Mobilität – „Mein Mercedes ist größer als deiner“

 

„Lässig steigt er vom ledernen Sattelsitz, klopft sich den Schmutz sandiger Posten aus den verwaschenen Jeans. Noch ein sehnsüchtiger Blick zurück in die Ferne, dann wirft der moderne City-Cowboy die Tür seines eingestaubten Jeeps kraftvoll zu. Was unseren Ahnen die Pferde waren, ist dem aktiven und naturverbundenen Freizeitmenschen von heute das allradgetriebene Automobil. Am liebsten muss es möglichst martialisch auf grobstolligen Riesen-Reifen daherkommen. Jederzeit bereit, die Wüste Gobi oder schnell mal Island zu durchqueren. Meist zieht es dann aber doch nur den Pferdeanhänger zum nächsten Turnier oder rollt höchstens über die Hamburger Elbchaussee – als Boulevard-Beau.“[1]

 

Geländewagen mit Allradantrieb sind im Trend, auch wenn diese sogenannten „Offroader“ sehr viel Kraftstoff verbrauchen, nur selten wirklich durch ein Gelände fahren, wo ihre besonderen Eigenschaften gefragt wären, und nicht einmal annähernd so sicher sind, wie ihr robustes Aussehen suggeriert. In dem zitierten Beitrag einer Hamburger Tageszeitung heißt es dazu: „Gerade Offroader zeigen bei Unfällen zuweilen massive Schwächen an der kantigen Karosseriestruktur.“ Aber solche Einwände schrecken „echte“ Männer nicht ab, sodass in den letzten Jahren fast alle Autohersteller diese Ungetüme in ihr Programm aufgenommen haben. In dem Zeitungsartikel wird dazu konstatiert: „Das erlebnishungrige Publikum verlangt danach.“ Es geht um den „Lifestyle“ erfahren wir, und die Pressesprecherin des DaimlerChrysler-Konzerns verrät: „Über 90 Prozent unserer Kunden fahren niemals im Gelände, dennoch wird ein Jeep immer Allradantrieb haben.“[2]

 

Dass die meisten dieser Autos nicht Wiesen und Wälder zerpflügen, ist vielleicht ihre positivste Eigenschaft. Aber der Vorteil wiegt wenig im Verhältnis zu den alltäglichen Umweltschäden, die diese Autos verursachen. In den USA waren schon die Hälfte aller neu zugelassenen Autos Geländewagen mit hohem Spritverbrauch[3]  und nicht etwa – wie noch vor einem Jahrzehnt erhofft – umweltfreundliche Fahrzeuge mit einem sehr niedrigen Verbrauch an Benzin oder Diesel. Der Unternehmensberater Jürgen Peddinghaus diagnostizierte schon vor einigen Jahren: „Das Auto wird zum Spaßmobil“.[4]

 

Die Fahrt im Geländewagen mit hoher Sitzposition vermittle dem Fahrer ein Gefühl der Erhabenheit und des grenzenlosen Luxus. Ein Höhepunkt dieser Sucht ist der „AM Hummer“, zuerst bekannt geworden durch den US-General Schwarzkopf, der im Krieg gegen den Irak diesem Kommandeursfahrzeug entstieg, um Siegesmeldungen zu verkünden. Auch ein anderer Kämpfer gegen das Böse besitzt einen solchen 3,4 Tonnen schweren Geländewagen, der Schauspieler Arnold Schwarzenegger. Mehr als 120.000 Euro kostet der „Hummer“, da fallen die etwa 30 Liter Dieselverbrauch auf 100 Kilometer zumindest finanziell nicht mehr ins Gewicht. Der deutsche Importeur weiß über seine reiche Kundschaft: „Normalerweise ist ein Hummer der Fünftwagen im Fuhrpark.“[5]

 

Der „Siegeszug“ der Autos

 

Ein Auto zu besitzen und mit ihm zu fahren ist für viele längst mehr als ein Weg, möglichst rasch und bequem von einem Ort zum anderen zu kommen. Jemand zu sein, etwas geschafft zu haben, mehr jedenfalls als der Nachbar mit einem sechs Jahre alten Polo, andere überholen zu können, es ihnen endlich einmal zu zeigen ... Dies und vieles mehr ist mit dem Autofahren verbunden. Und deshalb ist es so schwer, mit Argumenten der Ökologie, der Gesundheit und der Vernunft gegen den „Siegeszug“ der Autos etwas auszurichten. Dies gilt nicht nur für die USA oder Deutschland, sondern zunehmend auch für die Länder des Südens. Ein eigenes Auto zu besitzen bringt Prestige. Nicht umsonst heißen die Mächtigen und Reichen in Ostafrika in Anlehnung an den Mercedes-Benz „wabenzi“.

 

Der nigerianische Schriftsteller Nkem Nwankwo hat in seinem Roman „Mein Mercedes ist größer als deiner“ dem Nymbus des Autos ein literarisches Denkmal gesetzt. Ein junger erfolgreicher Nigerianer kehrt mit seiner Luxuskarosse in sein Heimatdorf zurück und wird als großer Mann gefeiert, bis sein Auto bei einer nächtlichen Fahrt von der Straße abkommt. Mit dem Verlust des Autos verliert der junge Mann auch seinen sozialen Status und seinen persönlichen Halt. Der unaufhaltsame Abstieg ist vorgezeichnet. Zum Schluss begeht er einen Mord, um an einen neuen Mercedes zu kommen. „Er fuhr weiter, immer weiter, ohne Ziel. Er war dabei, niemals haltzumachen.“[6]

 

 

 

Der Autoboom in Zeiten der Globalisierung

 

 

 

Die heute vorherrschenden Formen der Mobilität sind erst ein Jahrhundert alt und haben doch den Globus verändert. Der erste „global march“, die Ausbreitung der Menschheit vom Herzen Afrikas bis nach Neuseeland, hat vielleicht 200.000 Jahre gedauert. Heute dauert ein Flug weniger als 20 Stunden. Und blieben die Menschen in europäischen Dörfern und Kleinstädten im 19. Jahrhundert meist ihr ganzes Leben in einem Umkreis ihres Ortes, den sie zu Fuß oder mit dem Ochsenkarren zurücklegen konnten, so scheint heute die ganze Menschheit unterwegs zu sein. Allein die indische Eisenbahngesellschaft verkauft jedes Jahr 4,5 Milliarden Fahrkarten.[7]

 

Dank Globalisierung und internationaler Autowerbung breitet sich die Auto-Mobilität rund um den Globus rasch aus. „Die Angst vor Chinas Auto-Aufrüstung“ lautete im August 2002 eine Überschrift in der Süddeutschen Zeitung. In dem Beitrag wird berichtet, dass jedes Jahr zusätzlich eine Million PKWs in China unterwegs sind, Mitte 2002 waren es etwa 9,7 Millionen. Das war nur ein kleiner Anteil an den 829 Millionen Kraftfahrzeugen, die nach Berechnungen der Autoindustrie weltweit auf den Straßen fahren. Nicht nur global, sondern in China selbst verheißt dies nichts Gutes, denn der zunehmende Verkehr stellt das Land vor schier unlösbare Probleme. Diese Form der Mobilität hat ihren Preis, im Jahre 2001 zahlten ihn 100.600 Verkehrsteilnehmer in China mit ihrem Leben.[8]

 

Nur sieben von tausend Einwohnern Chinas besitzen bisher ein Auto. Was passiert aber, wenn China die deutsche Rate von 540 PKWs je tausend Einwohnern erreicht? Und wer wollte den Chinesen verwehren, was andere Bewohner der Erde sich leisten? Es gibt bei Umweltexperten große Sorgen, was passiert, wenn China einen Autoboom erlebt, aber die internationale Autoindustrie baut eine Fabrik nach der anderen in China. Groß im Geschäft ist der Volkswagen-Konzern, allerdings ohne sein Sparmodell Lupo, denn dafür gibt es angeblich in China keinen Markt.[9]

 

Energiesparen scheint nicht angesagt. Die chinesische Regierung hofft darauf, dass nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO die Wirtschaft und auch der Autoverkauf boomen werden. Bereits 2010 sollen sechs Millionen Autos im Jahr verkauft werden, Tendenz stark steigend.[10] Prognosen besagen, dass weltweit jedes Jahr 50 Millionen Autos hinzukommen, im Jahre 2030 soll der Bestand auf 2,3 Milliarden Autos gewachsen sein.[11] Die „freie Fahrt für freie Bürger“, die hierzulande von einem Automobilklub propagiert wird, entwickelt sich global zu einem Albtraum, sowohl was die Verkehrsverhältnisse als auch was die Umwelt betrifft.

 

Die Internationale Automobilausstellung 2001 in Frankfurt stand trotzdem unter dem Motto „Faszination Auto“. Karl-Heinz Büschemann konstatierte aus Anlass der Messe allerdings in einem Kommentar eine Unfähigkeit der Branche, sich mit den Zukunftsfragen zu beschäftigen: „Die Autohersteller, die ganze Stäbe mit der Frage befassen, wie ein Motor zu klingen und wie eine Limousine zu riechen hat, wirken bei den wahren Zukunftsfragen seltsam ideenlos und matt. Nach wie vor bieten sie keine Lösungen für die Frage, wie der Verkehr in Fluss und die Umwelt global intakt bleiben können.[12]

 

Kein Industriezweig ist so groß wie die Autoindustrie und zugleich so fantasielos, wenn es um die Gestaltung der Zukunft geht. Zwar haben einzelne Autohersteller ein 3-Liter-Auto ins Programm aufgenommen, aber das hat nur den Platz eines hässlichen Entleins in einer Flotte von energiefressenden Limousinen. Auch viele Regierungen setzen weiter auf die Autoindustrie als Wachstumsmotor, und zwar egal, wie groß die Staus und wie beängstigend die Gesundheitsschäden durch den Autoverkehr sind. Die Propheten der heutigen Globalisierung haben auf diese Probleme keine Antwort, ein Grund mehr, nach den Ursachen der Mobilitäts-Krise und nach Alternativen zu suchen.

 

Die Suche nach Alternativen

 

Es gibt Alternativen zum „Leben auf der Überholspur“, zu einer Mobilität, die mit Bewegungsmangel einhergeht. Mobilität muss kein Selbstzweck sein oder dem Ziel dienen, sich dem Rausch der Geschwindigkeit hinzugeben. Mobilität dient dem Ziel eines erfüllten Lebens oder sollte dies zumindest tun. Begrenzt wird sie durch die Ressourcen, die verbraucht werden können, ohne die Mitmenschen, zukünftige Generationen und die ganze Schöpfung zu schädigen. Eine solche verantwortbare Mobilität bedeutet gemessen an der tatsächlichen Mobilität vieler Menschen in der westlichen Welt eine Einschränkung, aber sie liefert auch etwas, was immer kostbarer wird, Zeit.

 

Nicht selten ist eine Fahrt eine Flucht vor den Alltagsproblemen und -enttäuschungen. Von daher spricht vieles dafür, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, statt sich ins Auto zu setzen. Da dies keine Schwierigkeit einiger weniger Menschen, sondern in unserer Gesellschaft weit verbreitet ist, muss nach den sozialen Ursachen geforscht werden. Der Sinn des Lebens ist nicht hinter dem Steuerrad zu finden, ebenso wenig entgangene Zuwendung und Kommunikation.

 

Auch gegen Mobbing im Betrieb hilft es wenig, mit dem Auto durch die Landschaft zu rasen, dies kann sogar gefährlich für den Fahrer und andere Verkehrsteilnehmer sein. Aggressives Fahren und leichtsinniges Überholen bei hoher Geschwindigkeit gehören zu den Hauptursachen von Verkehrsunfällen. „Er fuhr weiter, immer weiter, ohne Ziel“ heißt es in dem Roman von Nkem Nwankwo. Das gilt nicht nur für den Autofahrer im Roman, und nicht nur in diesem Fall zeigt sich deutlich, dass dieses ziellose, perspektivlose Fahren ein fatales Ende haben kann. Deshalb sind die Suche nach Sinn im Leben, nach einem anderen Arbeits- und Lebensstil und nach einem erfüllten Leben ohne den Rausch der Geschwindigkeit die Grundvoraussetzungen dafür, zu einem anderen Mobilitätsverhalten zu kommen.

 

In dem „Studienpapier Perspektiven zukunftsfähiger Mobilität“[13], das aus einem ökumenischen Seminar in der Evangelischen Akademie Bad Boll entstand, ist zu den Folgen einer Politik des Vorrangs der individuellen motorisierten Verkehrspolitik nachzulesen: „Diese Politik ermöglichte eine Konsumgesellschaft, die ohne motorisierten Transport durch Autos, LKWs und Flugzeuge so nicht durchsetzbar geworden wäre. Konsum und motorisierter Transport wurden denn auch als ‚Motor‘ moderner Volkswirtschaften gepriesen. Dennoch erkennen immer mehr Menschen die negativen Folgen dieser fehlgeschlagenen ‚Entwicklungspolitik‘. Sie nehmen den Verlust von Lebensqualität wahr, Stress, Nervosität, erleiden beständige Lärm- und Geruchsbelästigung, werden mit vielerlei Gesundheitsstörungen und Krankheiten konfrontiert ...“

 

Aufgeführt wird auch, dass weltweit jedes Jahr 700.000 Verkehrstote und 10 Millionen bei Verkehrsunfällen Verletzte zu beklagen sind. Die Alternative wird so beschrieben: „Wir brauchen heute Mobilität, Flexibilität und Kreativität im Denken und im Handeln. Zukunftsfähige Mobilität ist nicht allein eine Sache von Planung und Effizienz. Sie setzt einen Lebensstil voraus, in dem Werte wie Liebe, Teilen, Solidarität gegenüber der gesamten Schöpfung Gottes menschliches Handeln bestimmen. Träume einer Unabhängigkeit von Raum und Zeit, von endloser Vermehrung materieller Güter werden beim genauen Hinsehen zu Albträumen. Ein zulässiges Maß kann nur gefunden werden, wenn wir unserer Verbundenheit mit dem ganzen geschaffenen Leben durch die göttliche Gegenwart des Heiligen Geistes gewahr werden.“

 

Mobilität aus biblischer Perspektive

 

Mobilität kann so auch in einem neuen Sinne verstanden werden, nämlich als Bereitschaft, das alte Leben aufzugeben und sich auf neue Wege zu machen. Wäre, wie die Bibel überliefert, Abraham nicht aus seiner Heimat aufgebrochen und nach Kanaan gewandert, hätte die Geschichte des Volkes Israel keinen Anfang genommen. Berühmt ist der Exodus, der Aufbruch aus Ägypten, der Anfang einer 40-jährigen Wüstenwanderung, wie in der Erinnerung erzählt wird.[14]

 

Der Prophet Jona wurde von Gott beauftragt, in die assyrische Hauptstadt Ninive zu reisen und die Menschen dort vor Gottes Zorn zu warnen. Jona nahm nicht ohne Grund an, ein Prophet mit einer solchen Botschaft werde in Ninive nicht gern gehört werden. Er versuchte, vor Gott und vor seiner Botschaft zu fliehen und schiffte sich nach Tarsis ein, ans Ende der damals bekannten Welt. Aber die Flucht endete im Bauch eines riesigen Fisches und Jona wurde wieder an Land gespült und macht sich schließlich doch auf den Weg nach Ninive. Die Mobilität als Flucht war gescheitert, während die Reise nach Ninive zum Erfolg wurde und die Stadt rettete.[15]

 

Es gibt in der Bibel viele Beispiele des Aufbruchs, so der Entschluss von Fischern am See Genezareth, alles stehen und liegen zu lassen und Jesus nachzufolgen. Besonders bedeutsam für die Entstehung des Christentums war das Pfingstwunder, wo Menschen sich entschlossen, ein ganz neues Leben der Nachfolge zu beginnen. Ohne die beschwerlichen Missionsreisen des Paulus wären die Christus-Anhänger vielleicht eine kleine Sekte geblieben.

 

Die längsten Wege, die im mitteleuropäischen Europa zurückgelegt wurden, waren die Pilgerwege. Eine solche Mobilität ist nicht das ruhelose hin- und herfahren, sondern ein Aufbruch zu neuen Ufern.[16] Eine andere Globalisierung, ein anderes Leben sind Grund genug zu einem solchen Aufbruch. Fulbert Steffensky schreibt über die Mobilität in der Bibel: „Biblische Geschichten sind fast immer Veränderungsgeschichten. Menschen werden dazu gebracht, Heimaten zu verlassen, Lebensweisen zu verändern, Eingewöhnungen zu durchbrechen, Rollen und Berufe aufzugeben. Es werden Mobilitätsgeschichten erzählt; Geschichten gegen Fatalismus und Lebensstarre ... die Menschen jenes Glaubens sind keine Easy Rider, die daherjagen des Jagens wegen. Ihre Bewegung hat ein Ziel. In das Land ohne Knechtschaft soll das Volk ziehen. In die größere Freiheit und Eindeutigkeit soll der ziehen, der Vater und Mutter verlässt. Die den Glaubende zugemutete Mobilität ist Transzendenz, ist Hinüberschreiten in größere Lebensklarheit und in eine Heimat, in der noch niemand war. In dieser Mobilität ist die Reise selber noch nicht das Ziel, es ist der Weg zum Ziel. Also nicht die pure Veränderung und der Aufbruch werden gelobt, sondern die Sehnsucht richtet sich auf das Ankommen im anderen Land, in der anderen Heimat.“[17]

 

Eng mit der Sinnfrage, der tiefen Frage nach dem Woher und Wohin, verbunden ist der Nimbus des Autos in unserer Gesellschaft, der vor allem durch die Werbung für Autos und die Berichterstattung über Autos in den Medien propagiert wird. Freiheit und Glück, Unabhängigkeit und die Liebe einer schönen Frau – alles scheint mit dem Kauf eines Autos verbunden zu sein, und je größer und teurer ein Auto ist, desto größer auch die Versprechungen. Die Autowerbung konkurriert längst mit den Kirchen um die Frage, wer Heil und Sinn im Leben anbieten kann, und die blitzenden Karossen auf Auto-Salons haben das kleine Goldene Kalb in der Wüste Sinai längst deklassiert.

 

Eine Herausforderung für die Kirchen: das „Walhall der Auto-Anbetung“

 

Der VW-Konzern hat eine „Autostadt“ in Wolfsburg gebaut, wo die Welt des Autos präsentiert und das eigene Auto abgeholt werden kann. Der Konzern hat 850 Millionen DM in eine „Erlebniswelt“ von 25 Hektar investiert. Sechs Markenpavillons und 69 Inszenierungen einschließlich Crashtests stehen für täglich etwa 6.000 Besucher bereit. Auch Restaurants und Cafés warten auf die Auto-Liebhaber. Die „Autostadt“, so ihr Architekt Gunter Henn, ist „ein Ort, wo Menschen ihre Sehnsüchte ausleben können“.[18]

 

Wenn das stimmt, sagt dies viel über die Sehnsüchte in unserer Gesellschaft. Das Auto sei ein „Kultobjekt“, sagt der Architekt, „damit sind Werte und Emotionen verbunden, manchmal sogar ein Stück Sinngebung“. Damit das so bleibt, gibt es in der „Autostadt“ auch eine „Kinderwelt“, wo schon die Zweijährigen lernen, dass Mobilität mit dem Auto erfolgt, und natürlich möglichst mit einem Auto aus Wolfsburg. Auch Kindergeburtstage werden rund um das Auto gestaltet. Die Investitionen sollen sich auszahlen, an 364 Tagen im Jahr, nur am 24. Dezember ist geschlossen, ein letzter Tag, an dem das Kind im Stall in Bethlehem ohne Konkurrenz durch die Glitzerwelt ist. Deren Architekt hat verkündet, die Kirche hätte als Sinnstifter abgedankt, die großen Firmen mit ihrer Markenwelt seien an ihre Stelle getreten.[19]

 

Da kann der Autokonzern mit dem Stern nicht nachstehen und hat in Berlin das größte Autohaus der Welt eröffnet, ein gläserner Tempel mit Formel-Eins-Simulator, Restaurant, Kletterwand und Verkehrskindergarten – und über 300 Mercedes-Modellen mit 40 Verkäufern. Die erhalten nicht einmal 500 Euro als monatliches Fixum (Stand Januar 2002), der Rest des Einkommens ist provisionsabhängig, freie Marktwirtschaft eben. Wer mehrere Wochen kein Auto verkauft, hat ein Problem, aber solche Verkäufer haben in diesem Konsumtempel eben keinen Platz Als der Konzernchef Schrempp das Haus eröffnete, sagte er unmissverständlich seinen Mitarbeitern, worum es geht: „Da vorne steht die Kasse.“ So drastisch geht man mit den potenziellen Kunden nicht um, hier ist Gefühl gefragt. „Das Haus ist Emotion pur“, hat der Pressechef verkündet, und der Leiter der Niederlassung weiß: „Für viele ist der Kauf eines Mercedes eine Partnerschaft fürs Leben.“[20]

 

Bei der Konkurrenz, in der „Autostadt“ in Wolfsburg, wird den Kunden der Wunsch mit auf den Weg gegeben: „Viel Spaß mit ihrem neuen Familienmitglied.“[21] International spricht man inzwischen in Fachkreisen von „Carchitecture“, von einer Architektur, die dem Auto Tempel baut. Als in Leipzig das neue Porsche-Werk eröffnet wurde, war in einem Zeitungsbericht von einem „Walhall der Auto-Anbetung“ die Rede. Für das Kundenzentrum wählen die Architekten die Form einer Kanzel. Für die „einzig wahre Reliquie unserer Zeit“[22] wurde ein hübscher Schrein gebaut. Im Bericht ist auch von „Tempel“ und „Kathedrale“ die Rede. Die Kirchen tun also gut daran, sich mit der Gegen-Religion der Autobauer näher zu befassen. Dabei sind auch die neuen „Religionsgemeinschaften“ im Auge zu behalten, also die Interessenverbände derer, die „freie Fahrt für freie Bürger“ fordern und die einen großen Einfluss auf die Verkehrspolitik haben. Dazu gehört vor allem der ADAC, mit Kampagnen gegen das „Folterinstrument Ökosteuer“ oder generelle Tempobegrenzungen auf Autobahnen. Mit 14 Millionen Mitgliedern ist der ADAC politisch eine sehr viel mächtigere Gruppierung als jene Vereinigungen, die sich für eine nachhaltige Verkehrspolitik einsetzen. Außerdem kann der ADAC in vielen Fragen auf die Unterstützung von Industrieverbänden rechnen.[23]

 

Die Suche nach Alternativen auch im Süden der Welt

 

Die dramatisch gestiegene Mobilität hängt auch mit ganz praktischen Veränderungen im Arbeits- und Familienleben zusammen. So wird von Arbeitslosen ganz selbstverständlich erwartet, dass sie mobil sind, also bereit sind, jeden Morgen und Abend 50 oder 100 Kilometer zum Arbeitsplatz und zurück zu fahren. Wer Karriere machen will, der muss bereit sein, von heute auf morgen eine Tätigkeit 500 oder 600 Kilometer von seinem Heimatort entfernt aufzunehmen. Wenn die Familie nicht mit umziehen kann, dann heißt es in der Regel, jedes Wochenende mit dem Auto nach Hause und zurück zum Arbeitsort zu fahren. Viele Arbeitgeber erwarten zudem ganz selbstverständlich, dass ein Beschäftigter einen Führerschein hat und beruflich kreuz und quer durch die Republik unterwegs ist. Die Arbeitgeber, die sich auf das Argument einlassen würden, auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln sei die geforderte Mobilität zu erreichen, dürften sehr rar sein. Alle anderen werden darauf verweisen, dass es viel länger dauert, mit Bus und Bahn unterwegs zu sein – und angesichts des Angebotes an öffentlichen Verkehrsmitteln außerhalb der Ballungsräume hätten sie so unrecht nicht.

 

Große Auswirkungen auf Mobilität und Autodichte hat auch die Veränderung der Familienstrukturen. Singles sind meist mehr unterwegs als Familien, und die meisten von ihnen leisten sich ein eigenes Auto. Demgegenüber kommen viele Familien mit einem Auto aus. Allerdings, der Trend zum Zweit- und Drittauto von Kleinfamilien relativiert diesen Unterschied zwischen Singles und Familien. Demgegenüber leisten Wohnprojekte, die mit wenigen Autos für relativ viele Personen auskommen, einen Beitrag zur Reduzierung der Autodichte und des Autoverkehrs. Auch die Car-Sharing-Modelle sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Sie haben auch den Vorteil, dass der energie- und ressourcenaufwendige Produktionsprozess von Autos zumindest um einige Exemplare vermindert wird.

 

Es gibt praktikable und bewährte Alternativen zum Autoverkehr, die gefördert werden müssen. Dabei lässt sich – der globale Informationsaustausch macht es möglich – von den Erfahrungen anderer Länder lernen. Der Stadtstaat Singapur hat es geschafft, ein so schnelles, sauberes, zuverlässiges und sicheres U-Bahn-System zu schaffen, dass es keine sachlichen Gründe für die Einwohner mehr gibt, mit dem Auto ins Büro oder zum Einkaufen zu fahren. Wer dennoch das Auto nimmt, zahlt dafür viel Geld.[24] Attraktive öffentliche Verkehrssysteme haben auch Städte aufgebaut, die nicht über den gleichen Perfektionismus verfügen wie die Regierenden und ihre Untertanen in Singapur.

 

Selbst in wirtschaftlich ärmeren Ländern gibt es überzeugende Beispiele. Als besonders erfolgreich gilt in diesem Zusammenhang Curitiba in Brasilien, wo ein weitsichtiger Bürgermeister ein preiswertes und sehr zuverlässiges Bussystem vorgeschlagen und durchgesetzt hat, das es den Einwohnern ermöglicht, von allen Stadtvierteln aus rasch in andere Teile der Stadt zu gelangen. Alle 400 Meter gibt es eine Bushaltestelle, und das Bussystem gilt als das schnellste und billigste in Brasilien. Für Fahrradfahrer wurden viele neue Wege gebaut. Deshalb ist hier niemand auf ein Auto angewiesen, ganz anders als in den meisten Millionenstädten im Süden der Welt, wo nur rudimentäre öffentliche Verkehrssysteme existieren. 14 Parks und zahlreiche öffentliche Gärten haben die Lebensqualität in Curitiba weiter erhöht. Es gab also Gründe genug, Bürgermeister Jaime Lerner 1990 mit dem Umweltpreis der Vereinten Nationen auszuzeichnen.[25]

 

In Deutschland und den westeuropäischen Nachbarstaaten ist das öffentliche Verkehrssystem hingegen dabei, an Qualität und Quantität zu verlieren. Ein Grund ist die allmähliche Verarmung der Kommunen und Regionen, die immer weniger Mittel haben, um die öffentlichen Verkehrssysteme auszubauen und zu subventionieren. Gefährlicher wird diese Situation noch dadurch, dass auch der öffentliche Nah- und Fernverkehr privatisiert und liberalisiert wird. Entsprechend dem Mythos, dass Privatunternehmen stets leistungsfähiger sind als öffentliche Unternehmen, werden Bahn-, Bus- und U-Bahngesellschaften privatisiert und sollen möglichst Gewinn erzielen.

 

Die Verantwortung der Kirchen

 

Damit die globale Autobegeisterung gedämpft werden kann, ist es außerdem erforderlich, in der Gesellschaft intensiver zu diskutieren, welchen Preis diese Form der Mobilität hat. Dabei können die Kirchen eine Vorreiterrolle übernehmen. Das wird ihnen nicht leicht fallen, denn Auto-Mobilität war für die hiesigen Kirchen bisher eher eine Selbstverständlichkeit als ein Problem. Dazu ist in einer Veröffentlichung des Ökumenischen Rates der Kirchen zu lesen: „Lange Zeit war Transport keine Frage, mit der die Kirchen sich befasst haben. Christinnen und Christen waren gern bereit, die neuen Technologien zu nutzen. Erst als die negativen Auswirkungen der wachsenden Mobilität offenkundiger wurden, hat man begonnen, kritische Fragen zu stellen.“[26]

 

Lange vergessen ist, dass Jesus lange Strecken zu Fuß ging und sein Ritt auf einem Esel so bemerkenswert war, dass er von den Evangelisten überliefert wurde. Auch die Pilger des Mittelalters waren Hunderte von Kilometern zu Fuß unterwegs. Heute hingegen gehört es für viele Pastoren, Pastorinnen und andere kirchliche Beschäftigte zur Selbstverständlichkeit, per Auto zum Besuch eines Gemeindemitgliedes oder zum Kirchenkreis- oder Dekanatsgebäude zu fahren. Es gibt sie, die Geistlichen und Gemeindeschwestern, die bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad unterwegs sind, aber überzeugend als Vorreiter eines neuen Mobilitäts-Konzepts sind die Kirchen bisher dennoch nicht. Es gibt etwa 100.000 Autos in den Fuhrparks der evangelischen Kirchen in Deutschland und der diakonischen Einrichtungen. Sie verbrauchen schätzungsweise 100 Millionen Liter Kraftstoff.[27] Diese Zahlen zeigen, wie groß das Einsparpotenzial im kirchlichen Bereich ist, sei es durch energiesparende Fahrzeuge, sei es durch den Ersatz des Autofahrens durch andere Fortbewegungsmittel.

 

Christinnen und Christen müssen zum Umdenken und Umlenken bewegt werden und gleichzeitig gilt es, Einfluss auf die öffentliche Debatte zu nehmen. Dabei geht es sowohl um eine Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Vorstellungen von Mobilität, wie sie zum Beispiel im Auto-Kult zum Ausdruck kommen[28], als auch um konkrete Forderungen zu Veränderung der Verkehrspolitik. Wenn wir das Ziel der Bewahrung der Schöpfung ernst nehmen, ist eine Einschränkung des Autoverkehrs nicht zu vermeiden, und dies betrifft sowohl die Gemeinden, kirchlichen Einrichtungen und Werke als auch die private Mobilität der Christinnen und Christen. Eine Selbstverpflichtung der kirchlichen Beschäftigten, zumindest alle kürzeren Strecken zu Fuß oder per Fahrrad zurückzulegen, wäre ein erster Schritt. Ebenso könnten die Gottesdienstbesucher dazu ermutigt werden, per Fahrrad zu kommen. Soweit die Gemeinde noch Autos benötigt und kauft, sollte auf einen minimalen Kraftstoffverbrauch geachtet werden. Viele kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind bereits dazu übergegangen, längere Strecken in der Regel mit der Bahn und nicht mit dem PKW zurückzulegen. Solche Konzepte können aber noch ausgebaut werden.

 

Auch in der Zusammenarbeit der Missionswerke und kirchlichen Entwicklungseinrichtungen mit Partnern in Übersee sollte thematisiert werden, wie Mobilität am Sinnvollsten erreicht werden kann. Leider ist für viele Verantwortliche in kirchlichen Entwicklungsprogrammen in Übersee der Luxusgeländewagen „Pajero“ immer noch das Ziel vieler Träume und der Gegenstand von Anträgen an fördernde Stellen. Hier besteht ein Dialogbedarf, wobei die Gesprächspartner in Deutschland nicht sonderlich überzeugend sind, wenn der Besucher aus Übersee feststellt, dass sie zwar gegen den so sehr gewünschten Geländewagen in Tansania wettern, aber anschließend in ihrem luxuriösen BMW davonfahren.

 

Auf der Grundlage eines eigenen praktischen Engagements für Alternativen zum Auto als Schritt zur Bewahrung der Schöpfung können die Kirchen und ihre Mitglieder sich dann um so glaubwürdiger an der öffentlichen Diskussion darüber beteiligen, wie Mobilität erreicht werden kann, ohne immer neue Autostaus zu produzieren. Dabei geht es einerseits um politische Schritte, andererseits aber um grundsätzliche Fragen an die wachsende Mobilität und die Art und Weise, wie diese erreicht wird. Vielleicht war der Kanton Graubünden doch nicht so hinterwäldlerisch, wie er vielen erschien, als er bis 1927 verhinderte, dass Autos auf seinen Straßen fuhren. Einer der vehementen Kritiker des Autoverkehrs war damals Pfarrer Leonhard Ragaz, der 1925 schrieb: „Nun kann man sich nicht leicht etwas Unmenschlicheres denken als das Automobil in seiner jetzigen Verwendung. Es bedeutet die vollendete Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Menschen, seiner Gesundheit, seinen Nerven, seiner Sicherheit, ja seinem Leben, um von allem Ästhetischen zu schweigen; es ist die verkörperte Brutalität des Maschinenzeitalters.“[29]

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Visionen und kleine Schritte – Auf dem Weg zu einer anderen Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 



[1] Hamburger Abendblatt, 29.9.2001

[2] Ebenda

[3] Vgl. Süddeutsche Zeitung, 2.3.2002

[4] Hamburger Abendblatt, 4.6.1998

[5] Süddeutsche Zeitung, 1.7.1998

[6] Nkem Nwankwo: Mein Mercedes ist größer als deiner, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1979, S. 202

[7] Vgl. The Economist, 31.12.1999

[8] Vgl. epd-Zentralausgabe, 29.10.2002

[9] Vgl. Süddeutsche Zeitung, 24.8.2002

[10] Vgl. The Economist, 13.4.2002

[11] Vgl. Frankfurter Rundschau, 9.1.2001

[12] Süddeutsche Zeitung, 10.9.2001

[13] Dieses Studienpapier ist nicht mehr online verfügbar.

[14] Vgl. Frank Kürschner-Pelkmann: Gott und die Götter der Globalisierung, a. a. O., S. 23

[15] Vgl. Christian Lerch: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort, in: Unterwegs, 2/2002, S. 8f.

[16] Vgl. Jürgen Ebach: Gehen oder bleiben, Biblische Erinnerungen zu einem modernen Zauberwort, in: Zeitzeichen, 5/2001, S. 22ff.; vgl. auch die Publikation des EMW: Unterwegs zum Leben, Ökumenische Pilgerwege in Europa (Weltmission heute 36), Hamburg1999

[17] Fulbert Steffensky: Die endlose Gegenwart, in: Publik-Forum, 1/2002, S. 47

[18] Interview mit Gunter Henn, in: Chrismon plus, 10/2002, S. 70

[19] Bernward Kalbhenn: Zum Niederknien – Beobachtungen in der Autostadt, in: Publik-Forum, 1/2002, S. 54ff.

[20] Süddeutsche Zeitung, 5.1.2002

[21] Frankfurter Rundschau, 1.8.2001

[22] Süddeutsche Zeitung, 21.8.2002

[23] Vgl. Regine Gwinner: Experten in eigener Sache, in: Zeitzeichen, 5/2001, S. 26ff.

[24] Vgl. Süddeutsche Zeitung, 18.11.2000

[25] Vgl. epd Dritte Welt Information, 15-16/99, S. 9

[26] World Council of Churches: Mobility – Prospects of sustainable mobility, Genf 1998, S. 4

[27] Vgl. epd-Entwicklungspolitik, 11/2000, S. 19

[28] Vgl. hierzu auch die ÖRK-Broschüre „Mobility“, a. a. O., S. 20f.

[29] Zitiert nach: Lukas Vischer: Zukunftsfähige Mobilität – Die Kirchen können zu einer „Kultur beschränkter Mobilität“ beitragen, in: epd Entwicklungspolitik, 8/97, S. 10