Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Als die Menschen an Euphrat und Tigris sesshaft wurden

 

Mesopotamien war Jahrtausende lang das kulturelle, politische und ökonomische Zentrum jener großen Weltregion, die wir heute Mittlerer Osten nennen. Im Norden Mesopotamiens entstand Assyrien, im Süden erst das Reich der Sumerer und dann die Reiche von Akkad und Babylonien. Diese und benachbarte Reiche rangen viele Jahrhunderte lang um die Vorherrschaft in der fruchtbaren Region. Mesopotamien bildet den östlichen Teil des „Fruchtbaren Halbmondes“ auf der Arabischen Halbinsel, der im Tal des Jordan beginnt und über das östliche Syrien im Bogen bis zum Persischen Golf reicht. Zu beachten ist, dass diese Begrifflichkeit aus der Neuzeit stammt und nicht das Bewusstsein der Menschen, die vor Jahrtausenden in dieser Weltregion lebten, bestimmt hat.

 

Der fruchtbare Boden Mesopotamiens ermöglichte es etwa vom 16. Jahrtausend v. Chr. an ersten kleinen Gruppen von Menschen, die bis dahin übliche nomadische Lebens- und Wirtschaftsweise aufzugeben und sesshaft zu werden. Zunächst beschränkten sie sich darauf, weiterhin ihr Überleben durch Jagen und Sammeln zu sichern, aber ganz allmählich gelang es ihnen, einzelne besonders geschätzte Pflanzen, vor allem Getreide, selbst anzupflanzen und ertragreichere Sorten zu züchten. Parallel dazu konnten einige Tierarten wie Schafe, Ziegen, Schweine und Rinder domestiziert werden. Dieser Prozess der Entwicklung einfacher Formen von Ackerbau und Viehzucht zog sich über mindestens 10.000 Jahre hin. Er bewirkte eine Revolution im Leben der Menschen in Mesopotamien und dann auch in Afrika, Asien und Europa. Das, was wir heute als Zivilisation bezeichnen, wäre ohne diese grundlegenden wirtschaftlichen Fortschritte nicht möglich gewesen.

 

Mesopotamien wurde zu einem Zentrum der neuen sesshaften Gemeinschaften, weil hier die natürlichen Bedingungen für Ackerbau und Viehzucht besonders günstig waren. Die Flüsse Euphrat und Tigris hatten durch Ablagerungen im Laufe von vielen Jahrtausenden das fruchtbare Schwemmland entstehen lassen, und das Flusswasser ermöglichte schon vor Jahrtausenden eine Bewässerung der Felder. Nordmesopotamien erhält im Winter so viel Niederschläge, dass hier auch ein Regenfeldbau möglich ist, während die Landwirtschaft im Süden ganz vom Wasser der Flüsse abhängig war und ist.

 

Vor allem der Euphrat hat ein flaches Flussbett. Dass das Land kaum höher als der Wasserspiegel des Flusses ist, erleichterte die Nutzung des Flusswassers für Bewässerungszwecke. Aber diese Bewässerungslandwirtschaft gestaltete sich schwieriger als in Ägypten. Stets drohte in dem flachen Schwemmland eine Verlagerung des Flusslaufes – mit katastrophalen Folgen für die Bauern, deren Felder überschwemmt wurden, und auch für jene Bauern, deren Felder plötzlich weit entfernt vom neuen Flussverlauf lagen. Auch strömte die größte Menge Flusswasser im März und April durch Mesopotamien, zu einer Zeit, wo es den Bauern wenig half, weil das Getreide bald geerntet werden sollte und Überschwemmungen sich verheerend auswirken konnten.

 

Deshalb waren der Deichbau und Maßnahmen zur Speicherung des Wassers unerlässlich, wenn eine erfolgreiche Landwirtschaft betrieben werden sollte. Diese Wasserbaumaßnahmen erforderten und ermöglichten die Entstehung politischer Strukturen, die über ein Dorf oder eine Kleinstadt hinausreichten. Die Gründung großer Städte und Reiche wurde allerdings erst möglich, als die Landwirtschaft so hohe Erträge auf dem fruchtbaren Schwemmlandboden erzielte, dass eine wachsende städtische Bevölkerung zusätzlich ernährt werden konnte.

 

Der Fortschritt in Mesopotamien hatte einen Namen: Uruk

 

Die Stadt Uruk (in der Bibel: Erech) im Süden Mesopotamiens, die von Sumerern bewohnt wurde, entwickelte sich von etwa 4.000 v. Chr. an zu einem Zentrum politischen Lebens und kultureller und technologischer Innovationen. Die Archäologin Margarete van Ess, die seit Mitte der 1990er Jahre Ausgrabungen in Uruk (etwa 260 km südlich von Bagdad) geleitet hat, schreibt zur Bedeutung des Ortes: „Uruk, das ist ein Schlüsselwort der Menschheitsgeschichte. Vor etwa 6.000 Jahren entwickelte sich in Südmesopotamien eine Form des Zusammenlebens, die uns heute selbstverständlich erscheint – die Stadt.“[8] Diese Stadt, so haben deutsche Archäologen und Archäologinnen bei umfangreichen Grabungen seit 1912 nachgewiesen, wurde von einem Netz von Kanälen durchzogen, was möglich wurde, weil der Euphrat in der Blütezeit von Uruk nahe der Stadt vorüberfloss und sein Wasser abgeleitet werden konnte.

 

Mit etwas Fantasie könnte man Uruk als das Amsterdam des alten Orients bezeichnen. In dieser ersten Großstadt in der Geschichte der Menschheit mit bis zu 50.000 Bewohnern wurde die heute selbstverständliche Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Berufsgruppen eingeführt. Vor allem im Handwerk entstanden viele neue Berufe, und es bildeten sich gleichzeitig hierarchische Strukturen in der Gesellschaft. Das „Modell Stadt“ wurde zu einem so großen Erfolg, dass bald weitere Städte in Mesopotamien und benachbarten Regionen entstanden – nicht zuletzt Babylon.

 

In Uruk entwickelten die Menschen eine erste Keilschrift, die in Tontafeln eingeritzt wurde. Außerdem nahm hier die Mathematik ihren Anfang. Auch das Rad wurde in dieser Zeit erfunden. Und nicht zu vergessen: Hier entstand die erste städtische Verwaltung, von der wir heute noch wissen. Wie wichtig eine effiziente Organisation gemeinsamer Arbeitsvorhaben schon damals war, lässt sich erahnen, wenn man erfährt, dass für die neun Kilometer lange Stadtmauer von Uruk etliche Millionen Lehmziegel hergestellt und vermauert wurden.

 

Die Entwicklung der sich drehenden Töpferscheibe vereinfachte und beschleunigte die Keramikherstellung in Uruk beträchtlich, und diese Innovation verbreitete sich rasch im ganzen Mittleren Osten und darüber hinaus. Wahrscheinlich war die Massenproduktion von einfachen Tongefäßen in Uruk bereits so perfektioniert, dass die von Archäologen in großer Zahl gefundenen Glockentöpfe als billiges „Wegwerfgeschirr“ verwendet wurden. Auch das Bierbrauen erlebte in Uruk eine erste Blüte. Die Massenproduktion von Keramik, Textilien, Lederwaren und weiteren Gütern bildete die Grundlage dafür, den Fernhandel systematisch auf- und auszubauen. Da es im Schwemmland von Mesopotamien sehr wenig Holz und keine Metallvorkommen gab, ermöglichte der Fernhandel es, an diese unverzichtbaren Güter zu gelangen. Besonders begehrt war das Holz der Zedern, die an der Mittelmeerküste wuchsen. Nicht zuletzt für den Fernhandel erwies sich die Keilschrift als geradezu unverzichtbar, wollte man sich doch nicht länger allein darauf verlassen, dass die „Geschäftskorrespondenz“ und die Preisvorstellungen von den Karawanenbegleitern nach Monaten aus dem Gedächtnis übermittelt wurden. Die zunächst einfachen Schriftzeichen wurden bald auch in fernen Städten verstanden, und individuelle Rollsiegel bekräftigten, dass die Nachricht wirklich vom Geschäftspartner in Mesopotamien geschickt worden war.

 

Uruk wuchs im 3. Jahrtausend v. Chr. zu einer Großstadt mit annähernd sechs Quadratkilometer Fläche, und die Herrscher schafften es, zumindest für einige Zeit, ganz Mesopotamien unter ihre Kontrolle zu bringen. In Uruk fanden die Regierenden bald heraus, dass sich eine Großstadt nicht allein mit einer Armee und einer effizienten Verwaltung zusammenhalten ließ. Es bedurfte auch Mythen und einer Religion, die Antworten auf die Grundfragen des Lebens gaben und die eine gemeinsame Identität der Stadtbewohner entstehen ließen. Bekannt ist Uruk heute vor allem noch durch das Gilgamesch-Epos, in dessen Mittelpunkt der berühmteste König der Stadt steht.

 

Zwar verlor Uruk seine politische und militärische Vormachtstellung gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr., aber die Stadt blieb weiterhin das religiöse und kulturelle Zentrum des südlichen Mesopotamien. 4.500 Jahre lang wurde Uruk fast ohne Unterbrechung bewohnt. Erst im 4. oder 5. Jh. n. Chr. endete die Geschichte der Stadt, nachdem wichtige Handelswege verlagert worden waren und nicht mehr durch Uruk führten. Auch die politische Bedeutung der Stadt war zu dieser Zeit längst Geschichte.

 

Aller Anfang ist klein

 

Und Babylon? Über diesen Ort erfahren wir zunächst gar nichts, und es kann kein Zweifel bestehen, dass die Stadtkultur von Babylon ohne die vielen kulturellen und ökonomischen Innovationen in älteren Städten wie Uruk und Ur nie möglich gewesen wäre. Aus diesen Städten erfahren wir auch von ersten staatlichen Strukturen und ersten Herrscherdynastien. Ökonomisch weiteten sich die Handelsbeziehungen bis nach Anatolien und dem Iran aus. Auch erste Handelskontakte nach Ägypten sind überliefert.

 

Immer wieder kam es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Stadtstaaten, und von 2350 v. Chr. an gelang es den Herrschern der Stadt Akkad, aus den eroberten Städten einen Staat zu bilden. Sargon von Akkad (2334-2279 v. Chr.) war dessen erster König. Seine Nachfahren konnten das Staatsgebiet etwa auf eine Fläche ausdehnen, die dem späteren Babylonien entsprach. Aber die Herrschaft der Könige von Akkad wurde immer wieder durch Aufstände der selbstbewussten Städte gefährdet. Um die bedrohte staatliche Macht zu festigen, wurden Verwandte des Königs mit der Herrschaft über eroberte Städte betraut, und man setzte auch die Religion als Herrschaftsinstrument ein. Der jeweilige König wurde zum Gott erklärt und musste verehrt werden. Diese Instrumentalisierung der Religion wurde später in Babylon fortgeführt.

 

Babylon wurde während der Herrschaftszeit der Könige von Akkad erstmals auf Keilschrifttafeln erwähnt, besaß allerdings damals noch keine große Bedeutung. Um 2100 v. Chr. fand die akkadische Herrschaft ein Ende, weil sie den aus dem Norden einfallenden Gutäern unterlagen. Die mesopotamischen Städte und ihre Fürsten nutzten diese Auseinandersetzungen, um erneut eine größere Unabhängigkeit zu erlangen. Allerdings konnte eine neue Herrscherdynastie von Ur aus die Invasoren vertreiben und die südmesopotamischen Städte zu einem neuen Staat unter ihrer Herrschaft zusammenfügen. Die Hauptstadt Ur wurde prächtig ausgebaut und erhielt     als religiösen Mittelpunkt eine Zikkurat, einen mehrstufigen Tempel. Dank der       weiter entwickelten Keilschrift war es nun möglich, einen zentralistischen Staat aufzubauen und durch eine intensive Kommunikation mit den lokalen Vertretern des Herrscherhauses zu kontrollieren. Auch der Siegeszug der staatlichen Bürokratie war nun nicht mehr aufzuhalten und setzt sich bekanntlich bis heute fort. Aus der Zeit der Könige von Ur sind Zehntausende Anordnungen, Rechnungen und Quittungen auf Tontafeln erhalten geblieben. Trotz (oder wegen?) der staatlichen Bürokratie nahm die Wirtschaft einen anhaltenden Aufschwung, und auch der Fernhandel wurde stark ausgeweitet. Zu erwähnen ist zudem, dass in Ur eine königliche Rechtssprechung und erste Gesetzessammlungen entstanden.

 

Allerdings währte die Herrschaft der Könige von Ur nur etwa ein Jahrhundert, dann führten Überfälle von benachbarten Völkern und das Unabhängigkeitsstreben der mesopotamischen Städte zu einem Niedergang dieses ersten zentralistischen Staates. Diese Zeit der Auflösung alter Strukturen und der bewaffneten Konflikte ermöglichte den Aufstieg der Stadt Babylon zur dominierenden politischen Macht der Region. Etwa in dieser Zeit hat sich nach biblischer Darstellung Abraham mit seiner Familie aus Mesopotamien auf die Reise nach Kanaan begeben.

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann