Die evangelikale Bewegung zur Globalisierung

 

Die Pressemeldung wirkte auf den ersten Blick nicht spektakulär. Am 10. Mai kündigte die „World Evangelical Fellowship“ (WEF) bei ihrer 11. Generalversammlung an, dieser Zusammenschluss evangelikaler Christinnen und Christen in aller Welt werde sich Anfang 2002 in „World Evangelical Alliance“ umbenennen. Schon die Begründung ließ allerdings aufhorchen, denn als ein Grund wurde angegeben, die Namensänderung solle zum Ausdruck bringen, dass die WEF damit den Wunsch der Evangelikalen zum Ausdruck bringen wolle, sich verstärkt „in der Welt“ zu engagieren. In der Pressemeldung ist dann auch von konkreten Themen wie Flüchtlingsproblemen, Verschuldung der Dritten Welt und Gewalt in der Familie die Rede.[1]

 

An der WEF-Generalversammlung in Kuala Lumpur nahmen etwa 600 evangelikale Christinnen und Christen aus mehr als 80 Ländern teil und fassten zum Beispiel zur Verschuldung der Länder des Südens der Welt Beschlüsse, die durchaus auch auf ökumenischen Treffen hätten gefasst werden können. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer forderten die Regierungen und Finanzinstitutionen im Norden und Süden auf, „entschlossen, für alle durchschaubar und mit Integrität daran zu arbeiten, dass Korruption bekämpft wird und die Visionen vom Jubilee 2000 verwirklicht werden, indem konkrete Schritte unternommen werden, um die Ketten der Verschuldung zu brechen und den ärmsten Ländern der Welt einen Neuanfang zu ermöglichen“.[2]

 

Stephen Rand von der britischen Hilfsorganisation Tearfund stellte fest: „Trotz der Teilerfolge von Jubilee 2000 leben wir immer noch mit einer Situation, in der mehr Geld für die Rückzahlung von Schulden aus den armen Ländern abfließt, als sie Entwicklungshilfe erhalten. Es gibt Länder, die mehr Geld für die Rückzahlung von Schulden aufwenden als für Gesundheit und Bildung.“[3]

  

„Ich plädiere für ein umfassendes christliches Engagement zur Umwandlung von Kirche und Gesellschaft“

 

Es verwundert nicht, dass es angesichts solcher Analysen bei dem Treffen in Kuala Lumpur zu einer kritischen Bewertung des Prozesses der Globalisierung kam, und zwar aus einer dezidiert evangelikalen Position heraus, wie aus den Aussagen des scheidenden Internationalen Direktors der WEF, Agustin Vencer (Philippinen) in einem Interview hervorgeht: „Ich komme aus der Dritten Welt und deshalb ist dies mein Anliegen: Als Evangelikale haben wir möglicherweise einen dynamischen Glauben – aber wie relevant ist er für unser Land, für unsere leidenden Mitbürger? Wie relevant ist er im Blick auf Korruption und Habsucht, nicht nur in der Dritten, sondern auch in der Ersten Welt? Nehmen Sie die Globalisierung: Da sagt man uns: Wir schaffen ein ebenes Spielfeld für unsere Märkte. Ja, das Spielfeld ist eben, aber die Spieler sind verschieden stark. Was kann da Gutes für die Dritte Welt herauskommen, ist das ein neuer Prozess für den Westen? Ich plädiere für ein umfassendes christliches Engagement zur Umwandlung von Kirche und Gesellschaft. Wenn das Heil Gottes auch eine kosmische Dimension hat, dann haben die Evangelikalen einen gesellschaftlichen Auftrag. Sie müssen sich einsetzen in dem Gebiet, das die Diskrepanz ausmacht zwischen Gottes idealem Plan für die Schöpfung und der Wirklichkeit, in der wir leben. Wenn wir fest davon überzeugt sind, dass das Reich Gottes kommt und dass Gott eine vollkommene Gesellschaft schaffen wird, dann müssen die Werte dessen, was da kommt, heute das ethische Handeln der Gemeinde Jesu bestimmen.“[4]

 

Ein Bericht des deutschen evangelikalen Pressedienstes über die WEF-Generalversammlung beginnt mit der Bemerkung, „die oft als ‚Fromme’ apostrophierten Evangelikalen wenden sich zunehmend dem sozialen und politischen Engagement zu“.[5] In dem idea-Bericht wird auch erwähnt, dass der ÖRK-Generalsekretär Konrad Raiser in einem schriftlichen Grußwort darauf hingewiesen habe, dass sich die beiden Dachorganisationen mit ähnlichen Themen beschäftigten, so mit dem Zeugnis und Dienst in einer von der Globalisierung geprägten Welt.

 

In dem Bericht wird auch darauf hingewiesen, dass deutsche Delegierte sich „besorgt über die zunehmende gesellschaftspolitische Ausrichtung der Evangelikalen“ zeigten.[6] Es heißt dann weiter: „Pfarrer Rudolf Westerheide, Referent der deutschen Allianz und neues Mitglied des höchsten Leitungsgremiums der Weltallianz, dem Internationalen Rat, sagte, man müsse aufpassen, dass man sich nicht nur auf die Fragen von heute konzentriere und dabei die Fragen von morgen vernachlässige. So gelte, eine mögliche Gegenbewegung zu bedenken, etwa den Rückzug ins Private. Die Evangelikalen sollten im Blick auf gesellschaftspolitisches Engagement darauf achten, dass sie nicht ins Fahrwasser der Ökumene gerieten.“[7]

 

Wolfgang Polzer schrieb in idea in einem Kommentar über das evangelikale Treffen: „Teilweise unterschied sich das, was die 611 Delegierten aus 82 Ländern verhandelten, kaum von ökumenischen Tagungen. Noch eine Resolution zum Schuldenerlass für die armen Länder! Eine zur Gewalt gegen Frauen unterschied sich glücklicherweise dadurch, dass sie den Missbrauch in christlichen Gemeinden beim Namen nannte. Dann aber wieder altbekannte Themen wie Globalisierung, Aids, Migration, Flüchtlinge, Welthandel, das Mit- und Gegeneinander der Religionen – es war zwar alles schon gesagt, aber noch nicht von uns, war zu hören. Natürlich spielten Gebet und Bibel, Mission und Evangelisation in Kuala Lumpur eine große Rolle, aber die Akzentverschiebung ist unverkennbar.“[8]

 

Das Unbehagen an dieser Entwicklung ist in diesem Bericht unverkennbar (wobei hier angemerkt sei, dass die Gewalt gegen Frauen auch in christlichen Gemeinden durchaus schon häufig ein Thema bei ökumenischen Versammlungen war, also kein Thema ist, das das Treffen in Kuala Lumpur von Treffen etwa des ÖRK unterscheidet).[9]

 

Der Spagat der Evangelikalen zwischen geistlichem und politischem Einsatz

 

In dem idea-Kommentar machte Wolfgang Polzer deutlich, dass sich die Gewichte in der evangelikalen Weltbewegung verschoben haben: „Es kann nicht ohne Folgen bleiben, wenn die von Freiheit und Wohlstand verwöhnten Christen aus der Nordhalbkugel nicht mehr die Tagesordnung bestimmen. Die meisten Evangelikalen leben – wie Jesus – Seite an Seite mit den Ärmsten der Armen und den Unterdrückten in Ländern, die von Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Frieden nur träumen können. Sie leiden unter Anfeindungen, Krieg, Krankheit und Naturkatastrophen. Was die Vorherrschaft eines brutalen Wirtschaftssystems bedeutet, in dem nur die Starken bestimmen und verdienen, erleben sie am eigenen Leibe. Hingegen haben sie nie erfahren, was Soziale Marktwirtschaft, was ein Rechts- und Sozialstaat ist.“[10] Es wird in dem Kommentar dann gefragt: „Wie lange können die Evangelikalen den Spagat zwischen geistlichem und politischem Einsatz aushalten? Die Ökumene hat damit bittere Erfahrungen gemacht.“[11]

 

Die Schlusspassage des Kommentars lautet: „Wenn das evangelikale Schiff jetzt zu neuen Ufern aufbricht, sollten die Steuerleute sorgfältig auf den Kurs achten. Die See ist rau, und nicht weit unter der Oberfläche lauern Riffe und Felsen. Sinken wird das Schiff nicht, denn der Kapitän, Gott, hat den besten Überblick. Auf ihn sollte die Besatzung hören.“[12]

 

Was es bedeutet, auf Gott zu hören, das ist unter Evangelikalen zunehmend umstritten. Angesichts des Elends in vielen Teilen der Welt kommen immer mehr evangelikale Christinnen und Christen im Süden, aber auch zunehmend im Norden zu der Überzeugung, dass sie aus ihrem Glauben heraus verpflichtet sind, sich Not und Unrecht entgegenzustellen. Sie stellen zwischen den biblischen Verheißungen und den Hoffnungen der Armen auf ein besseres Leben eine Verbindung her und engagieren sich in der Gesellschaft.

 

Das Engagement für die Nöte der Armen durch diakonische Initiativen hat eine lange Tradition in der evangelikalen Christenheit, was aber nun vielen stärker bewusst wird, ist, dass es Situationen gibt, in denen es nicht ausreicht, die Wunden zu verbinden, sondern wo ein Engagement für eine grundlegende Veränderung der sozialen Verhältnisse gefordert ist.

 

Diese Überzeugung war in der WEF schon vor dem Treffen in Kuala Lumpur gewachsen. So heißt es in der „Iguassu Affirmation“ einer WEF-Missionskonferenz in Brasilien im Oktober 1999: „In einer Welt, die zunehmend von globalen Wirtschaftsmächten beherrscht wird, müssen Christen sich der alles zerfressenden Auswirkungen des Überflusses und der zerstörerischen Auswirkungen der Armut bewusst sein. Wir müssen uns klar machen, welche ethnozentrischen Vorstellungen unsere Einschätzung von Wirtschaftskräften prägen. Wir verpflichten uns, uns den Realitäten der Armut auf der Welt zuzuwenden und uns einer Politik entgegenzustellen, die den Mächtigen und nicht den Machtlosen dient. Es ist die Verantwortung der Kirche an jedem Ort, die Bedeutung und den Wert des Menschseins zu bekräftigen, und dies besonders dort, wo indigene Kulturen von der Vernichtung bedroht sind. Wir rufen alle Christen auf, sich dazu zu verpflichten, über Gottes Sorge für Gerechtigkeit und das Wohlergehen aller Menschen nachzudenken.

 

Die Erde ist des Herrn und das Evangelium ist die Gute Nachricht für alle Geschöpfe. Christen haben teil an der Verantwortung, die Gott der ganzen Menschheit gegeben hat, für die Erde zu sorgen. Wir rufen alle Christen auf, sich dadurch für die ökologische Integrität einzusetzen, dass sie eine verantwortungsbewusste Haushalterschaft der Schöpfung wahrnehmen, und wir ermutigen Christen zur Teilnahme an Initiativen zur Bewahrung und zum Schutz der Umwelt.“[13]

 

Aus einer evangelikalen Position heraus für grundlegende Veränderungen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen einzutreten

 

Innerhalb der weltweiten evangelikalen Bewegung hat die „International Fellwoship of Evangelical Mission Theologians“ (INFEMIT) und das mit ihr verbundene „Oxford Centre for Mission Studies“ eine Vorreiterrolle im Blick auf die Entwicklung einer ganzheitlichen Missionstheologie, die Evangelisation und sozial-politisches Engagement zu verbinden sucht, gespielt.[14] Mit Konferenzen, Büchern und Schwerpunktausgaben der Zeitschrift „Transformation“ ist die evangelikale Debatte zu ökonomischen Fragen vorangebracht worden.[15] Zu INFEMIT gehören vor allem Theologinnen und Theologen aus dem Süden der Welt sowie einige in sozialen Fragen engagierte Theologinnen und Theologen in Europa und Nordamerika.

 

Sie befassen sich oft mit den gleichen Themen wie die ökumenische Bewegung, aber in ihrem Bibelverständnis und ihrer Theologie stehen sie fest in der Tradition der evangelikalen Bewegung. Die Anwendung biblischer Verheißungen und Maßstäbe auf die heutige wirtschaftliche, soziale und politische Situation und besonders auf die große Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt bringt diese Theologinnen und Theologen dazu, gerade aus einer evangelikalen Position heraus für grundlegende, manchmal radikal formulierte Veränderungen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen einzutreten.

 

Die evangelikale Grundhaltung hindert die INFEMIT-Mitglieder nicht daran, eine enge Zusammenarbeit mit der ökumenischen Bewegung zu suchen. So ist der lateinamerikanische evangelikale Theologe René Padilla schon häufiger Teilnehmer ökumenischer Konferenzen gewesen, zum Beispiel des erwähnten „Colloquium 2000“ in Hofgeismar. Umgekehrt sind ökumenisch orientierte Christinnen und Christen bei eigenen Konferenzen willkommen. Ein Beispiel dafür war der Evangelisationskongress CLADE IV, zu dem die „Fraternidad Teológica Latinoamericana“ eingeladen hatte, der lateinamerikanische Zweig von INFEMIT. Zu den Rednern gehörten José Miguez Bonino (Argentinien) und Elsa Tamez (Mexiko), die zu den bekannten Vertretern der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie gehören. Im Schlussdokument der Konferenz heißt es: „Wir begreifen das Streben nach Gerechtigkeit für alle in der Vollmacht des Heiligen Geistes als zentralen Bereich unseres Auftrags.“ Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verpflichteten sich, aktiv an gesellschaftlichen Prozessen mitzuwirken, „welche das Leben und die Menschenwürde im leidenden Lateinamerika fördern“.[16]

 

Angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in Lateinamerika, der Folgen der Asienkrise der letzten Jahre und des wirtschaftlichen Niedergangs in vielen afrikanischen Staaten engagieren sich dort evangelikale Christinnen und Christen verstärkt in sozialen Fragen, und zwar sowohl in konkreten Projekten vor Ort als auch in einem Engagement für die Änderung der nationalen und internationalen Wirtschaftsordnungen und -beziehungen.

 

Diese Veränderungen werden erst allmählich von den evangelikalen, aber auch den ökumenisch engagierten Christinnen und Christen in Deutschland wahrgenommen. Die Kritik an der vorherrschenden Globalisierung ist in den Kirchen im Süden der Welt sehr breit, und das sollte ein Grund mehr sein, sich intensiv mit dieser Kritik auseinanderzusetzen.

 

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

  

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 



[1] Vgl. Press Release, WEF 11th Assembly, 10.5.2001

[2] Press Release, WEF 11th General Assembly, 9.5.2001

[3] Ebenda

[4] idea. 9.5.2001

[5] idea Spektrum 20/2001, S. 14

[6] Ebenda, S. 15

[7] Ebenda

[8] Ebenda, S. 16

[9] Vgl. hierzu u. a. den Brief der Frauen und Männer des Dekade-Festivals an die Achte Vollversammlung des ÖRK, in: Klaus Wilkens (Hrsg.): Gemeinsam auf dem Weg, Offizieller Bericht der Achten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, S. 366. Ebenso ist die Gewalt in christlichen Häusern und auch Pfarrhäusern ein Thema vieler Initiativen im Rahmen der Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt.

[10] Idea-Spektrum, 20/2001. S. 16

[11] Ebenda, S. 17

[12] Ebenda

[13] The Iguassu Affirmation, in: International Review of Mission, April 2000, S. 246              

[14] Vgl. Frank Kürschner-Pelkmann: Ein Evangelium, das befreit, Evangelikale Missionstheologen und ihr Zentrum in Oxford, in: Eine Welt, 4/99, S. 18ff.

[15] Hinzuweisen ist zum Beispiel auf die Ausgabe 4/2000 von „Transformation“, in der Beiträge einer Konferenz von Kirchen und Weltbank in Afrika veröffentlicht werden,  auf der Christinnen und Christen darstellten, wie sich die Maßnahmen und Auflagen der Weltbank in Afrika auswirken, und wo es dann zu einer spannenden Debatte mit Weltbankvertretern kam, deren Ergebnisse in diesem Heft reflektiert werden

[16] Die Zitate sind dem Beitrag „Der Graben wird kleiner“ von Martin Breitenfeldt in Eine Welt, 6/2000, S. 25, entnommen.