Wasserträger – hoffentlich ein Beruf ohne Zukunft

 

„Hummel, Hummel! – Mors, Mors!“ lautet der deftige Schlachtruf traditionsbewusster Hamburger. Kaum jemand weiß, dass dies eigentlich das Motto einer verfehlten städtischen Wasser­versorgungspolitik ist. Denn die reiche Kaufmannsstadt Hamburg wurde über Jahrhunderte von „Pfeffer­säcken“ (wie die Kaufleute spöttisch genannt wurden) regiert, und die wollten staatliche Ausgaben und Steuern möglichst niedrig halten. Also wurde die Wasserversorgung der Privatinitiative überlassen. Vom 14. Jahrhundert an bildeten wohlhabende Kaufmannsfamilien so genannte „Interessentschaften“. Sie ließen hölzerne Rohrleitungen bauen, durch die das Wasser von Quellen außerhalb der Stadtwälle zu ihren Häusern transportiert wurde. Für alle, die genügend Geld hatten, war dies eine ideale Wasserversorgung: reines Quellwasser in fast unbegrenzter Menge.

 

Was aber taten die, denen das Geld für die Beteiligung an einer solchen „Interessentschaft“ fehlte? Die Armen schöpf­ten das Wasser aus den ­Fleeten, eine sehr ungesunde Angelegenheit, denn in diesen Alsterarmen und Kanälen landeten auch die Abwässer der Stadt. Verschiedene Cholera­epide­mien, zum Beispiel die von 1831, wurden durch diese Form der Wasser­versorgung verursacht. Wer wenigstens etwas Geld erübrigen konnte, der ließ sich sauberes Trinkwasser von einem Wasserträger ins Haus bringen.

 

Einer dieser Wasserträger war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Johann Wilhelm Bentz (1787–1854). Er soll ein etwas griesgrämiges ­Orig­i­nal gewesen sein, und Hamburger Kinder begannen, ihn mit dem Ruf „Hummel, Hummel!“ zu necken. Das war eine Ab­wandlung der Bezeichnung „Hummer“, mit der Gerichtsdiener in der Stadt bedacht wurden, weil sie verdächtigte Bürger wie Hummer aufgriffen. Da Bentz zwei schwere Eimer an einer „Tracht“ (einer Art Joch) trug, konnte er die Kinder nicht vertreiben, und beantwortete die ewigen Neckereien mit dem Ausruf „Mors, Mors!“. Der Mors ist auf Plattdeutsch der Hintern, und Bentz verkürzte mit seinem Ausruf den Spruch „Klei mi an Mors“, was dem Götz von ­Berlichingen-Zitat recht nahe kommt.

 

Bentz soll über die Wortwechsel mit den Jungen gesagt haben: „Jä, ick kann dat nich loten, ick mutt nu mol dat letzte Wort hebben! De Krieg mit de Jungs duert nu all’n lange Tied, und ick gleuw, he duurt noch öber mien Grav rut!“ Über sein Grab hinaus hat der „Krieg“ mit den Jungen nicht gedauert, aber doch so lange, dass Bentz das bekannteste Original der Stadt wurde. Wenigstens eine Anekdote über den berühmten Wasserträger soll hier erzählt werden. Einige Bürger der Stadt nahmen Anstoß an den lautstarken Wortwechseln zwischen Bentz und den Kindern. Sie beschwerten sich bei der Obrigkeit, und der Wasserträger wurde von einem Senator vorgeladen. Nach Vorhaltungen und dem Versprechen der Besserung ging das Gespräch zu Ende, und der Senator wollte den Gast verabschieden. In diesem Augenblick fiel ihm der Familienname des Wasserträgers nicht ein, und deshalb sagte er ihm an der Tür: „Hummel, Hummel“. Bentz behielt wieder einmal das letzte Wort und rief im Hinausgehen: „Mors! Mors! Herr Senator!“

 

Johann Wilhelm Bentz und die anderen Wasserträgerinnen und Wasserträger wurden für ihre schwere Arbeit schlecht bezahlt, denn die Konkurrenz unter den Trägern war groß und die finanzielle Lage ihrer Kunden nicht gut. So ­musste Bentz oft lange mit dem Ruf „Woter! Woter!“ durch die Straßen ziehen, bis er Kunden für sein Wasser gefunden hatte. Manche Wasserträger verminderten ihren Zeitaufwand da­durch, dass sie das Wasser heimlich aus den Fleeten statt von den weiter entfernten Quellen oder Brunnen holten. Es gab auch viele Wasserträgerinnen. Die Berühmteste von ihnen war Mutter Blohm, die noch als alte Frau die Eimer voll Wasser über schmale Treppen auch in die obers­ten Etagen schleppte. Ihr Wahlspruch lautete: „Langsam un wiß!“ – lang­sam, aber sicher.

 

Die Wasserversorgung in Hamburg blieb bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts in diesem desolaten, aber für Leute wie Bentz immerhin etwas einträglichen Zustand. Als 1842 ein Brand ausbrach, zeigte sich ein weiterer Nachteil dieser privatisierten Versorgung. Es fehlte nämlich an Löschwasser, und die Holzleitungen der privaten Wasserversorger wurden rasch ein Opfer der Flammen. Nachdem ein großer Teil der Innenstadt niedergebrannt war, gab es im Rahmen der Wiederaufbaupläne der Stadt lebhafte Debatten darüber, ob die Wasserversorgung in privater Hand bleiben sollte. Der aus England stammende Ingenieur David Lindley trat erfolgreich für eine öffentliche Wasserversorgung ein.

 

Mit der Eröffnung der „Stadt-Wasserkunst“ verlor allerdings Johann Friedrich Bentz seine Arbeit als Wasserträger. Die Reichen und Wohl­habenden erhielten private Anschlüsse, andere Bürger konnten sich aus Gemeinschaftswasserhähnen bedienen. Zwar wurden die Armenviertel kaum mit Wasserhähnen bedacht, aber die Bewohner fielen als Kunden für den Wasserträger aus, weil sie selbst so arm waren wie Bentz. Der Wasserträger hatte seine Schuldigkeit getan und starb wenige Jahre später in einem „Werk- und Armenhaus“ der Stadt. Er wurde auf Kosten der Allgemeinen Armenanstalt beerdigt.

 

Eine späte Ehrung hat er dann doch noch erfahren. In der Hamburger Neustadt wurde in den 1930er Jahre ein „Hummelbrunnen“ mit einem Standbild des berühmten Wasserträgers gebaut, in jener Gegend, in der Wilhelm­ Bentz mit dem Ruf „Woter! Woter!“ durch die Straßen gezogen war. Vor allem aber ist Hummel in vielen Geschichten und Beschreibungen in Erinnerung geblieben. Eine Zeitgenossin, Emilie Weber, hat Bentz in ihren „Jugenderinnerungen“ so beschrieben: „Er war ein Wasserträger, ein unschädlicher, harmloser Gemütskranker. Er ging immer mit seiner Tracht auf dem Rücken und schlenkerte mit seinen beiden Eimern hin und her. Diese Bewegungen begleitete er mit lautem Gesang, und es kümmerte ihn wenig, ob er dabei die Hälfte des Wassers verschüttete. Hochvergnügt zog er durch die Straßen, begleitet und geneckt von unserer lieben Straßen­jugend.“

 

Die Wasserträger Asiens und der Arabischen Welt

 

Auch in Asien gibt es eine lange Tradition, dass wohlhabenden städtischen Familien das Wasser von Trägerinnen und Trägern ins Haus gebracht wurde. Für diesen Zweck verwendeten sie meist Ledersäcke. In Südasien gab es in den Städten viele Familien, die den Beruf des Wasserträgers von einer Generation zur nächsten weitervererbten. Die Wasserträger waren in Berufsgilden ­organisiert, und ihre Tätigkeit genoss ein gewisses soziales und religiöses Ansehen.

 

Jürgen Frembgen schreibt in dem Sammelband „Wasser in Asien“ über die Wasserträger: „Der Dienst der ‚Mashki‘ an sich wird sehr geschätzt, aber da Leder als ‚unrein‘ gilt, verschaffen ihm die Handhabung eines ledernen Sacks und besonders die Tätigkeit des Lastentragens ein niedriges Berufsprestige. Überall im islamischen Orient und in Südasien ist der Transport von Wasser in metallenen oder irdenen Gefäßen eine typische Mädchen- und Frauentätigkeit, die für Männer als entehrend gilt.“ Mit der Modernisierung der asiatischen Städte war das Verlegen von Wasserleitungen verbunden, und so haben die meisten Wasserträger ihre Aufgabe verloren. Außerdem gibt es die Konkurrenz der Tanklastwagen, die große Mengen Wasser in die Städte bringen.

 

Die schwere Last der afrikanischen Wasserträgerinnen und Wasserträger

 

Aber es gibt sie weiter, die Träger des Wassers, zum Beispiel in der tansanischen Hafenstadt Dar es Salaam, wo sie mit Karren unterwegs sind. In einer Studie der in London ansäs­sigen Entwicklungsorganisationen „WaterAid“ und „Tearfund“ über die Wasserversorgung der Stadt wurde ausführlich analysiert, wie die Was­serträger der Stadt arbeiten. Diese Männer werden „wauza maji wa mikokoteni“ genannt, was übersetzt Wasserhändler mit Handkarren bedeutet. Wie einst Johann Wilhelm Bentz liefern sie denen Wasser, die nicht an ein Leitungsnetz angeschlossen sind, aber genug Geld haben, um Wasser zu kaufen. Angesichts des desolaten Zustands der öffentlichen Wasserversorgung in Dar es Salaam gibt es viele Tausend Kunden – aber auch zahlreiche Wasserverkäufer. Das drückt den Preis.

 

Der Wasserverkäufer Hemedi Ali berichtete den Autorinnen und Autoren der Studie, dass er sein Wasser von einer Familie kauft, die einen öffentlichen Wasseranschluss besitzt. Für jeden Kanister zahlt er 20 Shilling und verkauft das Wasser anschließend für 100 Shilling. Das klingt nach einer hohen Gewinnspanne. Aber 100 Shilling sind umgerechnet gerade einmal 0,10 US-Dollar. Und Hemedi Ali verkauft pro Tag nur zwischen 18 und 24 Kanister Wasser im Armen­viertel Temeke. Netto kommen bei dieser Tätigkeit nicht mehr als etwa 2 US-Dollar am Tag heraus. Und dabei geht es ihm noch relativ gut, weil er einen eigenen Karren besitzt. Mehr als die Hälfte der Wasserhändler muss sich Karren mieten. Das kostet weitere 500 Shillings am Tag, einen halben US-Dollar. Als Wasserverkäufer wird man in Dar es Salaam nicht reich, sondern kann eben gerade von den Einnahmen leben. Hemedi Ali stellt seine Situation so dar: „Jeden Tag muss man früher anfangen, um viele Kunden zu finden, denn es gibt morgens einen größeren Bedarf als nachmittags. Ich beginne um 6 Uhr morgens damit, Wasser zu meinen fünf regelmäßigen Kunden zu bringen. Um 9.30 Uhr muss ich dann versuchen, weitere Kunden zu finden.“

 

Und wie im Hamburg des 19. Jahrhunderts ist dies ein Geschäft ohne Zukunft. Nachdem die Wasserversorgung von Dar es Salaam privatisiert wurde, flossen Entwicklungshilfegelder, um diese Privatisierung zu einem Erfolg zu machen. Und das sollte es ermöglichen, das Leitungsnetz auszubauen und mehr Menschen zu versorgen. Aber die Privatisierung scheiterte kläglich. Nun steht der öffentliche Wasserversorger vor der Aufgabe, Wasser für alle zu liefern. Das wäre gut für die meisten Bürger, aber schlecht für Hemadi Ali und seine Kollegen: „Was uns angeht, sind wir zufrieden mit den Wasserproblemen der Stadt, denn sie ermöglichen uns ein Überleben.“

 

Noch floriert das Geschäft. Die arme Vorstadt Temeke hat 1,3 Millionen Einwohner, es gibt nur wenige Wasseranschlüsse und drei Viertel der Familien bezieht ihr Wasser von Hemadi Ali und seinen Kollegen. Etwa 4.000 Wasserverkäufer soll es allein in Temeke geben. Sie fürchten nicht nur den Bau von Wasserleitungen, sondern auch jeden Regen, denn dann fangen viele Familien das Wasser auf und der Umsatz der Wasserverkäufer sinkt. Die Kunden der Wasserverkäufer müssen für das kostbare Nass sehr viel mehr zahlen als für Wasser aus der Leitung. Das Wasser ist für die Armen also viel teurer als für diejenigen, die in den wohlhabenden Vierteln schon längst einen Wasseranschluss besitzen. So gibt es keine Alternative zum Ausbau des Leitungsnetzes und  effektiv arbeitenden öffentlichen Wasserversorgern.

 

In vielen ländlichen Gebieten in Afrika sieht man lange Kolonnen von Frauen und Mädchen, die Eimer oder Plastikkanister voll Wasser auf dem Kopf tragen und ein- oder mehrmals am Tag viele Kilometer zurücklegen, um das kostbare Nass aus Flüssen oder Brunnen nach Hause zu tragen. Viele ältere Mädchen müssen den Schulbesuch beenden, um ihre Mütter bei dieser in jeder Hinsicht belastenden Tätigkeit zu entlasten. Jede Investition in die ländliche Wasserversorgung ist deshalb eine wirksame Form der Mädchen- und Frauenförderung. Wenn die letzte Wasserträgerin und der letzte Wasserträger die Eimer abstellen, ist dies ein großer Erfolg auf dem Weg zu einer umfassenden Entwicklung.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann