und private Sammlungen von Tontafeln, die von medizinischen Erkenntnissen über mathematische Berechnungen bis zu religiösen Texten alles enthielten, was die Menschen wussten und glaubten. Aber auch im Alltag von Kaufleuten, Wissenschaftlern und politischen Herrschern waren die Keile bald unverzichtbar. Quittungen und Schuldscheine wurden ebenso auf Tontafeln festgehalten wie astronomische Beobachtungen oder diplomatische Depeschen an den Herrscher des Nachbarstaates. Und dass die gut ausgebaute babylonische Bürokratie ohne die Keile möglich gewesen wäre, muss bezweifelt werden. Selbst Witze und Kochrezepte sind uns auf den Tafeln überliefert worden. Wichtige Dokumente wurden auf der Rückseite mit dem Rollsiegel des Kaufmanns oder Königs versehen, um die Echtheit zu beglaubigen.

 

Üben, üben, üben …

 

Die Keilschrift zu beherrschen, war keine einfache Aufgabe. Bis zu einem Jahrzehnt lang mussten die Schüler intensiv lernen, um sich als Schreiber zu qualifizieren. Schulen waren ebenso selten wie hoch angesehen. In den meisten Fällen versammelten sich einige Schüler jeden Morgen im Innenhof eines Privathauses, um von einem erfahrenen Schreiber unterrichtet zu werden. Nur einige Promille aller Jungen und ein noch weit geringerer Anteil der Mädchen hatte die Chance, die Keilschrift zu erlernen und sich als Schreiber ein gutes Einkommen zu sichern. Auch Kinder aus den unteren sozialen Schichten und auch ausländische Kinder hatten grundsätzlich die Chance, eine Schreiberausbildung zu absolvieren.

 

Die Anforderungen an die Schüler waren hoch. Es galt nicht nur, die Keilschrift zu erlernen, sondern auch das Sumerische und das Akkadische mussten beherrscht werden. Das Schreiben selbst wurde systematisch geübt. Zunächst wurden von den Schülern nur einfache Begriffe mit Schilfrohrgriffeln in die Tontafeln eingeritzt, danach wurden die Zeichen und der Sprachunterricht schrittweise schwieriger. Da war es günstig, dass man den weichen Ton glätten und so Fehler korrigieren konnte. Viele Tausend erhalten gebliebene Tontafeln, die von Schülern beschrieben wurden, zeugen noch heute davon, wie oft Keilzeichen eingeritzt werden mussten, bevor man sie beherrschte.

 

Um eine höhere berufliche Position erlangen zu können, waren neben den Sprachen und der Schrift auch eine breite Allgemeinbildung und die Spezialisierung auf ein Gebiet wie Buchhaltung, Heilkunde oder Religion vorteilhaft. Aber die meiste Zeit verbrachten die Schüler damit, fleißig Keilschrifttafeln abzuschreiben. Bei zu vielen Fehlern gab es Schläge, aber meist werden die Schüler still dagesessen und Keile in die Tafeln geritzt haben. Wer Karriere als Schreiber gemacht hatte, war im Tempel oder am Königshof tätig, mit weniger Talent und Fleiß reichte es nur dazu, für einen Kaufmann die Rechnungen und Mahnungen in die Tontafeln zu ritzen. Bedenkt man, dass viele Einwohner Babylons nur 40 oder 50 Jahren alt wurden, bedeutete eine zehnjährige Ausbildung eine sehr große Zeitinvestition. Dafür qualifizierte diese Ausbildung nicht nur zum Beruf des Schreibers, sondern auch für höhere Positionen in der Verwaltung, am Tempel und in der Wirtschaft. Auch finanziell war das Erlernen der Keilschrift offenbar lohnend, lesen wir doch schon in einem etwa 4.000 Jahre alten sumerischen Text: „Die Kunst des Schreibens ist ein gutes Los, das auch Reichtum und Überfluss bringt.“[2]

 

Ein Zeichen für Sünde und Strafe

 

Heutige Wissenschaftler, die die Keilschrift fließend lesen und interpretieren wollen, benötigen für den Lernprozess ebenfalls etwa zehn Jahre. Von dieser raren Spezies von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gibt es weltweit nur etwa 2.000. Sie verbringen einen erheblichen Teil ihres Lebens damit, viele Hundert Keilschrifttafeln zu übersetzen und zu deuten. Über 90.000 dieser Tafeln befinden sich heute in Sammlungen der westlichen Welt, und insgesamt sollen mehr als eine halbe Million Tafeln noch nicht entziffert worden sein. Diese Arbeit ist zeitaufwendig, sodass zum Beispiel ein Expertenteam um Professor Jursa an der Universität Wien fünf Jahre benötigte, um 7.000 Tafeln zu übersetzen und wissenschaftlich auszuwerten. Weltweit sind erst etwas mehr als 22.000 Keilschrifttafeln entziffert worden.

 

Die Übersetzungsarbeit erfordert ein tiefes Verständnis der Kultur, Religion und Weltsicht der Babylonier. Dafür gibt der Altorientalist Stefan M. Maul ein Beispiel: „So bezeichneten sie beispielsweise ‚Sünde‘, ‚moralische Schuld‘, ‚Geldschuld‘ und ‚Strafe’ mit ein und demselben Wort, das außerdem noch die Konnotation von ‚Krankheit‘ hat. Die Übersetzung, die oft unreflektiert unsere eigenen Vorstellungen auf die fremde Kultur überträgt, kann nur einen ersten Einstieg in tieferes Verständnis liefern. Verstanden haben wir erst, wenn wir das weltbildbedingte Konzept begreifen, durch das die für uns sehr unterschiedlichen Begriffe in einem einzigen verschmelzen.“[3]

 

Viele übersetzte Texte erweisen sich als Kaufverträge oder als Schreibübungen von Schülern, aber mit Geduld und Glück können die Forscher auch spannende Tafeln entziffern, deren Keile uns einen Einblick in das Alltagsleben und die politischen Verhältnisse in Mesopotamien eröffnen. Weil so viele Tafeln das Wirtschaftsleben in Gestalt von Rechnungen, Quittungen, Schuldscheinen etc. widerspiegeln, wissen wir heute sehr viel über agrarische und handwerkliche Produktion und Handelsbeziehungen in Babylon. So lässt sich nachverfolgen, wie ungemünztes Silber allmählich eine zentrale Rolle als Zahlungsmittel gewann, weil sich angesichts immer komplexerer Wirtschaftsbeziehungen der traditionelle Tauschhandel als unpraktikabel erwiesen hatte. Keilschriftexperten wie Irving Finkel vom Britischen Museum in London bedauern nach der Übersetzung vieler Hundert Tontafeln aber, dass in den Texten so wenig Privates zu finden ist. „Man findet keine persönlichen Texte, keine spontanen Liebesgedichte.“[4]

 

Die Keilschrift ermöglichte einen Evolutionssprung in der Menschheitsgeschichte, aber sie blieb schwer zu erlernen und zu interpretieren. Den Phöniziern, einem Kaufmanns- und Seefahrervolk im Gebiet des heutigen Libanon, gelang es im ersten Jahrtausend vor Christus, eine Schrift zu entwickeln, die sich leichter schreiben und lesen ließ: das Alphabet. Die neu entstandenen Lautschriften kamen mit zwei bis drei Dutzend Buchstaben aus, und so überrascht es nicht, dass Kaufleute und politische Herrscher zwischen Mittelmeer und Euphrat rasch überzeugt werden konnten, dass sich mit den Buchstaben besser arbeiten ließ als mit den Keilen. Auch die Juden schrieben ihre heiligen Bücher mit Buchstaben. Auch das Aramäische, das seit dem 1. Jahrtausend v. Chr. in der ganzen Region verstanden und gesprochen wurde, schrieb man mit Buchstaben. Die babylonische Keilschrift blieb aber noch im ersten Jh. n. Chr. in Mesopotamien in Gebrauch. Die griechischen Eroberer Mesopotamiens sorgten dafür, dass ein beträchtlicher Teil von dem Wissen, das auf den Keilschrifttafeln festgehalten worden war, in eine alphabetische Schrift übertragen wurde. Das eröffnete ihnen vor allem den Zugang zum mathematischen und astronomischen Wissen der Babylonier, eine wichtige Grundlage der griechischen Wissenschaft.

 

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 


[1] Eva Cancik-Kirschbaum: Die Keilschrift, in: Babylon Wahrheit, a. a. O., S. 343.

[2] Zitiert nach: Stefan J. Maul: Das Band zwischen allen Dingen – Wissenskultur und Weltbild im Alten Orient, in: H. Gebhardt/H. Kiesel (Hrsg): Weltbilder, Heidelberger Jahrbücher 47, Heidelberg 2003, S, 97.

[3] Stefan M. Maul: Wiedererstehende Welten, Aufgaben und Möglichkeiten moderner Altorientalistik, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin, 130, Berlin 1998, S. 273.

[4] Zitiert nach: Tom Chivers: Irving Finkel: reader of the lost Ark, The Telegraph, London, 19.1.2014.