Babylon, Persien, USA … Glaube angesichts der Herrschaft des „Imperiums“

 

Die politischen, kulturellen und religiösen Facetten des Lebens im historischen Babylon sind so komplex, dass ich in das Buch „Babylon – Mythos und Wirklichkeit“ nicht alle Themen aufnehmen konnte. Das gilt auch für einige der Lehren, die sich aus den Erfahrungen und Einsichten der Menschen in Babylon für unsere heutige Zeit ziehen lassen. In diesem Beitrag zur Ergänzung des Buches geht es um die Frage, was wir aus dem Umgang der Juden mit den Imperien ihrer Zeit lernen können.

 

„Out of Babylon“ lautet der Titel eines Buches des bekannten US-Theologen Walter Brueggemann, der Altes Testament am „Columbia Theological Seminary“ unterrichtet hat. Im Zentrum des Buches, das 2010 in Nashville erschien, steht die Frage: Was können Christinnen und Christen in den Vereinigten Staaten davon lernen, wie die Juden sich in der Antike mit den mächtigen „Imperien“ Babylonien und Persien auseinandergesetzt haben?

 

Das Verhältnis zu den babylonischen Machthabern war von Widerstand bestimmt. Es ging, führt Brueggemann aus, um die Verteidigung der eigenen kulturellen und religiösen Traditionen. „Mitten in einer anscheinend hoffnungslosen Situation wurde neue Hoffnung verkündet. Neue Zusagen wurden formuliert. Neue Gedichte wurden zu Gehör gebracht, die als Gottes eigene Gedichte mit seiner Selbstverpflichtung für die Zukunft Jerusalems und seiner früheren Bewohnerinnen und Bewohner verstanden wurden.“ (S. 50) Eine Gruppe von Priestern und Propheten sammelte die Geschichten und Gedichte des jüdischen Volkes in Babylon. Daraus entstand ein neuer Kanon biblischer Texte, in denen die Herrschaft Gottes über die ganze Welt betont wurde. Das bestärkte die Gläubigen in der Überzeugung, dass das babylonische Imperium nur vorübergehend bestehen werde. Es wurden, so Walter Brueggemann, bereits erste Anzeichen des Niedergangs ausgemacht. In dieser Situation sollten die Juden der Stadt Babylon den Rücken kehren und sich auf den Weg in ihre Heimat machen.

 

Das positive Bild der persischen Eroberer

 

Die erfolgreiche Expansionspolitik der persischen Könige veränderte auch den jüdischen theologischen Diskurs. Dieses Imperium wurde vor allem deshalb positiver bewertet als das babylonische, weil eine Rückkehr nach Jerusalem möglich wurde. Nun stand nicht mehr der Widerstand im Vordergrund, sondern eine Verknüpfung von Anpassung und Identitätswahrung. Walter Brueggemann weist darauf hin, dass im ganzen Alten Testament keine einzige Polemik gegen die persische Herrschaft zu finden ist. Diese veränderte Haltung „gegenüber dem Imperium entstand zum Teil durch die andere Politik dieses Imperiums und zum Teil durch die kulturelle Grundhaltung der jüdischen Führung, so viel wie möglich von diesem Imperium zu bekommen“. (S. 134)

 

Walter Brueggemann spricht in diesem Zusammenhang von einem „Anpassungs-Widerstand“. Ein Beispiel dafür war der Prophet Nehemia, der seine hohe Position im persischen Machtsystem dafür nutzte, den Wiederaufbau von Jerusalem zu fördern. Esra tat Ähnliches auf religiösem Gebiet. Beide stellten die persische Herrschaft nicht infrage. Es ging ihnen darum, Raum dafür zu gewinnen, die jüdische Identität zu wahren und sie mit Leben zu füllen. Auch diejenigen Daniel-Geschichten, die in der persischen Herrschaftszeit angesiedelt sind, lassen erkennen, dass es in dieser Zeit darum ging, sich mit dem Imperium zu arrangieren und in ihm aufzusteigen. Dabei durften aber keine Kompromisse in Fragen der eigenen Identität und des eigenen Glaubens eingegangen werden.

 

Lernen von den Juden im babylonischen Exil

 

Es gibt für Walter Brueggemann keine schlichte Übertragung der Erfahrungen der Juden in Babylon auf die heutigen USA: „Es gibt selbstverständlich keinen einfachen und genau bestimmten Weg vom ‚Damals‘ zum ‚Jetzt‘, und die Parallelen sind notwendigerweise fantasievoll, impressionistisch und ungenau.“ (S. 11) Dem Autor gelingt es in seinen theologischen Ausführungen, solche Einschränkungen ernst zu nehmen und vorschnelle Parallelisierungen zu vermeiden. Aber US-Christinnen und -Christen (und nicht nur sie) können von den Erfahrungen derer lernen, die im babylonischen Exil nicht den Weg der Anpassung gegangen sind. Wie in Babylon, ist Walter Brueggemann überzeugt, sind auch im Imperium der USA bereits Zeichen von Niedergang und Untergang zu erkennen. Christinnen und Christen müssten heute im amerikanischen Imperium um ihre „besondere Identität“ kämpfen. Und dafür sollten sie, wie die Juden in Babylon, auf prophetische Stimmen hören, die Traditionen und Glauben bewahren wollen.

 

Für die amerikanischen Christinnen und Christen kann es nach Überzeugung von Walter Brueggemann nicht darum gehen, im geografischen Sinne das Imperium USA zu verlassen, so wie die Juden damals Babylonien verließen. Sie sollen sich vielmehr von „der habgierigen Hemmungslosigkeit und Ausbeutung des US-Imperiums verabschieden“, aber den geografischen Raum ihrer Heimat weiterhin schätzen und bejahen. Für einen solchen Weg hält der amerikanische Theologe eine Liturgie für wichtig, die die Gläubigen in ihrer vom Imperium abweichenden Identität stärkt und einen Lebensraum außerhalb des Machtbereichs des Imperiums sichert. „Christliche Liturgie im US-Imperium kann verstanden werden als ein Weg, um die besondere (in der Taufe begründete) Identität zu bewahren, die stets nach Lebensraum außerhalb des Einflussbereiches des Imperiums strebt … Positiv formuliert erlaubt es diese alternative Selbstwahrnehmung, sich (und andere Mitglieder der Gemeinschaft) als Kinder der Verheißung zu erkennen, die aus dem Geschenk Gottes leben … Daher kann eine aus dem Glauben heraus gestaltete Liturgie als Antipode zu den Angriffen und Verlockungen des Imperiums verstanden werden.“ (S. 106 u. 108)

 

Walter Brueggemann ist aufgrund seiner jahrzehntelangen Mitarbeit in US-amerikanischen Kirchen überzeugt, dass es unrealistisch wäre, von diesen Kirchen einen Widerstand zu erwarten, der an die jüdische Verdammung des babylonischen Imperiums und den Widerstand dagegen anknüpft. Ein „Widerstand ohne Abstufungen führt zu Irrelevanz und Marginalisierung“ (S. 151). Wenn man sich hingegen am jüdischen Engagement angesichts des persischen Imperiums orientiert, „erfordert dies geistige Beweglichkeit und eine Offenheit, die aus der Hoffnung auf neue Möglichkeiten jenseits unserer selbst lebt“ (S. 153). Im Vertrauen auf Gott können wir darauf hoffen, dass das Imperium entgegen allem äußeren Anschein veränderbar ist. „Ich plädiere dafür, sich mitten im Imperium gemäß dem Evangelium zu verhalten.“ (S. 155) Christinnen und Christen können „diese Zeit absitzen“ im Wissen, dass das Imperium in Gottes Hand ist. Das Buch endet mit dem Satz: „Es gibt eine Freiheit, die das Imperium weder geben noch vorenthalten kann.“ (S. 156)

 

Glanz und Schrecken des neuen Imperiums

 

In der Auseinandersetzung mit dem heutigen Imperium (oder den Imperien?) wird es meines Erachtens notwendig sein, die Strukturen und die Dynamik dieses Systems fundiert zu analysieren. Das wird nicht auf der illusionären Grundlage erfolgen, „objektive“ Wissenschaft zu betreiben. Aber der Hass und die Polemik, die in alttestamentlichen Texten über das Imperium Babylon sichtbar werden, sind zwar aus der Situation der Betroffenen verständlich, erschweren aber eine Analyse, die auch im Blick hat, worin die Stärken und die Attraktivität des Imperiums für viele Menschen begründet sind. Für die Beschäftigung mit den alttestamentlichen Verheißungen und Verfluchungen sowie den Versuch, daraus eine Orientierung für die heutigen Auseinandersetzungen mit dem Imperium zu gewinnen, wird es unverzichtbar sein, sich gründlich damit zu beschäftigen, wie das babylonische und dann das persische Imperium tatsächlich „getickt“ haben.

 

Das ist allerdings keine Arbeit im Elfenbeinturm, sondern geschieht aus einer Ernsthaftigkeit und einem Engagement heraus, die darum wissen, welches Leiden und welches Unrecht das heute bestehende Imperium (und seine Verbündeten) verursachen. Es ist dafür unabdingbar, auf die Stimmen von Christinnen und Christen aus dem Süden der Welt zu hören, die das Imperium aus der Erfahrungsperspektive der Opfer erleben, analysieren und anklagen. Dies gilt zum Beispiel für die evangelische guatemaltekische Theologin Julia Esquivél, die 1985 einen Band mit Visionen und Gebeten unter dem Titel „Paradies und Babylon“ im Jugenddienst-Verlag veröffentlicht hat. Die Menschrechtsaktivistin gibt den unter Bürgerkrieg und Unrecht leidenden einfachen Menschen in Guatemala eine Stimme und klagt die USA an, die das brutale Unrechtsregime ihrer Heimat massiv unterstützt haben. In einem Text über „Erntedanktag in den USA“ lesen wir auf Seite 53 diese Zeilen:

 

Zwischen den zu Smog gewordenen Dollar-Gardinen

recken sich gespenstische Umrisse der Wolkenkratzer

schamlos in die Höhe empor,

als wollten sie die Wolken berühren.

Im Halbdunkel

hielten Tausende von Lichtern

die Einfältigen zum Narren,

wie in den Zeiten Babylons.

 

Kein Zweifel, hier begegnet uns in den US-amerikanischen Hochhäusern der Turm von Babylon und in den Lichtern der schöne Schein eines Imperiums, das nur die Einfältigen beeindruckt. In den folgenden Versen wird uns dieses neue „Babylon“ in seiner ganzen Schrecklichkeit präsentiert, die es aus der Sicht einer Frau aus dem Süden der Welt, aus der Peripherie des Imperiums, besitzt. In den USA entdeckt Julia Esquivél falsche Propheten, Götzenbilder, eine Bestie mit tausend verschiedenen Gesichtern und Anzeichen des Untergangs:

 

Wieder ging ich auf die Straße,

und ein dumpfes Grollen

das große Katastrophen ankündigt,

zeigte mir das Gottesgericht an

über die Große Nation,

über ihr mächtiges Imperium.

 

In der langen Vision der guatemaltekischen Theologin finden sich vor allem Anklänge an die Bilder vom untergehenden Babylon in der Offenbarung des Johannes, aber die Vision endet nicht mit Untergang und Weltgericht, sondern mit der Hoffnung, dass die Babylonier vor ihrem Götzendienst gewarnt werden und die Wahrheit über ihr Handeln hören, und ganz zum Schluss heißt es. „… das, was den Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott“. Und diese Hoffnung auf eine Umkehr wider allen Augenscheins bestimmt auch eine weitere ihrer Visionen, die an Psalm 137 anknüpft:

 

Hier sitze ich, am Ufer des Hudson,

der New Jersey trennt

von der Manhattan-Insel,

den Indianern für 24 Dollars geraubt,

sinne ich über Babylon …

und über seine hochfahrenden Männer,

die den Himmel zu erreichen suchten

in ihrer Verwirrung und in ihrem Scheitern …

 

Am Ende der Vision, die den ganzen Schrecken der US-Beherrschung Lateinamerikas zum Thema hat, bewahrt Julia Esquivél dennoch die Hoffnung, dass „die liebe reiche Schwester“ in den Vereinigten Staaten die Mauern der Klassen, Rassen und Geschlechter niederreißen wird:

 

Nur dann wirst du die Freiheit kennenlernen,

wirst mit deinem kleinen Stück Gerechtigkeit

beitragen zum Aufbau der neuen Welt,

wo endlich Friede herrschen wird.

 

Die guatemaltekische Theologin, die so viele schreckliche Folgen des Wirkens des Imperiums gesehen hat, erzählt die Visionen vom Untergang Babylons, das so viel Unglück über seine Nachbarvölker gebracht hat, neu, und hofft jenseits der biblischen Vorlagen ihrer Texte und jenseits des heutigen alltäglichen Unrechts und Schreckens auf eine bessere Welt, in der ein umfassender Friede herrschen wird. Die Hoffnung auf diesen Frieden erwächst aus der schonungslosen Aufdeckung von Unrecht und dem Ernstnehmen der biblischen Verheißungen für einen Schalom für die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann