Mit Sven Hedin in Babylon

 

Babylon – dieser Name stand seit biblischen Zeiten für eine geheimnisvolle, vielleicht verruchte Stadt am Euphrat, deren Untergang die Propheten des Alten Testaments verkündet hatten und deren Ruinen unter Wüstensand verschwunden waren. Erst vom 19. Jahrhundert an gelang es, systematisch auszugraben und wissenschaftlich zu untersuchen, wie das historische Babylon tatsächlich ausgesehen hatte und wie seine Geschichte verlaufen war. Diese Ausgrabungen weckten auch das Interesse bekannter Reisender wie Sven Hedin.

 

1916, mitten im Ersten Weltkrieg, hat der schwedische Geograf, Forscher und Reiseschriftsteller Sven Hedin die Ausgrabungsstätte von Babylon besucht. Berühmt geworden war er schon vorher durch seine Expeditionen in die Himalajaregion, nach Zentralasien, Indien, Tibet und China. Seine spannenden Reisebücher eröffneten vielen europäischen Leserinnen und Lesern einen ersten Zugang zu fremden Welten. Auch das Buch „Bagdad, Babylon, Ninive“, das 1917 auf Schwedisch und ein Jahr später auf Deutsch erschien, fand viel Beachtung, obwohl sich unmittelbar nach seiner Reise die politischen Verhältnisse in Mesopotamien durch die Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg grundlegend verändert hatten.

 

Am 15. Mai 1916 machte sich Sven Hedin als Teil einer kleinen Reisegesellschaft des weit gereisten deutschen Offiziers Adolf Friedrich, Herzog zu Mecklenburg per Feldbahn und auf einem kleinen Fährschiff auf die abenteuerliche und nicht ungefährliche Reise von Bagdad nach Babylon. Dort harrten zwei deutscher Archäologen aus, um eventuell doch noch ihre Erforschung der antiken Stadt fortsetzen zu können, die fast zwei Jahrzehnte vorher begonnen hatte.

 

Die größte „Sehenswürdigkeit“ war ein Archäologe

 

Als die Reisegesellschaft sich auf dem Euphrat den Ruinen von Babylon näherte, machte sich ein „ehrfürchtiges Schweigen“ breit, berichtet Sven Hedin. Der Mythos von Babylon, der schon in der Antike entstanden war, wirkte bis ins 20. Jahrhundert nach. Gleich nach ihrer Ankunft begegnen die Reisenden dem berühmten deutschen Archäologen Robert Koldewey und seinem Kollegen Gottfried Buddensieg, die in ihrem geräumigen, zweigeschossigen Expeditionshaus inmitten zahlreicher Kisten mit wertvollen Funden auf bessere, friedliche Zeiten hoffen.

 

Robert Koldewey beeindruckte Sven Hedin sofort. Der „Professor mit seinem dichten, graugesprenkelten Bart gleicht so den Gestalten, die man auf den assyrischen Reliefs abgebildet findet“. An späterer Stelle in seinem Reisebuch schreibt Sven Hedin: „Schon in Aleppo hatte mir ein Besucher der Ruinen Babylons versichert, die größte dortige Sehenswürdigkeit sei Professor Koldewey selbst, und diesem Urteil musste ich zustimmen.“ Der schon betagte Gelehrte ist Sven Hedin in lebhafter Erinnerung geblieben „mit seinem noch immer jugendlichen Wesen, mit seinem tiefen wissenschaftlichen Ernst und seinem behaglichen Humor“.

 

Robert Koldewey konnte sich Zeit für die Besucher nehmen, weil die Ausgrabungen als Folge des Krieges eingestellt worden waren. So führte er seine Gäste mehrere Tage lang durch die „schlafende Stadt“, die Sven Hedin auf vielen Seiten seines Buches im Detail beschreibt. Er bekennt, dass ihm die Ausgrabungen ein rätselhaftes Durcheinander geblieben wären, „hätte uns nicht Professor Koldewey mit unermüdlicher Ausdauer, unter seiner schwarzen Lammfellmütze des glühenden Sonnenbrandes nicht achtend, drei Tage lang umhergeführt und Licht in dieses Dunkel der Gräben und Schächte gebracht. Unter seinem Zauberstab erwachte uns Babylon zu neuem Leben.“

 

Babylon in der Bibel und in der Wüste

 

„Nun steigt seit weniger als einem Jahrhundert diese alte Welt aufs neue aus der Erde heraus und bestätigt in Keilschrift auf gebranntem Lehm die Wahrheit der Bibelworte.“ Anders als der Archäologe Robert Koldewey sah der fromme schwedische Schriftsteller Sven Hedin in Babylon all das bestätigt, was er in der Bibel gelesen hatte. Deshalb notierte er in seinem Reisebericht: „Niemals habe ich die Bücher des Alten Testaments mit größerer Aufmerksamkeit und wärmerem Interesse gelesen, als in den Tagen, da ich die Ruinen von Babel, Assur und Ninive besuchte. Erzählungen, die früher wie Sagen und Märchen klangen, werden hier zur Wirklichkeit. Könige, deren Namen man bisher nur flüchtig kannte (…) ziehen nicht länger wie ein Zug von Gespenstern vorüber, sondern nehmen leibhaftige Gestalt an.“ Die Verdammungsworte der biblischen Propheten „donnern wie schwere Hammerschläge“ gegen Babel, lesen wir bei Sven Hedin. Und diese Prophetenworte sind in der Wahrnehmung von Sven Hedin auch eingetroffen: „Wie buchstäblich haben sie die Voraussagen der Propheten von der Zerstörung der großen Stadt erfüllt! Die Wüste ringsum wirkt weniger öde als dieser Schutthaufen und diese trostlosen, kahlen Mauern.“

 

Überraschenderweise schreibt Sven Hedin dann über den König Nebukadnezar, der in vielen biblischen Geschichten denkbar negativ dargestellt wird, er „war einer der größten und glücklichsten Könige des Altertums“. Vielleicht spiegelt dieser Satz die positive Bewertung der Leistungen Nebukadnezars durch Robert Koldewey wider. Vielleicht spielt aber auch eine Rolle, dass Sven Hedin zeitlebens von Menschen beeindruckt war, die für ihn in die Kategorie der großen Männer gehörten. Selbst Adolf Hitler hatte für den schwedischen Forscher eine ganze Reihe von Jahren lang einen Platz in diese Galerie großer Männer, was dem Schriftsteller viel Kopfschütteln und Ärger einbrachte.

 

Wo sich einst der Turm erhoben hat

 

Aufschlussreich ist, wie Sven Hedin die Reste des einst 90 Meter hohen Turms von Babylon, den „zu einer Mythe gewordenen Wunderbau der Alten Welt“, beschrieben hat: „Nicht einmal ein Hügel ist mehr zu sehen, nur ein Durcheinander von Erderhöhungen, die hier und da mit Ziegelsteinscherben bedeckt sind, zwischen denen etliche genügsame Wüstenpflanzen ihre Stengel und Blätter trotzig der unbarmherzig strahlenden Sonne entgegenstrecken. Wo sich ehemals die dicken Mauern des Turms erhoben, findet man einen ebenso breiten Graben mit kristallklarem, grünem Wasser, ein verführerisch einladendes Quellebecken.“

 

Sven Hedin berichtet, dass die Menschen in späteren Zeiten die Ziegel geraubt und die Reste des Turms schließlich dem Erdboden gleich gemacht hatten. Über den Platz vor dem früheren Turm lesen wir: „In majestätischer Ruhe liegt jetzt dieser Platz, auf dem ehemals die Babylonier lärmende Tempelfeste feierten, die lautlose Stille legt sich fast beklemmend auf die Brust.“

 

Ein Blick in das Arbeitszimmer des Professors

 

Bevor wir das Reisebuch Sven Hedins zuschlagen, müssen wir noch unbedingt einen Blick in das Arbeitszimmer Robert Koldeweys werfen: „Es hatte etwas von einer Eremitenklause, in der sich Staub und Tabaksrauch aus den vier Fuß langen Pfeifen seines Besitzers einträchtig vermischten (…) Die Tische bedeckte eine phantastische Mischung unzähliger Gegenstände. Da waren Federn, Messer und Dolche, Papiere in allen Formaten und Tinte in verschiedenen Farben, Thermometer und alte Briefe, ein Spirituskocher und eine Maultrommel, auf der der große Forscher lustige Melodien spielte, Altertümer aller Art, besonders mit Keilschrift bedeckte Zylinder, die der Entzifferung harrten. Dann Bücher, Karten und Pläne des Trümmerfeldes, Fotografien von Palästen und Tempeln, Kaffeetassen, Gläser und Teller, Toilettesachen und arabisches Allerlei.“ Auch ein petroleumbetriebener Ventilator und zwei Geigen werden erwähnt.

 

Dieses Stillleben musste Sven Hedin schon nach wenigen Tagen wieder verlassen, und auch Robert Koldewey konnte nur bis zum 7. März 1917 in Babylon bleiben. Dann flüchtete er in letzter Minute vor den heranrückenden britischen Truppen und kehrte nach Deutschland zurück. Eine Darstellung der beeindruckenden archäologischen Forschungen von Robert Koldewey und seiner Kollegen finden Sie in meinem Buch „Babylon – Mythos und Wirklichkeit“.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann