Auf dem Weg zu einer anderen Globalisierung

 

Die Beschäftigung mit biblischen Texten und ihrem Kontext, mit theologischen Positionen in anderen Teilen der Welt zur Frage der Globalisierung und mit der ökumenischen Debatte zu diesen Themen macht Perspektiven auf dem Weg zu einer anderen Globalisierung sichtbar. Sie sollen in diesem abschließenden Kapitel kurz skizziert und dann in einer weiteren Studie zur Globalisierung, die in Kürze vorgelegt werden wird, ausführlicher entfaltet werden.

 

Eine fundierte Analyse der Globalisierung

 

Die Tradition der Propheten und das Evangelium nötigen zu einer gründlichen Analyse und einer konsequenten Kritik von Missständen und Elend auf Grund der bestehenden nationalen und internationalen Wirtschaftsstrukturen. Dies ist nicht nur eine Verantwortung gegenüber den Opfern dieser Verhältnisse, sondern auch gegenüber denen, die dieses System kontrollieren und verteidigen und nicht selten übersehen, welche Konsequenzen ihr Handeln hat. Dazu gehört es, sich nicht auf einzelne Sektoren wie den Finanzsektor zu beschränken, sondern die Komplexität des Gesamtsystems zu verstehen.

 

Ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung ist von den Auswirkungen dessen betroffen, was unter dem Stichwort Globalisierung zusammengefasst wird. Die komplexen wirtschaftlichen Zusammenhänge, die die einen zu „Gewinnern“ und die anderen zu „Verlierern“ dieses Prozesses machen, durchschaut aber nur eine Minderheit. Deshalb ist eine ökonomische Alphabetisierung unerlässlich, und die Kirchen, ihre Werke und Bildungseinrichtungen können hierzu Beiträge leisten. Ebenso wichtig ist es, die sozialen, kulturellen und religiösen Konsequenzen dessen zu erkennen, was unter dem Stichwort Globalisierung zusammengefasst wird.

 

Diese Einsichten in den Zustand der Welt können dann in Beziehung gesetzt werden zu den biblischen Verheißungen. Dafür müssen die Texte in ihrem sozialgeschichtlichen Kontext verstanden und interpretiert werden, ein sehr spannender Prozess, wie im ersten Teil dieses Buches zumindest in Umrissen sichtbar geworden ist.

 

Es geht dabei nicht um eine Sezierung der biblischen Texte oder eine rationalistische Zertrümmerung der wunderbaren Geschichten, sondern darum, sie neu und bereichernd zu lesen, wenn man erfahren hat, wie sie entstanden sind und an welche Menschen sie ursprünglich gerichtet waren. Deutlich wird dann auch, wie Jesus eine Traditionslinie im Alten Testament aufgenommen, auf seine Zeit bezogen und konsequent fortgeführt hat. So lässt sich der in der Theologie- und Kirchengeschichte immer wieder unternommene Versuch vermeiden, das Neue gegen das Alte Testament auszuspielen und dabei nicht selten einem Antijudaismus zu erliegen. Jesus steht aber in der befreienden Tradition von Propheten des Alten Testaments, und diese Tradition gilt es heute in den Auseinandersetzungen mit negativen Auswirkungen des Globalisierungsprozesses fortzuführen.

 

Analysen müssen zusammengefügt werden

 

Die Dynamik des Prozesses der Globalisierung ist recht genau bekannt – aber während die einen meinen, dass am Ende alle davon profitieren, wollen die anderen das heutige Elend der „Verlierer“ nicht hinnehmen und glauben nicht an ein märchenhaft gutes Ende des Globalisierungsprozesses. Der Chef des Chemiekonzerns Dupont, Charles Holliday, leugnete beim Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2001 die Schattenseiten der Globalisierung nicht, verglich sie aber mit einem Fluss, der den Menschen an den Ufern unendlich viel Gutes bringe, jedoch auch Risiken berge.[1] Es komme darauf an, das Positive zu nutzen und sich gegen mögliche negative Auswirkungen zu schützen. Die Gegner des gegenwärtigen Globalisierungsprozesses verweisen hingegen auf die lebensbedrohenden ökologischen Schäden und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

 

Es gibt unzählige Analysen zu den Folgen der Globalisierung und zahllose Zeitungs- und Zeitschriftenberichte über die Gefahren, von denen die Menschheit und der ganze Globus bedroht sind. Von daher besteht kein großer Bedarf an neuen Analysen, sondern eher daran, die Erkenntnisse und Ereignisse in einen Zusammenhang zu stellen.

 

Vorbei sind – zumindest hierzulande – die Zeiten, wo die Mächtigen durch Zensur die Menschen daran gehindert haben, die Wahrheit zu erkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Heute sind Millionen und Abermillionen Fakten bekannt, die ein Bild der Welt ermöglichen, aber gerade diese Flut von Informationen verhindert oft, dass Zusammenhänge erkannt und Engagement geweckt werden. Es stellt sich sogar die Frage, ob beispielsweise in vielen Tageszeitungen überhaupt angestrebt wird, Fakten in einen Zusammenhang zu stellen. So wird im politischen Teil der Zeitung auf eine neue Studie zu den Folgen der Erderwärmung hingewiesen, im Wirtschaftsteil wird auf die Gewinne eines Autokonzerns eingegangen, im Reiseteil werden Flugreisen auf die Malediven angepriesen, im Autoteil wird der neue Allradantrieb-„Landcruiser“ empfohlen und unter Vermischtes ist dann von einer Flutkatastrophe in Bangladesch die Rede. Einen Zusammenhang zwischen diesen Meldungen und Berichten herzustellen, könnte bedeuten, diverse Anzeigenkunden zu verprellen. Also kommen die Zeitungen ihrer „Chronistenpflicht“ nach – aber fein sortiert nach Rubriken.

 

Auch an wissenschaftlichen Studien, die anhand von Einzelproblemen einen dringenden Handlungsbedarf aufzeigen, fehlt es nicht. Jede weitere Studie zu den Folgen der Urwaldzerstörung oder zur Verschmutzung der Meere wird dadurch nicht irrelevant, aber ihre wirkliche Bedeutung gewinnt sie erst, wenn sie in einen Zusammenhang mit anderen Studien gestellt wird, die verwandte Probleme beleuchten und die so globale Zusammenhänge erkennen lassen. Es ist vor allem Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace zu verdanken, dass solche Studien erstens bekannt und zweitens in ihren Zusammenhängen dargestellt werden.

 

Es gilt allerdings, Abschied zu nehmen von der Hoffnung, dass die Wahrheit, wenn sie nur bekannt wird, die Welt verändert, also der Hoffnung, dass Missstände, die ans Licht der Öffentlichkeit gebracht worden sind, nun auch abgestellt werden. Nicht, dass die Wahrheit unwichtig geworden wäre, aber es bedarf großer Anstrengungen, damit aus der Erkenntnis der Wahrheit Konsequenzen gezogen werden. Ohne spektakuläre Aktionen wie die Besetzung einer Bohrplattform oder die Blockade eines Firmeneingangs ist oft gar nichts zu erreichen.

 

Leider ergreift die in Kirchen und Gruppen organisierte Christenheit recht selten die Initiative für solche Initiativen und Aktionen, sondern greift sie bestenfalls auf, nachdem andere sich schon Monate oder Jahre in einer Sache engagieren. Einer der Gründe dafür: Die Kirchen, christliche Initiativen und einzelne Christinnen und Christen können die Kritik an den Strukturen von Unrecht und Verarmung nur überzeugend vertreten, wenn sie fundierte Kenntnisse der wirtschaftlichen und sozialen Abläufe haben. Hieran mangelt es in vielen Kirchen noch. Die wenigen spezialisierten Einrichtungen in den Kirchen oder von den Kirchen unterstützt, wie zum Beispiel die Werkstatt Ökonomie in Heidelberg oder Südwind in Siegburg, sind hier schon weiter. Auch ökumenische Netzwerke wie Kairos Europa wären hier zu erwähnen.

 

Die Frage der Verantwortung

 

Wer trägt die Verantwortung für die negativen Folgen der Globalisierung? Die Frage klingt simpel, ist aber kompliziert zu beantworten. In der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Globalisierung kommt der Frage der Verantwortlichkeit eine ganz zentrale Bedeutung zu. Auf biblischer Grundlage muss neu durchdacht werden, wie sündhaftes Verhalten von Einzelnen, die Mitverantwortung derer, die von den vorherrschenden Verhältnissen profitieren, und strukturelles Unrecht zusammenhängen. Einer „Verantwortungslosigkeit“ aller Beteiligten muss entgegengetreten werden.

 

Viele der Akteure argumentieren, sie würden ja anders handeln, wenn die Verhältnisse nicht so wären, wie sie sind. So, wie die Sache nun aber einmal sei, könnten sie gar nicht anders, als genauso entschieden um Marktanteile und Gewinne zu kämpfen wie die Konkurrenz. Gleichzeitig verteidigen sie allerdings das System, das sie zu einem solchen Verhalten zwingt oder angeblich zwingt. Jeder und jede, die aktiv und oft auch aggressiv in diesem System agiert, um Erfolg zu haben und dabei Schäden der Umwelt und die Ausnutzung der Mitmenschen und Mitgeschöpfe in Kauf nimmt, ist für die Folgen des Tuns verantwortlich. Ebenso tragen all jene Verantwortung, die das herrschende System propagieren und aktiv verteidigen, sei es als Politiker oder als Vertreter eines Wirtschaftsverbandes. Und es gibt schließlich die Verantwortung derer, die schweigen und wegschauen und von nichts etwas gewusst haben wollen.

 

Bei der Untersuchung und Beschreibung der Skandale muss eine „Verantwortungslosigkeit“ vermieden werden, sei es, dass nur die anderen, die Konzerne, die Regierungen, die Weltbank ... die Verantwortung für die Probleme tragen, sei es, dass „wir“ alle verantwortlich gemacht werden, alle in gleicher Weise, und damit die besondere Verantwortung derer aus dem Blick gerät, die Machtpositionen innehaben und in großem Stil vom Status quo profitieren und ihn verteidigen. Gerade in den Kirchen besteht leider die Gefahr, mit dem „wir“ rasch bei der Hand zu sein, wo die besondere Verantwortung Einzelner klar benannt werden müsste.

 

Viele der führenden Akteure der Globalisierung haben in Reden, Artikeln und Büchern ihre Motivation und ihre Ziele beschrieben. Sie sind nicht oder doch nicht nur die skrupellosen Macher, die ohne jede Rücksicht auf dem Weg nach ganz oben unterwegs sind, aber sie machen erfolgreich mit in einem System, das es belohnt, besser und cleverer als die anderen zu sein und sich so durchzusetzen. Der Manager von nebenan ist ein freundlicher Nachbar, ein guter Familienvater – und der Mitwirkende an einem Wirtschaftssystem, das keine Zukunft hat und keine Zukunft schafft, so jedenfalls die Gegner der neoliberalen Globalisierung.

 

Dass die Verfechter des Systems das Beste wollen (und das oft nicht nur für sich und die Aktionäre), macht die Sache komplizierter. Es ist nicht die böse Absicht Einzelner, die die Globalisierung mit ihren verheerenden Folgen voranbringt, sondern es sind die „Gesetze“ eines Systems, das eine innere Logik hat, die aber – so wieder die Kritiker – für viele eine tödliche Logik ist. Wie der reiche Jüngling stehen aber viele vor der Frage, ob sie bereit sind, Jesus nachzufolgen. Der Zöllner Zachäus hat vorgemacht, was es bedeutet, sich von den Gesetzen und Zwängen eines Systems zu lösen, das viele arm und wenige reich macht. Gott oder Mammon – diese Frage stellt sich im Angesicht des vorherrschenden globalen Systems.

 

Die Theologie der letzten Jahrzehnte hat sich häufiger mit dem Zusammenhang zwischen der Verantwortung der einzelnen Menschen und dem Bösen in den Strukturen auseinander gesetzt. Nach Auschwitz hat diese Frage eine neue Brisanz gewonnen. Die Beschäftigung mit dieser Extremsituation menschlichen Unrechts kann den Blick schärfen für den Umgang mit dem alltäglichen Unrecht, für das die individuelle Verantwortung sehr viel weniger leicht erkennbar ist.

 

Auch hier ist vor Vereinfachungen zu warnen: Globale Konzerne und Institutionen tragen nicht die alleinige Verantwortung für die Misere in vielen Ländern. Ohne eine radikale Erneuerung des politischen und wirtschaftlichen Lebens sind viele arme Länder dazu verurteilt, auch bei verbesserten internationalen Rahmenbedingungen in Armut und Elend zu leben.

 

Zu Recht weisen die Befürworter der wirtschaftlichen Liberalisierungsprozesse darauf hin, dass nicht alles Elend der Welt der Globalisierung angelastet werden kann. Die Unfähigkeit einer despotischen Regierung muss als Ursache vieler Leiden wahrgenommen werden, ohne dahinter immer den bösen Schatten der Globalisierung zu sehen. Das wäre letztlich eine neue Entmündigung der Länder im Süden der Welt. Die Menschen in diesen Ländern sind Akteure, beeinflussen ihre Zukunft selbst ganz entscheidend und sei es in Gestalt einer brutalen Militärclique.

 

Eine realistische Analyse der Mitverantwortung der Mächtigen eines Landes für die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten ist also die Voraussetzung für ein wirksames ökumenisches Engagement. Die ökumenische Bewegung für eine andere Globalisierung gewinnt ihre Stärke daraus, dass sie internationale und nationale Ursachen von Not und Elend erkennt, ebenso die auf diesen Ebenen vorhandenen Handlungsmöglichkeiten, um dann lokal und global aktiv werden zu können.

 

Die Benennung lokaler Mitverantwortlicher für die Misere in vielen Ländern ist aber keineswegs ein „Persilschein“ für die Kräfte, die die wirtschaftliche Globalisierung tragen und von ihr profitieren. Jenseits der platten Argumentation, im Grunde sei die Globalisierung an allem Schuld, wird erst das wirkliche Ausmaß der Verantwortung derer deutlich, die diesen weltweiten Prozess steuern und von ihm profitieren. In einer zunehmenden Zahl fundierter Analysen, von denen einige unter Mitwirkung von Kirchen und kirchlichen Werken entstanden sind, wird das ganze Ausmaß der negativen Folgen des Prozesses deutlich, der unter dem Stichwort Globalisierung zusammengefasst wird.

 

Die Frage der Verantwortung ist mit der Frage verknüpft: Was kann ich schon ändern? Ist angesichts der riesigen Summen Spekulationskapital, die jeden Tag um den Globus kreisen, nicht völlig unerheblich, wie ich meine kleinen Ersparnisse anlege? Was macht es schon aus, wenn ich Wasser spare, wo doch alle anderen das Wasser verschwenden? Hinter solchen Fragen steht die nach dem Verhältnis von individuellem Verhalten und sozialen Strukturen.

 

Deutlich scheint mir zu sein, dass einseitige Positionen in die Irre führen. Wenn ein gravierendes soziales Problem besteht, können wir nicht darauf warten, dass sich zunächst einmal alle Menschen einzeln verändern und das Problem dann überwunden wird. Das wäre ein zutiefst inhumaner Ansatz, weil er in Kauf nimmt, dass die Opfer der Missstände so lange warten sollen, bis alle eingesehen haben, dass ihr Verhalten falsch ist und sich ändern. Biblisch begründen lässt sich ein solcher Ansatz auch nicht, im Gegenteil, die Tora ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie Gott zu einer Veränderung des individuellen Verhaltens und der Regeln des sozialen Zusammenlebens auffordert.

 

Umgekehrt gilt aber auch, dass es nicht ausreicht, brillante Analysen globaler Probleme zu liefern und Strukturveränderungen der Weltwirtschaft zu fordern, persönlich aber so weiterzuleben wie bisher. Dies ist unglaubwürdig, schwächt damit die Überzeugungskraft der eigenen Argumente und ist inkonsequent, weil ignoriert wird, dass es ohne ein entschiedenes Verhalten der Einzelnen keine grundlegenden Veränderungen auf der Welt geben wird.

 

Wer sich öffentlich für ethisches Investment und Tobin-Steuer einsetzt, aber persönlich sein Geld in Fonds investiert, die auf Spekulationsgewinnen und obskuren Transaktionen beruhen, der desavouiert den Gedanken eines anderen, ethisch verantwortlichen Wirtschaftens. Ein Beispiel dafür, wie individuelles Protestverhalten und die Forderung nach grundlegenden Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen miteinander verbunden werden können, war die Kampagne „Kauft keine Früchte der Apartheid“. Die individuelle Entscheidung, keine Früchte aus Südafrika zu kaufen, solange die Apartheid bestand, wurde verknüpft mit einem politischen Engagement, das zum Ziel hatte, auch andere zu einem solchen Kaufverhalten zu veranlassen, öffentlich gegen die Apartheid zu protestieren und aufzudecken, wie Unternehmen hierzulande mit dem weißen Minderheitsregime in Südafrika auf höchst profitable Weise zusammenarbeiteten.

 

Proteste gegen Straßenbaumaßnahmen und neue Landebahnen wären sehr viel überzeugender, wenn sie mit der Selbstverpflichtung verbunden würden, weniger oder gar nicht mehr Auto zu fahren oder zu fliegen. Die Forderung, dass die Umgehungsstraße nicht am eigenen Haus vorbeiführen soll, ist verständlich, aber sie ist wenig überzeugend, wenn es keine überzeugende und durch eigenes Verhalten vorgelebte Alternative für die Menschen gibt, die jetzt in der Nachbarschaft unter dem ständig wachsenden Autoverkehr leiden und ihre ganze Hoffnung auf die Umgehungsstraße setzen. Wer nicht auf Kosten anderer Lösungen lokaler und globaler Probleme durchsetzen will, der muss sein eigenes Konsumverhalten grundlegend verändern.

 

Empörung – ein wichtiger Schritt zur Veränderung

 

Gemessen an den negativen Auswirkungen der Globalisierung und des Wissens um diese Konsequenzen fast ungehinderter Raffgier halten sich die Proteste bisher in Grenzen, besonders in den wirtschaftlich reichen Ländern. Ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg, dies zu verändern, ist die Empörung. Es war und ist empörend, wenn die EU plant, Hunderttausende von Kühen zu töten und dann zu vernichten, weil sie „überflüssig“ geworden sind in der industrialisierten und durch und durch kommerzialisierten Landwirtschaft, während gleichzeitig jeden Tag 100.000 Menschen auf der Welt verhungern.

 

Es reicht nicht aus, darauf hinzuweisen, dass die kostenlose Lieferung des Fleisches in arme Regionen der Welt für sich genommen auch keine Lösung des Problems darstellt, weil dort dann der Agrarmarkt zusammenbricht (auch wenn diese Analysen vermutlich zutreffend sind). Es muss etwas grundlegend falsch sein an einem Wirtschaftssystem, in dem es logisch und rational ist, im Rahmen einer „Marktbereinigung“ Lebensmittel zu vernichten. Darüber können diejenigen, die sich für eine menschlichere Welt einsetzen, und darunter sollten alle Christinnen und Christen sein, nicht zur „Tagesordnung“ übergehen.

 

Es gibt viele andere Gründe, sich über die Auswirkungen der vorherrschenden Wirtschaftsweise zu empören, so zum Beispiel über die unter skandalösen Bedingungen durchgeführten Viehtransporte kreuz und quer durch Europa, die nur in dem EU-Agrarsystem ihre Logik haben, ansonsten aber als absolut überflüssig anzusehen sind und ein großes Leiden der Tiere verursachen. Wie bei des Kaisers neuen Kleidern gilt es, die Wirklichkeit zu erkennen und diese dann auch laut und vernehmlich beim Namen zu nennen.

 

Das herrschende Wirtschaftssystem ist keine Naturkatastrophe, wo alle ratlos dastehen und zusehen müssen, wie das Unheil voranschreitet. Kritik und Empörung eröffnen die Chance, dass die Verantwortlichen zur Einsicht kommen. Es hat schon mehr als einen Konzern gegeben, der unter der erdrückenden Last der Beweise seine Zulieferer in Costa Rica oder Bangladesch veranlasst hat, unmenschliche Arbeitsbedingungen wenigstens etwas zu verbessern. Eine ethische Grundhaltung, die bei vielen anzutreffen ist, die verantwortliche Positionen in der Wirtschaft haben, zwingt sie zum Handeln. Aus der Empörung heraus sollten nicht Menschen und Betriebe verurteilt werden, sondern deren Handlungen. Darüber lässt sich streiten, und es lassen sich Missstände abbauen. Die Unternehmen haben die Chance, ihr wirtschaftliches Verhalten grundlegend zu verändern.

 

Dass Empörung wichtig ist und wie die Menschen sie konstruktiv einsetzen können, dafür liefert die Bibel viele Beispiele. Die Empörung über bestehendes Unrecht und die Ausgrenzung der Armen war ein wesentlicher Anstoß für die öffentlichen Anklagen der Propheten. Jesu Empörung war der Anstoß für die Austreibung der Geldwechsler aus dem Tempel. Empörung führt in all diesen Fällen zu Protest und zu einem Reden und Handeln, das auf eine Beseitigung der Missstände abzielt. Heute sind viele Christinnen und Christen im Süden der Welt empört über die negativen Auswirkungen der Globalisierung, und das hat – wie gezeigt – auch Einfluss auf ihre Theologien. Sie sind die Propheten von heute, auf die im reichen Teil der Welt noch zu wenige hören.

 

Wider die Vereinfachung

 

Der analytischen Präzision vieler kritischer Auseinandersetzungen mit der Globalisierung steht leider nicht selten eine Vereinfachung in der Argumentation gegenüber. Gefährlich wird es vor allem dann, wenn Entwicklungen monokausal erklärt werden. Wenn die Unrechtsherrschaft des (ermordeten) kongolesischen Präsidenten Laurent Kabila allein als Ergebnis der Globalisierung erklärt wird, dann wird diese Globalisierung wirklich zu einem Gespenst, einem Gespenst, vor dem sich vor allem die Gegner dieses Prozesses fürchten müssen. Von daher ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer anderen Globalisierung die verständliche Vermittlung der Prozesse und der Probleme, die mit der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Integration verbunden sind. Der Diktatur der kurzen Statements und Schlagworte, die immer stärker den hiesigen politischen Diskurs beherrschen, muss eine ausführliche Argumentationsweise entgegengestellt werden, die der Komplexität der Probleme gerecht wird.

 

Von ganz großer Bedeutung ist es dabei, hinter den Statistiken und Analysen die Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren, die betroffen sind von wirtschaftlichen Entscheidungen, die weit entfernt getroffen werden, auf die sie keinen Einfluss haben und die sie meist nicht einmal kennen. Die Menschen und ihr „Schicksal“ müssen im Mittelpunkt der Argumentation stehen, und dabei lässt sich mit dem „Kleinen Prinzen“ sagen: „Sehen ist eine Gabe des Herzens, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Das Wesentliche, das ist nicht die Katastrophenmeldung von der Not in einer afrikanischen Hungerregion, sondern das Mitfühlen mit denen, die von Gott geschaffen wurden und die nun um ihr Leben gebracht werden. Das Wesentliche ist, dass „ferne Nächste“ zugrunde gehen, obwohl es auf der Welt mehr als genug gibt, um allen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Die andere Globalisierung beginnt mit dem Mitgefühl mit denen, die meist nur in den Statistiken des Schreckens auftauchen.

 

Protest

 

Zu einer wirksamen Auseinandersetzung mit Missständen gehört oft die bewusste Konfrontation mit denen, die Verantwortung für diese Verhältnisse tragen. In anderen Situationen kann es erfolgversprechender sein, den Dialog mit denen zu suchen, die zu einem veränderten Verhalten bewegt werden sollen. Aber Dialog bedeutet, dass die eigene Position entschieden vertreten wird. Die Kirche kann in der Begegnung zwischen „Gewinnern“ und „Verlierern“ der Globalisierung nicht ein neutraler Gesprächsleiter sein, sondern ihr Platz ist dort, wo Jesu Platz gewesen wäre und ist, an der Seite der Opfer.

 

Wenn in den Medien von den Treffen der wirtschaftlich Mächtigen dieser Welt berichtet wird, sei es in Seattle, Prag, Davos oder Genua, dann werden sie spektakulär ins Bild gebracht: vermummte Gegner der Globalisierung, mit einem Stein in der Hand und – besonders telegen – hinter einer brennenden Barrikade. So waren die Journalisten aus aller Welt fast noch enttäuschter als die Globalisierungsgegner selbst, dass im Januar 2001 als Folge der Absperrungen der Polizei und der Einstellung des Bahnverkehrs nach Davos nur wenige Demonstranten die Schweizer Stadt erreichten, um gegen die Pläne der Mächtigen zu protestieren. Da war es geradezu erleichternd, dass die Polizei mit unverhältnismäßiger Härte gegen die wenigen Protestler vorging und doch noch einige Sekunden Straßenkämpfe in die Fernsehnachrichten zu bringen waren.

 

Der Protest gegen die Auswüchse der gegenwärtigen Globalisierung wird breiter. Ein Beispiel dafür sind die vielfältigen Initiativen des internationalen Netzwerkes ATTAC. Viele dieser Proteste finden im Süden der Welt statt, werden hierzulande aber kaum beachtet. Als zum Beispiel Mitte Februar 2001 eine Delegation von Weltbank und Internationalem Währungsfonds nach Bamako im westafrikanischen Mali reiste, wurde sie dort von Demonstranten erwartet, die vor allem einen Schuldenerlass forderten. Allerdings, darüber berichteten nur einzelne internationale Medien wie BBC.

 

Dennoch: Die konzertierten Aktionen zeigen Wirkung. Die Verantwortlichen der Weltbank können nicht ignorieren, dass jede ihrer großen Konferenzen hinter einem gewaltigen Schutzschild lokaler Sicherheitskräfte stattfinden muss. Deshalb haben sie Angehörige der Protestbewegung zu Diskussionen eingeladen und in einzelnen Fällen ihre Politik verändert. Zur Speerspitze einer anderen Globalisierung werden die internationalen Finanzinstitutionen nicht werden, aber wenn sie etwas weniger Unheil anrichten und bei ihren Entscheidungen etwas mehr die Situation der Armen im Süden der Welt im Auge haben, ist schon viel gewonnen. Die massive Kritik an den internationalen Finanzinstitutionen und Konzernen, die Durchsetzung von zumindest kleinen Reformen und das Engagement für eine andere Globalisierung ergänzen einander. Dies erlaubt neue Bündnisse.

 

Es gibt eine lange Tradition des friedlichen, aber entschiedenen Protestes in der Bibel und in der Geschichte der Kirchen. Daran sollte angeknüpft werden. Es gilt, Protestformen zu entwickeln und zu fördern, die gewaltfrei sind, trotzdem eine sichtbare Wirkung auf den Ablauf des offiziellen Treffens haben und Aufmerksamkeit in den Medien finden. In der biblischen Geschichte und in der Kirchengeschichte gibt es zahllose Beispiele dafür, wie Menschen auf eine Weise gegen Unrecht protestiert haben, dass sie Beachtung fanden und manchmal die politisch und wirtschaftlich Mächtigen der Lächerlichkeit preisgaben.

 

Proteste gegen die herrschende Globalisierung bei internationalen Treffen von Weltbank, G-8 etc. sind also wichtige Schritte auf dem Weg zu einer anderen Globalisierung, weil sie über die Medien vermittelt erkennbar machen, dass das bestehende internationale Wirtschafts- und Finanzsystem nicht widerspruchslos hingenommen wird. Außerdem wird so Mut gemacht, auf lokaler und regionaler Ebene gegen Missstände zu protestieren, die durch die Globalisierung mit verursacht werden.

 

Noch eine Bemerkung zum Dialog mit den Verantwortlichen in Wirtschaftsunternehmen, Wirtschaftsverbänden und internationalen Organisationen wie der Weltbank zu Problemen der Globalisierung. Gerade die deutschen Kirchen verfügen über langjährige Erfahrungen mit solchen Dialogprozessen. Es gilt in diesen Gesprächen, die eigenen Positionen klar zu vertreten und zugleich bereit zu sein, die Argumente der Wirtschaftsvertreter ernst zu nehmen.

 

Je größer die eigene Sachkompetenz ist, desto glaubwürdiger und aussichtsreicher kann ein solcher Dialog geführt werden. Erfahrungsgemäß sind solche Dialogprozesse dann besonders erfolgreich, wenn die Verantwortlichen in der Wirtschaft mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass im Falle der Gesprächsverweigerung oder eines Scheiterns der Gespräche verstärkt in öffentlichen Kampagnen über die Missstände informiert wird, um deren Behebung es in den Gesprächen gehen soll.

 

Lobby- und Advocacyarbeit

 

Neben den Protestaktionen gilt es, durch eine Lobby- und Advocacyarbeit die „Spielregeln“ des vorherrschenden Wirtschaftssystems im Interesse der Armen zu beeinflussen. Dabei sind Realismus und Optimismus gefragt, Realismus im Blick auf die Grenzen solcher Bemühungen angesichts der massiven wirtschaftlichen Interessen, die einer armutsorientierten Politik zum Beispiel der Welthandelsorganisation WTO entgegenstehen, und Optimismus, dass die Verantwortlichen die verheerenden negativen Auswirkungen ihres Handelns nicht ganz ignorieren können und deshalb zu kleineren Reformen bereit sein könnten. Organisationen wie Brot für die Welt und Missionswerke können auf Erfolge dieser Arbeit verweisen und sind bestrebt, sie auszuweiten. Dies ist auch die Erwartung der Partner im Süden, Sie wissen, dass viele Projekte scheitern oder wenig bewirken, wenn sich die internationalen Rahmenbedingungen weiter verschlechtern.

 

Ein konkretes Beispiel: Das „CIIR - Catholic Institute for International Relations“ in London ist in den letzten Jahren vor allem durch eine größere Zahl von Studien und kleineren Veröffentlichungen über Großbritannien hinaus bekannt geworden, zum Beispiel zu Sozialklauseln im internationalen Handel, zu den Folgen von Wirtschaftsboom und Krise in Asien und zu den Perspektiven der Befreiungstheologie, den Auswirkungen der Ölförderung in Lateinamerika oder zu den Arbeitsbedingungen in den asiatischen Fabriken der Spielzeugindustrie. Nach einem intensiven Studium der Probleme in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen im Süden wird der Dialog mit den Regierungsstellen, Firmen und Industrieverbänden gesucht. Erst wenn dies ohne Ergebnisse bleibt, folgt eine öffentliche Medien- und Kampagnenarbeit, um Veränderungen zu erzielen. Auch bei den Vereinten Nationen in New York und Genf wird CIIR für die Anliegen der Menschen im Süden aktiv, zum Beispiel bei Menschenrechtskonferenzen. Zu den Arbeitsbereichen des Instituts gehören der internationale Agrarhandel und die Ernährungssicherung und die Folgen von wirtschaftlicher Liberalisierung und Globalisierung.

 

Diese Studienarbeit ist verknüpft mit Seminaren und öffentlichen Veranstaltungen und einer intensiven Lobby- und Advocacyarbeit in Großbritannien und bei der Europäischen Union. In Großbritannien haben sich die Möglichkeiten für diese Arbeit seit der Übernahme der politischen Verantwortung durch die Labour Party, die die Armutsbekämpfung und die Notwendigkeit ganzheitlicher sozialer Veränderungen ins Zentrum ihrer Entwicklungspolitik gestellt hat, deutlich verbessert. CIIR beobachtet eine große Offenheit bis hin zu den Ministern für Entwicklungspolitik und Finanzen und erhält häufiger Anrufe aus Regierungsstellen, bei denen es um die Beratung bei schwierigen internationalen Problemen geht. In vielen Fragen werden gemeinsame Ziele verfolgt, zum Beispiel im Blick auf den Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt, ein Anliegen, für das das Institut sich in den letzten Jahren intensiv engagiert hat. Bei aller Übereinstimmung gibt es auch unterschiedliche Auffassungen, zum Beispiel in der Frage britischer Waffenlieferungen an Indonesien.

 

Bei der Lobbyarbeit in Brüssel arbeitet das CIIR mit anderen kirchlichen Werken und Nichtregierungsorganisationen zusammen, in Deutschland vor allem mit Misereor, aber bei einzelnen Vorhaben zum Beispiel auch mit Brot für die Welt. Außerdem sucht das Institut den Dialog mit internationalen Konzernen, etwa mit Mineralölkonzernen im Blick auf deren Einsatz.

 

Eine wachsende Bedeutung in der Arbeit hat die Förderung von Friedens- und Versöhnungsinitiativen sowie des Aufbaus von Zivilgesellschaften in den Ländern des Südens. So half CIIR zum Beispiel den Menschen in Osttimor, international Gehör zu finden und ihr Recht auf Selbstbestimmung durchzusetzen. In Guatemala begleitet CIIR die Bemühungen, die Bestimmungen des Friedensvertrages mit Leben zu erfüllen und eine wirkliche Versöhnung zu erreichen. In Somaliland, dem nördlichen Teil des auseinander fallenden Somalia, der auf dem Weg zum eigenen Staat ist, stärkt das Institut den Aufbau von sozialen Organisationen und einer Zivilgesellschaft.

 

Hier kommt auch der zweite Schwerpunkt der CIIR-Arbeit zur Geltung, die Entsendung von Fachkräften. In Somalia sind sie unter anderem an der Arbeit mit Straßenkindern und an der Stärkung der Rolle der Frauen als Friedensstifterinnen beteiligt. Friedens- und Versöhnungsarbeit bedeutet nicht Konfliktvermeidung. Bei CIIR weiß man, dass Konflikte Teil der Entwicklung sind und manche von ihnen nicht vermieden werden können, um Veränderungen im Interesse der Armen zu erreichen.

 

Die Arbeit des Instituts wird von etwa 2.500 Unterstützern getragen, von denen sich viele aktiv an den Programmen beteiligen. Finanzmittel kommen zusätzlich unter anderem von der britischen Regierung, der EU, kirchlichen Hilfswerken wie Christian Aid und Einzelspendern. Das Jahresbudget beläuft sich auf mehr als vier Millionen Pfund. CIIR unterhält kleine Büros in den elf Ländern, in denen Entwicklungshelfer tätig sind.

 

CIIR steht nicht allein. Es gibt zahlreiche Akteure in Kampagnen und Netzwerken der Solidarität, die sich für eine Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einsetzen. Zu den bekanntesten Initiativen der letzten Jahre gehört die internationale Erlassjahrkampagne. Es gelang, weltweit Millionen Menschen für eine Unterstützung der Forderung nach einem Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt zu gewinnen.

 

Solche Kampagnen können nur dann erfolgreich sein, wenn sie in den lokalen Initiativen für eine andere Politik und ein anderes Wirtschaften verankert sind. Die Erlassjahrkampagne zeigt eindrucksvoll, wie groß die Zahl der Menschen in aller Welt ist, die nicht mehr den „Spielregeln“ des freien Marktes vertrauen, sondern eine Politik fordern, die sich an den Interessen der Armen orientiert. Gegenwärtig kommt der Forderung nach einer Tobin-Steuer auf internationale Finanzspekulationen ein hoher Stellenwert zu, ebenso die Kampagne für die Bereitstellung preiswerter Medikamente für die Länder des Südens, insbesondere von Medikamenten zur Behandlung von AIDS.

 

Die Suche nach Lösungen für immer komplexere globale Probleme und Konflikte ist ein Kernpunkt für einen Erfolg der Globalisierungsgegner. Dabei gilt es, nicht in die Falle zu laufen, immer gleich eine Lösung für Probleme parat zu haben, die das herrschende System produziert hat. Die Frage, was mit den Hunderttausenden von Kühen geschehen soll, die vom EU-Agrarmarkt verschwinden sollen, ist zunächst einmal und vor allem eine Frage an diejenigen, die dieses System geschaffen haben und als sinnvoll und vernünftig propagieren.

 

Die Ablehnung von Instant-Lösungen ist aber auch darin begründet, dass es für viele Probleme für sich genommen keine überzeugenden Lösungen mehr gibt, sondern diese erst bei einer grundlegenden Veränderung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen möglich sind.

 

Ohne Visionen führt das Engagement in die Sackgasse

 

Eine Stärke der Verfechter der gegenwärtigen Globalisierung ist, dass sie mit einigem Erfolg den Eindruck erwecken, es gäbe keine Alternative zu diesem Prozess oder doch nur die Alternative, arbeitslos und arm am Rande zu stehen, während der Rest der Gesellschaft und der ganzen Menschheit durch die Globalisierung reich würden. Der Niedergang des sozialistischen Systems in Mittel- und Osteuropa (wie sozialistisch es auch tatsächlich gewesen sein mag) hat den Eindruck verstärkt, es gäbe keine lebenswerte Alternative zum Globalisierungsprozess, welcher in manchen Beschreibungen die Qualität eines Naturprozesses annimmt. Tatsächlich ist die Globalisierung nur eine von vielen Möglichkeiten, das wirtschaftliche und soziale Leben zu gestalten, und dass sie die beste sein soll, ist eine Glaubensüberzeugung, die ihre Verfechter mit großer Hartnäckigkeit verbreiten.

 

Der Realität der Globalisierung kann man aus dem Glauben heraus andere Überzeugungen entgegenstellen: Visionen von einem anderen Leben und Wirtschaften. Aus diesen Visionen lässt sich konkretes Handeln in der Gesellschaft entwickeln. Christinnen und Christen finden in der Bibel sehr viel Inspiration für die Entwicklung solcher Visionen, denn viele Propheten der Bibel und ebenso Jesus und seine Jünger standen vor einer ganz ähnlichen Aufgabe wie wir heute: Wie setzt man einem Wirtschafts- und Sozialsystem, das Unrecht und Armut produziert, die Vorstellung von einem anderen Leben entgegen und wie lassen sich diese Visionen in konkretes Handeln umsetzen? Der Glaube an einen menschenfreundlichen Gott kann zu einem Kompass in einer Welt voller Krisen und Konflikte werden. Die Hoffnung auf ein anderes Zusammenleben hat in der Geschichte der Menschheit immer wieder Berge versetzt, und es ist durchaus plausibel anzunehmen, dass dies auch in der Auseinandersetzung mit der neoliberalen Globalisierung der Fall sein wird. Diese Visionen vermögen es, in trostlos erscheinenden Situationen neue Hoffnung und neuen Mut zu schaffen und so ein entschlossenes Engagement hervorzubringen. Der peruanische Schriftsteller José Maria Arguedas hat formuliert: „Das, was wir wissen, ist viel weniger als die große Hoffnung, die wir verspüren.“

 

Wenn die Richtung erst einmal klar ist ...

 

Der Weg von Visionen und Glaubensüberzeugungen zur Umgestaltung der Wirklichkeit kann mühsam sein, aber er hat Perspektive. Eine Kernfrage lautet: Wie kann es gelingen, die zahlreichen kleinen Schritte und Initiativen, die jeder und jede für sich genommen erfreulich sind, aber vielen recht aussichtslos im Verhältnis zum globalen Ausmaß der Probleme erscheinen, in einen Prozess der Umsetzung der Visionen einzubeziehen? Dies ist nicht in erster Linie eine Frage des Aufbaus neuer Strukturen, sondern des Entstehens eines neuen Bewusstseins. Die Landlosenbewegung in Brasilien und ein Bioladen in Deutschland brauchen keine gemeinsame Struktur, wohl aber das gemeinsame Bewusstsein, dass sie an ihrem jeweiligen Ort als Teil einer weltweiten Bewegung für das Leben daran mitwirken, dass das Gewinnstreben nicht zum einzigen Motor des Wirtschaftens wird. Das Internet schafft die Möglichkeit, mehr übereinander zu erfahren und Ideen und Einsichten auszutauschen. Die Gruppen brauchen keine Zentrale, sondern koordinieren sich bei Bedarf und stehen ansonsten für ein dezentrales, in der jeweiligen Kultur verankertes Vorgehen.

 

Die Initiativen für eine andere Globalisierung leben aber nicht nur und nicht primär aus der Auseinandersetzung mit der herrschenden Globalisierung, sondern aus dem Wissen, dass eine andere Form des Wirtschaftens nicht nur möglich, sondern auch bereichernd ist. Ökologisch hergestellte Lebensmittel schmecken einfach besser als Fast Food-Essen. Die Zusammenarbeit im Team eines alternativen Betriebes tut vielen Menschen einfach besser als der gnadenlose Konkurrenzkampf in vielen Betrieben der so genannten „freien Wirtschaft“. Der Ausstieg aus einem Wirtschaftsleben, das auch von seinen Verfechtern manchmal als „Haifischbecken“ bezeichnet wird, und der Einstieg in eine alternative Wirtschaftsweise lohnt sich, davon sind immer mehr überzeugt, auch manche von denen, die im herrschenden System erfolgreich waren und gerade deshalb erkannten, welchen Preis ein solcher Erfolg hat.

 

Wie die großen Hoffnungen und die kleinen Schritte zusammenhängen, hat Oscar A. Romero, Erzbischof von San Salvador, in einer Predigt mit klaren Worten formuliert. Es war seine letzte Predigt, denn in dieser Messe wurde er ermordet. „Das Reich ist bereits im Keim auf der Erde gegenwärtig. Wenn der Herr kommt, wird es sich vollkommen verwirklichen. Dies ist die Hoffnung, aus der wir Christen leben. Wir wissen, dass jedes Bemühen um eine Besserung der Gesellschaft, besonders wenn sie so sehr wie die unsere in Ungerechtigkeit und Sünde versinkt, von Gott verlangt und gesegnet wird. Ich bitte euch, liebe Brüder und Schwestern, dies alles mit Hoffnung, Hingabe und Aufopferung im Auge zu behalten, und das zu tun, was noch möglich ist.“

 

Es mangelt nicht an Alternativen zum Status quo der globalisierten Wirtschaftsbeziehungen und dem „weiter so“ und „immer mehr“. Damit daraus eine wirkungsvolle breite Bewegung für eine andere Globalisierung wird, bedarf es eines von Vertrauen getragenen Bündnisses all derer, die einen anderen Weg des Wirtschaftens und Lebens suchen. Am Anfang steht eine Vision, die Vision vom Anderen, von dem Leben in Einklang mit den Mitmenschen, mit der göttlichen Schöpfung und mit sich selbst. Nur so wird es auch möglich, die notwendigen individuellen Verhaltensänderungen, die isoliert so minimal erscheinen, mit den großen sozialen und globalen Veränderungsprozessen in Verbindung zu bringen. Hierzu können die Kirchen einen wichtigen Beitrag leisten.

 

Eine entscheidende Stärke der Kirchen in der Globalisierungsdebatte ist zweifellos unter dem Stichwort Ökumene zusammenzufassen. Die Kirchen sind in allen Teilen der Welt präsent, bis hin „zum letzten Dorf“. Sie wissen deshalb, welche Auswirkungen wirtschaftliche Prozesse auf die Menschen haben und besonders auf diejenigen, die zu den Verlierern der Globalisierung gehören. Die Gemeinden können dieses Wissen in Beziehung zu den biblischen Verheißungen von einem anderen Leben setzen. Handeln in der Gesellschaft und Fürbitte, praktische Solidarität und das Mitleiden mit den Nächsten bilden auf dieser Grundlage eine Einheit.

 

Jenseits der Ökonomie

 

Ökumene als die andere Globalisierung – dieses Thema der Nordelbischen Synode 2000 weist darauf hin, dass es nicht nur um ökonomische Alternativen geht, so wichtig diese auch sind. Es geht vor allem um eine andere Weise des Lebens, ein Leben, das von dem Wissen bestimmt wird, dass wir Teil einer umfassenden Ökumene sind. In der von Gott geschaffenen Welt, deren Haushalterinnen und Haushalter auf Zeit wir sind, ist das Wirtschaften Teil eines menschlichen Handelns, das aus dem Vertrauen auf Gott und in der Solidarität mit den Mitgeschöpfen auf der Erde bestimmt ist.

 

Das ist eine radikale Alternative zu einem Leben, das einseitig auf individuellen ökonomischen Erfolg ausgerichtet ist und das zum Beispiel die Folgen der von uns verursachten ökologischen Schäden erstaunlich gelassen hinnimmt. Die Bemühungen um eine neue Spiritualität, die die Tiefe des Lebens und die Tiefe des sozialen Engagements in Harmonie bringt, ist ein wichtiger Schritt auf diesem Wege.

 

Die ökumenische Alternative ist also mehr als ein Entwurf für eine andere Art der Wirtschaftsbeziehungen, es geht im wahrsten Sinne des Wortes um das ganze Leben. In diesem Leben kommt den mitmenschlichen Verbindungen, der Einbindung in den Reichtum der Kultur und der Existenz aus dem Glauben heraus eine große Bedeutung zu. Mit Erich Fromm lässt sich also sagen, dass nicht das „Haben“ im Zentrum des Lebens stehen soll, sondern das „Sein“, für Christinnen und Christen das Sein, das vom Glauben getragen wird.

 

In vielen Kirchen, aber auch in anderen Religionsgemeinschaften und bei Menschen ohne religiösen Glauben, wächst weltweit die Sehnsucht und die Suche nach diesem anderen Leben. Im interreligiösen Dialog wird dieser gemeinsam Glaube an ein Leben in Harmonie mit den Mitmenschen und der Natur immer wieder neu entdeckt. Deshalb hat die Bewegung für eine andere Globalisierung eine so breite Basis. In gelungenen Partnerschaften zwischen Gemeinden, Kirchenkreisen und Gruppen in Ost, Süd und Nord wird diese andere Form des Miteinanders über nationale und kulturelle Grenzen hinweg erfahrbar.

 

Das Streben nach einer anderen Globalisierung kann sich angesichts der ökologischen und sozialen Zerstörungen, die die Zukunft der ganzen Erde bedrohen, nicht unbegrenzt Zeit lassen. Der Zeitpunkt der Entscheidung, der kairos , ist gekommen. Aus einer präzisen Analyse der gegenwärtigen globalen Zusammenhänge und Trends und aus einer Vision von einer anderen Entwicklung muss entschiedenes Handeln erwachsen. Es wird darauf ankommen, die vielen Einzelinitiativen zu einem breiten Bündnis zu machen, einer nicht exklusiv christlichen Bewegung, sondern einer im umfassenden Sinne ökumenischen Bewegung für die Bewahrung dieser Welt. Das ist mehr als eine Vernetzung von Gruppen, es geht um einen Bund, der getragen wird von der gemeinsamen Überzeugung, dass eine andere Globalisierung nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist, und der gemeinsam nach dem strebt, was wir als Christinnen und Christen als Fülle des Lebens bezeichnen und dem Menschen anderen Glaubens mit sehr ähnlichen Worten Ausdruck geben. Initiativen wie das Projekt Weltethos von Hans Küng sind wichtige Schritte auf diesem Wege. Es ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass Religion keine aussterbende Gattung auf der Welt ist, sondern dass große Erwartungen an die Religionsgemeinschaften bestehen, Orientierung in der Welt und Sinn für das eigene Leben zu geben. Noch ist unklar, ob dem Zug der Geschichte eine andere Richtung gegeben werden kann, aber die Hoffnung darauf wächst.

 

Eine zentrale Aufgabe wird es sein, die Vielfalt auf dieser Welt zu verteidigen, und hier setzt der Schriftsteller Carl Amery große Hoffnungen in die Mission. Der Kritik an der Missionsgeschichte und fundamentalistischer Missionsgruppen (vornehmlich aus den USA) stellt er eine andere Form von Mission gegenüber: „Der andere, völlig entgegengesetzte Typus der zeitgenössischen Mission, mehr oder weniger betreut oder vertreten von den alten Kirchen (einschließlich der Anglikaner/Episkopalianer, auch von Teilen der Presbyterianer) begreift sich immer mehr als Sachwalterin der noch vorhandenen nicht-ökonomischen Kulturen, vor allem der traditionellen Gesellschaften, wobei religiöser Synkretismus durchaus in Kauf genommen wird, wenn nicht ermutigt wird: Der Altar der Maisgöttin, so hört man, steht auf dem Vorplatz der Kathedrale von Guatemala. Worum es diesem Missionstyp geht, ist die Erhaltung eines Stücks Menschheitsallmende, einer kulturellen, ja einer spirituellen Biodiversität ... Dieser Typus der Mission weitet sich global aus, theologisch wie praktisch hat er bereits alle Erdteile erfasst – und er steht unter dem Zeichen der ‚Option für die Armen’.“[2] Amery hat große Erwartungen an diese Mission in einem Kampf, in dem es um das Überleben dieser Erde geht: „Es geht um die Fähigkeit – die geistige, geistliche und strukturelle –, der Reichsreligion des kollektiven Selbstmords glaubhaft entgegenzutreten.“[3]

 

Die Missionsbewegung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei vielen im Ruf stand, sich als Helfershelfer des Kolonialismus diskreditiert zu haben, gewinnt im Zeitalter der Globalisierung eine neue Bedeutung als weltweite Bewegung, die sich für eine andere, menschliche Globalisierung einsetzt. Wo Glaube und praktisches Engagement, Theologie und das Wissen um alltägliche Not, Gemeindeleben am eigenen Ort und die Einbindung in die weltweite Kirche zusammenfließen, da entsteht in kleinen Schritten die Alternative einer menschlichen Globalisierung. Gott oder die Götter der Globalisierung – das Ergebnis dieser Auseinandersetzung hängt auch davon ab, wie die Kirchen und die einzelnen Christinnen und Christen sich für die Mission Gottes in dieser Welt engagieren.

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 



[1] Vgl. Die Zeit, 28.1.2001

[2] Carl Amery: Global Exit, München 2002, S. 146f

[3] Ebenda, S. 147