Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

An den Ufern des Euphrats: Fluten, bewässerte Felder und ein Epos

 

Die Stadt Babylon wäre ohne die Lage am Euphrat nie zur Großstadt geworden. Der Fluss strömte durch das Stadtgebiet, und das Flusswasser diente auch dazu, die Wassergräben der Verteidigungsanlagen der Stadt zu füllen. Allerdings: Das Wasser war nicht nur ein Segen, sondern immer wieder auch eine Bedrohung. Angesichts der   Überflutungsgefahr wurden viele Gebäude in Babylon etwas erhöht auf Hügeln und kleinen Erhebungen errichtet, die durch die Einebnung der Überreste früherer Lehmbauten entstanden.

 

Auch die jüdischen Verfasser der biblischen Texte im babylonischen Exil könnten von der Bedrohung durch Flutwellen gewusst haben, lesen wir doch in Jesaja 14,22-23 als göttliche Warnung: „Und ich will über sie kommen, spricht der HERR Zebaoth, und von Babel ausrotten Name und Rest, Kind und Kindeskind, spricht der HERR. Und ich will Babel machen zum Erbe für die Igel und zu einem Wassersumpf und will es mit dem Besen des Verderbens wegfegen, spricht der HERR  Zebaoth.“

 

Herodot berichtet von Flussregulierungsmaßnahmen in Babylon, die ergriffen wurden, um der Gefahr von Flutkatastrophen zu begegnen: „Ferner hat sie an beiden Flussufern Dämme aufgeschüttet, die eine ganz erstaunliche Größe und Höhe haben.“ Außerdem wurde oberhalb von Babylon ein großer Euphrat-Stausee angelegt, der mit Steinmauern eingefasst war. In diesen Stausee konnte überschüssiges Wasser, das die Stadt bedrohte, abgeleitet werden. Es war sogar möglich, kurzfristig das gesamte Euphratwasser dorthin zu leiten, sodass der Flussabschnitt im Stadtgebiet trocken fiel und es zum Beispiel möglich wurde, die Pfeiler für eine Steinbrücke mitten im Flussbett zu errichten. Die Brücke bot anschließend eine bequeme Möglichkeit, die Stadtviertel auf beiden Seiten des Flusses zu erreichen, ohne auf Fähren angewiesen zu sein.

 

Daneben ermöglichte das Euphratwasser im weiten Umkreis der Stadt eine intensive Bewässerungslandwirtschaft. Ein Netz von Kanälen versorgte Felder, Dattelpalmhaine und Gemüsegärten mit Wasser. In Mesopotamien konnten wie erwähnt größere Städte wie Babylon erst entstehen, als es gelungen war, die landwirtschaftliche Produktivität so stark zu erhöhen, dass die Bauernfamilien deutlich mehr erzeugten, als sie selbst benötigten, und die Mehrproduktion an eine Stadtbevölkerung verkauften. Ausschlaggebend dafür war an Euphrat und Tigris das Entstehen einer Bewässerungslandwirtschaft.

 

Herodot schrieb über den Anbau von Korn: „Man bewässert es vom Fluss her, sodass es reift und gedeiht, doch nicht wie in Ägypten, wo man den Fluss über die Felder treten lässt, sondern indem man das Wasser mit der Hand und durch Schöpfwerke über die Felder hingießt. Ganz Babylonien ist wie Ägypten von Gräben durchzogen.“ Kein Land, berichtet Herodot, eigne sich so gut für den Getreideanbau wie Babylonien. Es trage zweihundertfältige Frucht, zweifellos eine Übertreibung, aber eine Übertreibung, die zeigt, wie beeindruckend die babylonische Landwirtschaft war. Die Judäer, die nach Babylonien verschleppt wurden, werden es ähnlich empfunden haben. Die meisten von ihnen kannten nur den Regenfeldbau, wie er in  Palästina üblich war. Er barg große Risiken, denn wenn der Regen zur rechten Zeit ausblieb, fiel die Ernte aus, mit katastrophalen Folgen für die ganze Bevölkerung.

 

Der Euphrat, der durch Babylon floss, diente auch für den Transport von Lehmziegeln und vielen anderen Gütern auf großen Lastkähnen. Diese Transporte waren unerlässlich für den Ausbau der Stadt und die regelmäßige Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Herodot berichtet über eine originelle Form des Schiffstransports von Waren vom Oberlauf des Euphrats nach Babylon. Die Boote, erfahren wir, waren kreisrund und mit Leder bezogen: „In Armenien, dem Oberland von Assyrien, schneiden sie Schiffsrippen aus Weidenholz und umkleiden sie mit Häuten ... (sie) machen das Fahrzeug rund wie ein Schild, stopfen es dann innen mit Stroh aus und lassen es, nachdem es seine Ladung erhalten, den Strom hinuntertreiben.“

 

Diese Boote führten nach Herodot jeweils einen Esel mit an Bord. Wenn die Boote in Babylon eingetroffen waren und die Ladung verkauft war, machten die Schiffer auch die Schiffsrippen und das Heu zu Silbergeld, luden die Tierhäute auf die Esel und kehrten auf dem Landweg in ihre armenische Heimat zurück. In der babylonischen Geschichte von der großen Flut, die gleich erzählt wird, retteten sich interessanterweise die überlebenden Menschen und Tiere auf ein kreisrundes Boot, das natürlich wesentlich größer war als die Gefährte, von denen Herodot berichtet, aber eine ähnliche Schiffbautechnik aufwies.

 

Im Buch Sirach wird deutlich, wie stark der Wasserreichtum an Euphrat und Tigris die jüdische Bevölkerung im Exil beeindruckt hat. Es wird von Gott gesagt, dass er die Weisheit fließen lässt wie den Tigris im Frühling, und der Verstand „überströmt“ wie der Euphrat (vgl. Sirach 18,34-36). Auch kann daran erinnert werden, dass durch den Paradiesgarten, in dem Adam und Eva in einer biblischen Schöpfungsgeschichte lebten, der Euphrat und der Tigris flossen (vgl. 1. Mose 2). Auffällig ist zudem, welch große Rolle Wasser in jenen Büchern der Bibel einnimmt, die in Babylon entstanden oder dort stark bearbeitet wurden, also vor allem die fünf Bücher Mose und verschiedene Prophetenbücher.

 

Mit Keilen auf der Spur der großen Flut

 

Dürren und Flutkatastrophen bedrohten immer wieder die Bewohner des antiken Mesopotamien. Und das erklärt, warum in Mythen erzählt wurde, wie das menschliche Leben durch große Fluten beinahe vollständig ausgelöscht wurde. Am berühmtesten ist das Gilgamesch-Epos, das in der heute bekannten Form etwa 1250 v. Chr. aufgeschrieben wurde. Das Epos wurde in Babylonien und benachbarten Ländern immer neu erzählt und war ein Schlüsseltext, um babylonische Vorstellungen vom Miteinander von Göttern und Menschen von einer Generation zur nächsten weiterzugeben. Es kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Verfasser der biblischen Noahgeschichte dieses Epos kannten und sich von ihm inspirieren ließen.

 

Wieder entdeckt wurde das Gilgamesch-Epos von George Smith, einem Autodidakten auf dem Gebiet der Altorientalistik, dessen Lebensgeschichte fast so tragisch   endete wie diejenige der meisten Menschen in der großen Flut des Epos. Der 1840 geborene George Smith wuchs in armen Verhältnissen in London auf und musste schon mit 14 Jahren die Schule verlassen, um in einer Druckerei zu schuften. Er entwickelte ein großes Interesse an Assyriologie und Archäologie, und deshalb verbrachte er seine ganze Freizeit im Britischen Museum.

 

Dort half er den Wissenschaftlern, zerbrochene Tontafeln mit Keilschriftzeichen wieder zusammenzufügen. Unter Tausenden Bruchstücken, die in Ninive gefunden worden waren, konnte George Smith auf geniale Weise jene Stücke finden, die zu einer ursprünglichen Tontafel gehört hatten. Das Museum stellte ihn schließlich für diese Tätigkeit ein, aber arrogant, wie die damaligen Wissenschaftler waren, zahlte man George Smith für seine wichtige Tätigkeit einen Lohn, der kaum höher war als derjenige einer Reinigungskraft des Museums. George Smith gab nicht auf und erwarb zusätzlich autodidaktisch die Fähigkeit, babylonische Keilschrifttexte zu verstehen und zu übersetzen. Er nutzte seine neu erworbenen Kenntnisse vor allem dafür, nach Texten zu suchen, die eine Bedeutung im Hinblick auf biblische Themen hatten.

 

Und dann kam der 3. Dezember 1872. Die britische „Society of Biblical Archaeology“ lud zu einem Vortrag in das vornehme Londoner „Mayfair Hotel“ ein. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt, und selbst Premierminister William Gladstone war erschienen, denn der „Daily Telegraph“ hatte vorab berichtet, dass eine Sensation zu erwarten war. An das Rednerpult trat George Smith. Er berichtete über einen Fund, der das Verständnis biblischer Texte grundlegend verändern sollte. Er trug vor, dass er das Fragment einer Tontafel übersetzt und darauf einen Ausschnitt einer mehr als 3.000 Jahre alten babylonischen Geschichte gefunden hatte, die ohne Zweifel der Sintflutgeschichte in der Bibel ähnelte. Es ging in dem Fragment um eine Flut, ein Schiff und einen Vogel, der ausgeschickt wurde, um trockenes Land zu finden. Das Publikum war begeistert von dieser Entdeckung. Premierminister Gladstone erhob sich, lobte George Smith und nannte ihn sogar „den Stolz dieses Landes“.

 

Die Redaktion des „Daily Telegraph“ witterte die Chance für eine neue große Story. Einige Jahre vorher hatte die Tageszeitung die Expedition von Henry Morton   Stanley nach Ostafrika finanziert, wo er den als verschollen geltenden Forscher David    Livingstone am Tanganjikasee „entdeckt“ und der Zeitung exklusive Berichte über Expedition und glückliche Begegnung geliefert hatte. Nun sollte George Smith, vom „Daily Telegraph“ ausgestattet mit 1.000 Pfund, die fehlenden Tontafeln des babylonischen Epos in Ninive finden, dort, wo britische Archäologen bereits größere Mengen Tontafeln und Tontafelbruchstücke babylonischer Texte ausgegraben hatten.

 

Zwar war David Smith wegen fehlender Arabisch- und Türkischkenntnisse nicht gut auf ein solches Vorhaben vorbereitet und verfing sich prompt für Monate in den Fallstricken der Bürokratie des Osmanischen Reiches, aber schließlich erreichte er doch Ninive. Er begann sofort mit der Suche nach den fehlenden Tontafeln. Und wieder hatte der als Archäologe vollkommen unerfahrene George Smith großes Glück. Er fand nach wenigen Tagen, am 14. Mai 1873, mehrere zerbrochene Tafelfragmente, deren Inhalt zu der Tafel zu passen schien, die er in London entziffert hatte. Er ahnte nicht, dass diese Tontafeln aus einem sehr viel älteren mesopotamischen Epos stammten.

 

Leider beging der unerfahrene George Smith in seiner Begeisterung dann auch noch den Fehler, der Redaktion des „Daily Telegraph“ in einem Telegramm von seinem Fund zu berichten. In London war man der Auffassung, diese Funde reichten aus für eine auflagesteigernde exklusive Story, und George Smith wurde umgehend nach London zurückbeordert. Er konnte später mit bescheidenen Mitteln noch zwei Mal nach Ninive reisen und übersetzte in den Zeiten dazwischen mit großer Emsigkeit die mitgebrachten Keilschrifttexte. Aber bei seiner dritten Reise erkrankte er während der Ausgrabungsarbeiten und starb am 19. August 1876 im Alter von nur 36 Jahren. Sein großer Beitrag zur Assyriologie ist lange Zeit von der Fachwelt kaum gewürdigt worden.

 

Gilgamesch: Ein König legt sich mit den Göttern an – und wird weise

 

Inzwischen sind mehrere Versionen des Epos gefunden und übersetzt worden, die nicht vollständig und nicht vollkommen identisch sind. Sie erlauben es aber, die alte Geschichte neu zu erzählen. Hauptperson ist der König Gilgamesch, den es in der mesopotamischen Geschichte tatsächlich gegeben hat. Er regierte wie erwähnt um das Jahr 2750 v. Chr. die Stadt Uruk, geht aus den Königslisten dieser Stadt hervor. Wahrscheinlich gehörte er zu den bedeutenderen Königen von Uruk, und vielleicht wurde die mehr als neun Kilometer lange Stadtmauer tatsächlich während seiner Regierungszeit errichtet, wie es im Gilgamesch-Epos überliefert wird. Dieses Epos entstand etwa im 18. Jh. v. Chr. und baute auf noch älteren Vorläufergeschichten auf.[1] Es ist damit eine der ältesten literarischen Überlieferungen der Menschheit.

 

Dem Epos ist zu entnehmen, dass Gilgamesch zunächst ein despotischer Herrscher war, der nicht nur seine Untertanen drangsalierte, sondern sich auch mit den Göttern anlegte. Um ihn in seine Schranken zu weisen, sandten die Götter deshalb Enkidu, einen wilden Menschen, der mit den Tieren lebte, zu ihm. Der heftige Kampf zwischen Gilgamesch und Enkidu endete allerdings anders als von den Göttern erwartet: Die beiden wurden Freunde und machten sich gemeinsam auf den Weg in den Libanon, um den Hüter der Zedernwälder, Humbaba, zu töten, die Bäume zu fällen und dringend benötigtes Bauholz nach Uruk zu flößen. Ihr Vorhaben gelang, aber die Götter waren sehr verärgert, und als Gilgamesch auch noch die Avancen der Göttin Ischtar auf beleidigende Weise zurückwies, sann man im Götterhimmel auf Rache. Enkidu musste für die Untaten seines Freundes sterben, und wie von den Göttern erwartet, stürzte das Gilgamesch in tiefe Verzweiflung. Er setzte nun alles daran, wenigstens den eigenen Tod zu verhindern und suchte Rat bei Uta-napischti und seiner Frau, die als einzige Menschen die große Flut überlebt hatten und dafür unsterblich geworden waren.

 

Diese Flut bildet eine eigene Geschichte im Epos. Anlass für die Katastrophe war, dass die Götter auf Initiative des Götterkönigs Enlil beschlossen, die ganze Menschheit in einer gewaltigen Flut ertrinken zu lassen. Die Versammlung der Götter stimmte dem Plan zu, ohne sich bewusst zu machen, dass damit auch ihre Ernährung durch die Menschen zu Ende sein würde. Nur Enki (oder Ea), der Gott der Weisheit, erkannte die Folgen des Flutplans und wehrte sich ebenso entschieden wie vergeblich dagegen. Am Ende der Versammlung mussten alle Götter, auch der Gott der Weisheit, schwören, den Plan nicht an die Menschen zu verraten. Enki versuchte, das Schlimm-ste zu verhindern, ohne den Schwur zu brechen. Er versetzte Uta-napischti in den Schlaf und flüsterte ihm im Traum zu, er sollte eine Arche bauen, wobei der Gott es vermied, die drohende große Flut direkt beim Namen zu nennen. Der Gott gab Uta-napischti genaue Anweisungen für den Bau der Arche, in die er seine Familie und Angehörige aller Tierarten aufnehmen sollte.

 

Uta-napischti baute das Gefährt, die gleich breit wie lang sein sollte. Sie war gerade fertig gestellt, als die große Flut begann. Im Epos lesen wir: „Wie ein Schlachtengemetzel ging die Wucht der Flut über die Menschen hinweg.“[2] Alle Menschen mit Ausnahme der Familie von Uta-napischti ertranken jämmerlich. Auch all die Tiere, die nicht auf der Arche Zuflucht gefunden hatten, verloren ihr Leben. Die Flut nahm so gewaltige Ausmaße an, dass selbst die Götter in Angst und Schrecken versetzt wurden, gingen in der Flut doch auch ihre Wohnstätten auf der Erde verloren. Nun waren, so wird in dem Epos erzählt, die Klageschreie der Götter zu hören, die Weltordnung war im Chaos untergegangen. Auch viel von dem Wissen, dass die Götter vorher den Menschen bereitwillig vermittelt hatten, ging mit der ertrinkenden Menschheit verloren.

 

Als die Flut endlich zu Ende ging und die Wasser sich verliefen, schickte Uta-napischti nacheinander eine Taube, eine Schwalbe und einen Raben aus, um herauszufinden, ob es wieder einen trockenen Fleck Erde gab. Als die Bewohner der Arche gerettet waren und ihr Gefährt verlassen konnten, brachten sie ein Dankopfer dar. Die Götter rochen den süßen Duft, und „die Götter kamen alsbald wie die Fliegen  über dem Opferspender zusammen“.[3] Endlich gab es wieder etwas zu essen.

 

Die über die Folgen ihres Beschlusses zur großen Flut erschreckten Götter verpflichteten sich, in Zukunft nie wieder der Vernichtung der ganzen Menschheit zuzustimmen. Nur der Götterkönig war verärgert, dass nun doch einige Menschen die Katastrophe überlebt hatten. Er setzte durch, dass der Tod, der bei der Flut erstmals auf die Welt gekommen war, von nun an zum Leben aller Menschen gehören sollte. Der Götterkönig persönlich machte eine Ausnahme und entrückte Uta-napischti und seine Frau in den göttlichen Bereich der Unsterblichkeit.

 

Damit war das göttliche Verdikt erfüllt, dass alle Menschen durch die Flut sterben mussten. Alle Nachfahren von Uta-napischti und seiner Frau, die ja erst nach der Flut geboren wurden, sollten sterblich sein. Nach all den Krisen war es für die Menschen in Mesopotamien hinfort von äußerst großer Bedeutung, die endlich gewonnene Stabilität im Verhältnis von Menschen und Göttern zu bewahren, was vor allem erforderte, zuverlässig dafür zu sorgen, dass die Götter mit reichlich köstlicher Nahrung versorgt wurden.

 

Uta-napischti und seine Frau genossen das Leben im „Land der Seligen“, wo Gilgamesch sie besuchte, um zu erfahren, wie die Unsterblichkeit zu erlangen war. Enttäuscht musste er feststellen, dass ihm das ewige Leben verwehrt bleiben würde. Er kehrte sterblich, aber doch um viele Erkenntnisse reicher, nach Uruk zurück. Dort regierte er weise und machte sich auch dadurch einen Namen, dass er Tempel und Heiligtümer wieder aufbauen ließ, die bei der großen Flut zerstört worden waren. Gilgamesch wurde später von den Menschen zu einem Gott der Weisheit erhoben und als solcher im Babylon von Nebukadnezar II. verehrt. Und auf den gebrannten Tontafeln wurden seine Geschichten für die Ewigkeit bewahrt und damit auch die Hoffnung, vielleicht doch den paradiesischen Zuständen vor dem Beginn der Flut wieder etwas näher zu kommen.

 

So blickten die Babylonier in ihrem Glauben und in ihrer Wissenschaft zurück auf die Zeit, als die Menschen noch nicht sterben mussten und als sie als göttliches Geschenk die ganze Fülle des Wissens und der Weisheit besaßen. Das Epos war in Babylon so beliebt, dass Keilschrift-Schüler einzelne Passagen wieder und wieder abschreiben mussten. Auch in den benachbarten Völkern wurde das Epos immer wieder erzählt und aufgeschrieben, sodass Fragmente der Geschichte auf Sumerisch, Akkadisch, Babylonisch, Hurristisch und Hethitisch erhalten geblieben sind. Wie erwähnt gibt es verschiedene Versionen – und bisher leider keine vollständige Fassung. Heute am weitesten verbreitet ist das Zwölf-Tafel-Epos, das ursprünglich etwa 3.600 Zeilen umfasst haben muss und in dem die Flutgeschichte ausführlich vorkommt.

 

Es gibt mehrere deutsche Übersetzungen, die die Faszination und literarische Qualität des Epos erahnen lassen, vor allem die neue Übersetzung von Stefan M. Maul.[4] Das Gilgamesch-Epos ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden, vom Verhältnis von Natur und Kultur, von der Freundschaft früherer Feinde, von Schwächen und Ängsten, von der Suche nach Ruhm, von den Gefährdungen menschlichen Lebens, von den Sorgen und den Hoffnungen der Menschen und nicht zuletzt von der Angst vor dem Tod.

 

Es ist deshalb ärgerlich, dass in der christlichen Kurzrezeption des Epos meist nur herablassend auf die Zeilen Bezug genommen wird, dass die Götter bei der großen Flut verängstigt waren. Auf diese Weise kann man den Gott der Juden und Christen leicht als allmächtig von den mesopotamischen Göttern abheben, und man kann ein Epos diskreditieren, das die Verfasser der biblischen Sintflutgeschichte kannten und aus dessen Bilderreichtum sie sich bedienten, um ihre eigene Geschichte von der großen Flut zu erzählen.

 

Noah, sein Kasten und das babylonische Vorbild

 

Am Anfang der biblischen Flutgeschichte steht Gottes Reue, die Menschen geschaffen zu haben, denn deren „Bosheit groß war auf Erden“ (1. Mose, 6,5). Gott entschloss sich deshalb, die Menschen von der Erde zu tilgen. Er machte eine Ausnahme: „Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn“ (1. Mose 6,8). Noah war ein frommer Mann und ohne Tadel, und deshalb sollte er mit seiner Familie gerettet werden. Auf Anweisung Gottes baute Noah einen „Kasten“, in dem er, seine Familie und einige Mitglieder aller Tierarten, die auf der Erde lebten, vor der Flut bewahrt werden.

 

Gott gab nach der biblischen Überlieferung Noah genaue Anweisungen, wie der „Kasten“ (lateinisch „arca“, oft übersetzt als „Arche“) auszusehen habe: „Mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern darin und verpiche ihn mit Pech innen und außen. Und mache ihn so: Dreihundert Ellen sei die Länge, fünfzig Ellen die Breite und dreißig Ellen die Höhe. Ein Fenster sollst du daran machen obenan, eine Elle groß. Die Tür sollst du mitten in seine Seite setzen. Und er soll drei Stockwerke haben, eines unten, das zweite in der Mitte, das dritte oben“ (1. Mose 6,14-16).

 

Oft wird die Arche als winziges Schiffchen dargestellt, aber wenn man davon ausgeht, dass in der biblischen Geschichte in ägyptischen Ellen gemessen wurde, dann handelte es sich um ein Schiff von etwa 135 Meter Länge, 23 Metern Breite und 13 Metern Höhe. Allerdings war Noahs „Kasten“ der biblischen Überlieferung nach kein schnittiges Schiff, das die Ozeane durchquerte. Es ist weder von einem Bug noch von einem Ruder noch von einem Segel die Rede. Es war nach der Überlieferung eben ein „Kasten“, der auf den Wassermassen dahindümpeln sollte.

 

Als die Arche fertig war, ging Noah mit seiner Familie an Bord, dazu ein Paar von allen Tierarten – von den „reinen“ Tieren sogar jeweils sieben Tiere. Von diesen „reinen“ Tieren würden nach der erfolgten Rettung einige geopfert werden, und so mussten zusätzliche Tiere an Bord genommen werden, damit die Art nicht aussterben würde. Kaum waren alle an Bord, so erfahren wir in der Geschichte, begann der Regen, und er dauerte vierzig Tage lang. „Und die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden“ (1. Mose 7,19). Alle Lebewesen auf der Erde ertranken, und nach 150 Tagen waren auch alle Vögel tot, die nicht im „Kasten“ Zuflucht gefunden hatten. Danach verliefen sich die Wasser auf der Erde, und die Arche konnte am hohen Gebirge Ararat anlegen. Noah öffnete ein Fenster der Arche und ließ erst einen Raben und dann eine Taube ausfliegen, um festzustellen, ob es wieder trockenes Land gab. Als schließlich eine Taube mit einem Ölblatt im Schnabel zurückkehrte, „merkte Noah, dass die Wasser sich verlaufen hätten auf Erden“ (1. Mose 8,11).

 

Noah wartete noch einige Tage und überzeugte sich dann selbst, dass die Flut zu Ende war. Auf göttliche Anweisung verließen daraufhin Noah, seine Familie und alle Tiere die Arche. Noah baute dem Herrn einen Altar und opferte einige Tiere. Und dann folgen zwei Verse, die auch immer wieder in Kindergottesdienst, Konfirmandenunterricht und Predigt zitiert werden: „Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1. Mose 8, 21-22).

 

Zwei ähnliche Flutgeschichten

 

Die Ähnlichkeiten zwischen Gilgamesch-Epos und biblischer Geschichte sind nicht zu übersehen. So gibt es in beiden Fällen ein schwimmfähiges Gefährt, in dem einige Menschen und eine größere Zahl von Tieren vor der Flut gerettet werden. Die Flutkatastrophe wird in drastischen Worten geschildert, und nach ihrem Ende werden Vögel ausgesandt, um auf diese Weise festzustellen, ob die Überflutung der Erde zu Ende ist. Es wird in beiden Geschichten ein Dankopfer dargebracht. Und in beiden Fällen hat Gott bzw. haben die Götter verkündet, sie würden eine solche verheerende Katastrophe nie mehr wiederholen.

 

Es gibt eine noch tiefere Verbindung zwischen beiden Mythen. In Verbindung mit den jeweiligen Schöpfungsgeschichten beantworten die Flutgeschichten für die jeweilige Glaubensgemeinschaft die Fragen nach dem Woher der Menschheit und danach, wie Katastrophen auf die Welt gekommen sind und in welcher Beziehung menschliches Handeln zu göttlichem Wirken steht. Zu beachten ist, dass diese beiden Geschichten keineswegs die einzigen sind, in denen Völker von großen Fluten erzählt haben. Da Naturkatastrophen und besonders Flutkatastrophen schon immer zu den Erfahrungen der Menschen in fast allen Regionen unseres Planeten gehört haben und die Furcht vor dem Untergang in den Fluten weit verbreitet war, kann es nicht überraschen, dass weltweit mehr als 250 Mythen über solche großen Fluten und ihre religiösen Ursachen existieren. Ich halte die These, sie hätten alle einen gemeinsamen Ursprung, für wenig überzeugend. Es gab keine direkten oder indirekten kulturellen und religiösen Verbindungen zwischen all den Völkern, in denen solche Mythen erzählt wurden, und auch die Geschichten selbst unterscheiden sich stark.

 

Hingegen stehen die mesopotamische und die biblische Geschichte eindeutig in einem engen Zusammenhang und weisen nicht zufällig große Ähnlichkeiten auf. Und beide Mythen erzählen nicht nur dramatische Geschichten aus einer fernen Vergangenheit, sondern vermittelten den Zuhörern auch Orientierung für das eigene Leben, weil sie verdeutlichten, wie eine gute Schöpfung in eine katastrophale Krise geriet, und wie die Menschen solche Katastrophen durch ihren Glauben und ihr Verhalten abwenden konnten. Beide Mythen erzählen, wie geradezu paradiesische Verhältnisse gestört und zerstört werden können. Das Ziel, eine solche Welt und ihre gute Ordnung wiederherzustellen, verband den Glauben der Babylonier und der Juden – aber wie dies zu erreichen war, das trennte beide Völker auf fundamentale Weise.

 

Es bestehen neben den Ähnlichkeiten eben auch gravierende Unterschiede zwischen beiden Mythen. Vor allem haben die Götter und der eine Gott verschiedene Rollen in den Geschichten. Der Gott der Juden ist allmächtig und stets der Herr des Geschehens, während babylonische Götter und Menschen aufeinander angewiesen sind und bleiben. So stürzen sich die Götter auf das geopferte Essen der überlebenden Menschen, während Gott zwar den Duft des Rauches von Noahs geopferten Tieren schätzt, aber sich nicht von den Opfertieren ernährt.

 

Auch die Gründe für die Flutkatastrophe unterscheiden sich: Während die Götter Babyloniens sich nach älteren Überlieferungen dieser Geschichte von dem ständigen lauten Lärm der Menschen gestört fühlten, war der Gott der Juden zornig über das sündige Verhalten der Menschheit. Im Gilgamesch-Epos haben die Götter unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die ganze Menschheit total vernichtet oder einzelne Menschen gerettet werden sollen, in der Bibel hat der eine Gott, der das Leben auf der Erde vernichten will, zugleich Mitleid mit Noah und sorgt für seine Rettung und die seiner Familie.

 

Trotz solcher Unterschiede hat Klaus Koch, früherer Professor für Altes Testament an der Universität Hamburg, betont, dass die Sintflutgeschichte der Bibel ihren Ursprung in mesopotamischen Sintflutmythen hat. Als historische Wurzel dieser Mythen hat er diagnostiziert: „Mesopotamien hat mit seinen beiden großen Strömen Euphrat und Tigris in frühgeschichtlicher Zeit Überschwemmungen erlebt, wie Ausgrabungen nachweisen. Diese Überschwemmungen waren natürlich nur ein regionales Geschehen. Aber die Bewohner erlebten sie als Weltuntergang.“[5] Es entstand eine Geschichte, aus der viel über göttliches Handeln, menschliche Schwäche und das Überleben dieser Erde gelernt werden kann.

 

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Juden im Exil die Leben spendende Bedeutung des Wassers in der durch raffinierte und ausgedehnte Bewässerungssysteme abhängigen Landwirtschaft der Region an Euphrat und Tigris kennen gelernt haben. Aber sie erlebten eventuell auch verheerende Flutwellen und Überschwemmungen oder hörten zumindest davon. Die jüdischen wie die babylonischen Menschen fragten sich, wie der Schöpfer oder die Götter solche Katastrophen zulassen konnten.

 

Und darauf haben sie Antworten gefunden, die in ihrer jeweiligen Religion verankert waren. Bemerkenswerterweise folgte in beiden Fällen auf die Flut nicht die Rückkehr zu paradiesischen Zuständen, sondern der alltägliche Kampf der Menschen in einer Welt, aus der das Böse nicht verbannt werden kann – und aus der die Menschen zusammen mit Gott/den Göttern einen besseren Raum zum Leben machen können. Und so werden am Ende aus den Katastrophenmythen doch Geschichten der Hoffnung.

 

Und noch eine Übereinstimmung

 

Die Suche nach den Ähnlichkeiten von Gilgamesch-Epos und Noahgeschichte führt uns noch einmal ins Britische Museum, dieses Mal zu Irving Finkel. Er beschäftigt sich als Assyrologe mit der Entzifferung der 130.000 Tontafeln und Tontafelbruchstücken des Museums aus Mesopotamien. Ein Journalist des britischen „Telegraph“ beschrieb im Januar 2014 seine Eindrücke bei einem Besuch des Forschers im Museum so:  „Finkel entspricht haargenau dem, wie man sich einen Kurator im Britischen Museum vorstellt, der sich mit antiken Schriften befasst: Er hat die Augen eines Großvaters, einen gewaltigen schneeweißen Bart, eine Mähne weißen Haares, die nur lose zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden ist, aber tatsächlich frei ist zu tun, was sie will. Wir treffen uns in seinem Büro in einem der Hinterzimmer des Museums, und dieses Büro entspricht ebenfalls auf treffliche Weise allen Klischees: Es gibt keinen Flecken Oberfläche, die nicht mit Büchern und Papieren bedeckt ist, welche zu bedenklich schwankenden Haufen aufgetürmt sind, hier und da Tontafeln und dazu   überquellende Schreibtischschubladen.“[6]

 

Seine wichtigste Entdeckung machte Irving Finkel 2009. Auf der nur 11,5 mal 6 Zentimeter großen, etwa 3.700 Jahre alten Tafel entdeckte er eine detaillierte Beschreibung für den Bauplan des schwimmfähigen Gefährts im Gilgamesch-Epos. Das kreisrunde Floß bestand aus einer stabilen Holzkonstruktion, die mit einem dicken Seil aus Palmfasern umwickelt wurde. Das Seil war laut Baubeschreibung so lang, dass es heute von London bis Edinburgh gereicht hätte. Um schwimmfähig zu werden, wurde das Floß mit Bitumen abgedichtet. Das Gefährt hatte laut Gilgamesch-Epos eine Grundfläche von etwa 3.600 Quadratmetern und so hohe Bordwände, dass ein oberes Deck eingezogen werden konnte. Geschwommen hat dieses Riesenfloß allerdings nie, schließlich handelt es sich um ein Epos, aber kleine runde Boote dieses Bautyps hat es in Babylonien gegeben, wie wir auch aus einem Bericht von Herodot erfahren haben.

 

Kopfzerbrechen bereitete dem Wissenschaftler lange Zeit die Entzifferung und Übersetzung einiger Zeilen auf der teilweise unlesbar gewordenen Rückseite der Tontafel. Aber als das Irving Finkel 2014 endlich gelang, war die Sensation groß, denn da war von der göttlichen Anweisung zu lesen, wilde Tiere „jeweils zwei, paarweise“ auf das Gefährt zu holen. Diese weitere Übereinstimmung zwischen Epos und biblischer Geschichte macht endgültig deutlich, dass die Geschichten nicht völlig unabhängig voneinander entstanden sein können. Den Verfassern des biblischen Berichtes muss das etwa ein Jahrtausend ältere Epos bekannt gewesen sein, und sie haben es in    adaptierter Form übernommen. Den jüdischen Wissenschaftler Finkel erschüttert das nicht in seinem Glauben, denn er ist überzeugt, dass die Juden „die Bibel erstellten, ein Werk, das geradezu lautstark verkündet, dass es von Menschen geschrieben wurde“.[7]

 

Nachdem er sich mehr als vier Jahrzehnte lang mit babylonischen Keilschrifttexten und mit biblischen Geschichten beschäftigt hat, ist Irving Finkel überzeugt: „Das     Judentum wurde aus seiner Umgebung herausgerissen und in einer gewaltigen, komplexen und verwirrenden Hauptstadt abgeladen, der größten Stadt des Nahen Ostens … Das Exil forderte die Judäer dazu heraus, ihre Gedanken über ihren einzigen Gott weiterzuentwickeln.“[8] Und er fügt hinzu: „Das Judentum, das wir heute kennen, wurde in Babylon als direkte Konsequenz des Exils geboren. Diese Erfahrung schuf das jüdische Volk und bildete später auch das Muster für Christentum und Islam.“[9]

 

Hat Irving Finkel für seine Entdeckungen und Interpretationen von Tontafeln mehr Dank vom Britischen Museum erfahren als George Smith vor mehr als hundert Jahren? Noch nicht, denn Irving Finkel blieb weiterhin als „assistant keeper“ tätig, was, so sagt der humorvolle Orientalist, die Leute vermuten lässt, er sei im Zoo beschäftigt.

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Den übersetzten Text des Epos und hilfreiche Erläuterungen finden Sie in: Stefan M. Maul: „Das Gilgamesch-Epos", neu übersetzt und kommentiert, München 2005.

[2] Ebenda, S. 144.

[3] Ebenda, S. 146.

[4] Ebenda.

[5] „Die Sintflut ist eine Sage”, Gespräch mit Klaus Koch, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 16.4.1999.

[6] Tom Chivers: Irving Finkel: reader of the lost Arc, The Telegraph, 19.1.2014.

[7] Interview „Meeting Irving Finkel“, The Jager File, 24.9.2010.

[8] Ebenda.

[9] Ebenda.