Globalisierungs-Alternativen: Forschung auch auf Gebieten ohne hohe Gewinnaussichten
Die Forschungsinvestitionen der großen Pharmaunternehmen werden daran ausgerichtet, dass das einmal entwickelte Medikament auch Gewinne abwirft. Das erwarten die Aktionäre, und daran wird das Management gemessen. Die Entscheidungen zur Erforschung eines neuen Medikaments sind um so schwieriger, als es um mehrere Hundert Millionen Euro gehen kann, die eingesetzt werden müssen, bis das Produkt auf den Markt kommt. Die großen Pharmakonzerne investieren solche Summen dann, wenn zu erwarten ist, dass das Medikament für einen Jahresumsatz von einer Milliarde Euro gut ist. Ein Kenner des Medikamentenmarktes geht davon aus, dass viele neu entwickelte Arzneimittel zwar in klinischen Erprobungen ihre Wirksamkeit nachweisen, dass sie aber trotzdem niemals auf den Markt kommen, weil die Unternehmen berechnet haben, dass sie es nicht schaffen werden, eine Milliarde Dollar Umsatz im Jahr zu erwirtschaften.[1]
Wenn kaufkfräftige Abnehmer fehlen
Der Nachteil für die Menschen im Süden der Welt ist, dass es nicht genügend kaufkräftige Menschen gibt, die eine solche Umsatzerwartung rechtfertigen würden. Also werden kaum neue Medikamente für tropische Krankheiten entwickelt, jedenfalls nicht für solche, die vor allem Einheimische treffen wie die Schlafkrankheit. Als die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ im Frühjahr 2001 die 20 führenden Pharmakonzerne nach ihren aktuellen Aktivitäten im Bereich der Arzneimittelentwicklung befragte, wurde deutlich, dass es Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der vernachlässigten Krankheiten in tropischen Ländern gibt, dass aber in den letzten fünf Jahren kein einziges neues Medikament auf den Markt gebracht wurde.[2] Für die Erforschung von Mitteln gegen jene Krankheiten, die 90 Prozent aller Krankheitsfälle ausmachen, werden nur 10 Prozent der Forschungsmittel aufgewendet.[3]
Ebenso genießen in den Tropen weit verbreitete Krankheiten in der staatlichen Forschungsförderung in der westlichen Welt keine hohe Priorität. Dabei leiden in Schwarzafrika 500.000 Menschen unter der Schlafkrankheit und 60 Millionen Menschen sind von ihr bedroht. WHO und die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ auf das Pharmaunternehmen aus, ein Medikament zu entwickeln, auch wenn es sich unter kommerziellen Gesichtspunkten nicht rentieren würde. Inzwischen konnte "Ärzte ohne Grenzen" berichten: Die Schlafkrankheit wird medikamentös behandelt. Während die zur Behandlung der Schlafkrankheit verwendeten Medikamente lange Zeit über einen längeren Zeitraum unter anderem gespritzt werden mussten und starke Nebenwirkungen wie etwa Nierenschäden hatten, gibt es mittlerweile das Medikament Fexinidazol. Dieses wurde von der DNDi entwickelt und 2018 zugelassen. Die Europäische Arzneimittel-Agentur empfiehlt Fexinidazol als erste rein orale Behandlung, der Wirkstoff kann einfach per Tablette eingenommen werden." DNDi ist eine Initiative zur Förderung der medizinischen Forschung gegen vernachlässigte Krankheiten.
Aber der Trend weg von einer Forschung für die Armen ist unübersehbar. In den letzten 25 Jahren waren unter den knapp 1.400 neu zugelassenen Medikamenten nur 15 Medikamente gegen Tropenkrankheiten und Tuberkulose, obwohl sie für 12 Prozent der weltweiten Krankheitslast verantwortlich sind. Demgegenüber wurden 179 neue Medikamente gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickelt. Der Anteil dieser Krankheiten beträgt elf Prozent der globalen Krankheitslast, aber viele der Patienten leben in reichen Ländern, und das erklärt den hohen Forschungs- und Entwicklungsaufwand.[5] 80 Prozent ihrer Medikamente setzen die Pharmakonzerne in Nordamerika, Europa und Japan ab, 20 Prozent in der übrigen Welt.[6]
Solange die Kaufkraft der Armen und die Gesundheitsetats tropischer Staaten sich nicht grundlegend erhöhen, ist eine Änderung der Forschungsschwerpunkte der Pharmaunternehmen nicht zu erwarten. Schwerer verständlich ist auf den ersten Blick, warum staatliche Forschungseinrichtungen in den Industriestaaten diese Defizite nicht ausgleichen und besonders intensiv nach Wirkstoffen gegen tropische Krankheiten forschen. In staatlichen Einrichtungen wird vorwiegend Grundlagenforschung betrieben, aber angesichts der staatlichen Finanzprobleme sind die staatlichen und staatlich geförderten Forschungseinrichtungen auf zusätzliche Mittel aus der Industrie angewiesen, und die fließen vor allem für die Erforschung von Wirkstoffen, mit denen sich später Medikamente mit einem großen Marktpotenzial herstellen lassen.
Abhängige Grundlagen-Forschung
Außerdem sind die Grundlagenforschungs-Einrichtungen darauf angewiesen, dass sich später ein Produzent findet, der aus den Wirkstoffen ein Medikament entwickelt und vermarktet. Schließlich gibt es die politische Erwartung an die Forscherinnen und Forscher, anwendungsorientiert zu arbeiten, also auf den Gebieten tätig zu werden, die die heimische Pharmaindustrie und damit den eigenen Wirtschaftsstandort fördern. Diese Abhängigkeit kann auch für die Patienten in reichen Ländern Nachteile haben, denn welches Pharmaunternehmen unterstützt schon Forschungen, die zum Ziel haben, den Medikamenteneinsatz zu vermindern, um die Nebenwirkungen zu reduzieren.[7]
Dabei wäre eine solche Forschung schon deshalb geboten, weil allein in Deutschland jedes Jahr 25.000 Menschen an unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen sterben und 210.000 schwerwiegende Schäden erleiden.[8] Die von Interessen und Geldern der Industrie unabhängige Forschung zu Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten muss also dringend gestärkt werden.
Oft unterschätzt wird die Bedeutung staatlicher Einrichtungen und Forschungsgelder für den medizinischen Fortschritt. Das sehr angesehene „Massachusetts Institute of Technology“ (MIT) hat 1995 eine Studie zur Medikamentenforschung veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass elf von vierzehn vielversprechenden neuen Medikamenten von US-Pharmakonzernen aus staatlich geförderten Forschungsprojekten hervorgegangen sind.[9] Die Gewinne fließen vollständig in die Kassen der Industrie. Dies zeigt zum einen, dass die These, dass hohe Gewinne die Grundlage für Forschungsarbeiten bilden, zumindest relativiert werden muss. Zum anderen wird deutlich, wie eine staatliche Forschungsförderung darauf reduziert werden kann, den eigenen Forschungsaufwand global tätigen Unternehmen zu vermindern, ohne dass die Steuerzahler davon profitieren.
Eine neue Forschungspolitik und Forschungsförderung
Es ist ein politischer Wille und ein politisches Engagement in der Forschungspolitik erforderlich, damit endlich neue Medikamente gegen die vernachlässigten Krankheiten in tropischen Regionen entwickelt werden. Dies erfordert politische Konzepte, die über den Tag hinaus reichen und berücksichtigen, dass der Weltfrieden und die wirtschaftliche Zukunft dieser Erde ganz entscheidend davon abhängen, dass das Elend in vielen Regionen im Süden der Welt beseitigt wird. Öffentliche Forschungsförderung muss sich ganz bewusst auf Bereiche der pharmazeutischen Forschung konzentrieren, an denen bisher kein kommerzielles Interesse besteht, die aber für arme Länder von existenzieller Bedeutung sind. Weil keine kurzfristigen Gewinnerwartungen mit dieser Forschung verbunden sind und damit keine Notwendigkeit besteht, Ergebnisse geheim zu halten, bestehen auch mehr Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen im Süden der Welt.
Die Stärkung von Forschungskapazitäten im Süden ist ein Ziel im Rahmen neuer globaler Konzepte im medizinischen Bereich. Bei der finanziellen Förderung solcher Konzepte können auch Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit und Stiftungen eine wichtige Rolle übernehmen. Der Schwerpunkt der Forschungen sollte auf den Krankheiten liegen, die in diesen Ländern weit verbreitet sind. Das klingt selbstverständlich, aber im Rahmen des globalen Pharmamarktes gibt es gänzlich andere Tendenzen. Die international tätigen Pharmaunternehmen müssen nämlich sehr viel Zeit und Geld dafür aufwenden, die Wirksamkeit ihrer Medikamente empirisch nachzuweisen und dabei auch festzustellen, welche Nebenwirkungen die neuen Präparate haben. Für solche Versuche Tausende von Patienten zu finden, kann länger dauern. Jedenfalls ist das in der westlichen Welt so. Deshalb ist vor allem in Asien eine größere Zahl von kommerziell arbeitenden Forschungseinrichtungen entstanden, die es im Auftrag internationaler Pharmaunternehmen übernehmen, Ärzte und Patienten zu finden, die bereit sind, die Medikamente zu erproben, und die dann die Ergebnisse zusammenstellen und auswerten.
Arzneimittelerprobung im Süden der Welt
Diese Globalisierung der Arzneimittelerprobung wirft neue Fragen auf. Ist es ethisch vertretbar, Medikamente mit Menschen zu erproben, die sich später diese Erzeugnisse der westlichen Pharmaindustrie nicht leisten können? Wie kann sichergestellt werden, dass Patienten wirklich frei entscheiden, an dem Versuch teilzunehmen, wenn der Arzt ein großes materielles Interesse hat, möglichst viele Patienten vorweisen zu können und die Patienten gar nicht wissen, was solche Erprobungen sind und mit welchen Risiken sie verbunden sind?
Die Tatsache, dass in ärmeren asiatischen Regionen so rasch so viele Kranke bereit sind, an den Erprobungen mitzuwirken, lässt Zweifel aufkommen, ob alle wissen, was sie tun. Es gibt durchaus gefährliche Erprobungen. Ein US-Pharmaunternehmen erhielt in den USA nicht die Genehmigung, klinische Versuche durchzuführen, bei denen HIV-positiven Männern Blut mit Malariaparasiten gespritzt wurde, um dann ein Medikament auszuprobieren. Daraufhin wurde die Erprobung in China durchgeführt.[10]
Bei einer Erprobung eines Medikaments wurde mit Unterstützung der US-Regierung in Thailand geprüft, ob ein Medikament helfen kann, das Risiko der Übertragung des HIV-Virus von der Mutter auf ihr ungeborenes Kind zu verhindern. Das Ziel ist wichtig, zweifelhaft aber ist die Methode, einem Teil der Frauen statt des hoffentlich wirksamen Medikaments Placebos zu geben. Wenn eine gute Aussicht bestand, mit dem Medikament die Übertragung des tödlichen Virus zu stoppen, war es ethisch nicht vertretbar, einen Teil der Frauen um der Forschung willen „ihrem Schicksal zu überlassen“, dazu noch in der Hoffnung getäuscht, ein Medikament würde ihnen helfen. Ein solcher Versuch wäre vermutlich in einem westlichen Land gar nicht erst beantragt worden, weil das unethische Verhalten einen Skandal ausgelöst hätte.
Es muss durchgesetzt werden, dass die Patienten auf angemessene Weise über die Erprobung informiert werden, an der sie teilnehmen sollen, einschließlich der Aufklärung über mögliche Risiken. Ebenso ist sicherzustellen, dass sie auch nach dem Ende der Erprobung weiter optimal behandelt werden. Auf diesem Gebiet gibt es erfreulicherweise eine positive Entwicklung. Bei einer internationalen Konferenz wurde im Jahre 2000 eine „Erklärung von Helsinki“ verabschiedet, in der verbindliche Regeln für die Erprobung von Medikamenten verabschiedet wurden, die es nun auch in ärmeren Ländern durchzusetzen gilt. Dabei kann auch auf die Unterstützung verantwortungsbewusster Pharmaunternehmen gerechnet werden. Schwieriger ist zu erreichen, dass die erprobten Medikamente dann auch tatsächlich in dem Land im Kampf gegen Krankheiten zur Verfügung stehen, in dem sie klinisch erprobt wurden.
Forschung zu vernachlässigten Krankheiten dringend erforderlich
Dass politischer Druck etwas bewirken kann, zeigt sich zum Beispiel darin, dass die EU ein Programm zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose begonnen hat, in dem die Erforschung von Medikamenten einen Schwerpunkt bildet. Zunächst wurden 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um diese Forschungsarbeiten in Afrika zu den drei Krankheiten zu fördern und Medikamente zu entwickeln. Das Geld wird zwar nur für die Entwicklung einiger weniger Medikamente reichen, aber damit ist wenigstens ein Anfang gemacht.[11]
[1] Vgl. The Economist, 13.7.2002
[2] Vgl. Ärzte ohne Grenzen: Tödliches Ungleichgewicht, Die Krise in Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln gegen vernachlässigte Krankheiten, Berlin 2001, S. 8
[3] Vgl. Ärzte ohne Grenzen: Tödliches Ungleichgewicht, Die Krise in Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln gegen vernachlässigte Krankheiten, Berlin 2001, S. 8
[5] Vgl. Ärzte ohne Grenzen: Tödliches Ungleichgewicht, a. a. O., S. 10
[6] Ebenda, S. 16
[7] Vgl. hierzu den Beitrag von Christina Berndt zum Thema: „Die Macht der Firmen – Forscher brauchen Industrie-Geld“ in der Süddeutschen Zeitung vom 16.5.2002
[8] Vgl. Süddeutsche Zeitung, 19.10.2002
[9] Vgl. Le Monde Diplomatique, deutsche Ausgabe, März 2001, S. 17
[10] Vgl. Far Eastern Economic Review, 8.2.2001
[11] Vgl. Süddeutsche Zeitung, 30.4.2002