Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Die Bibel und die Keilschrifttexte

 

Es ist in der heutigen Theologie und Kirche kaum noch etwas von der Erschütterung zu spüren, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Entzifferung von Keilschrifttexten auslöste. Da ist es gut, mit dem Heidelberger Altorientologen Professor Stefan M. Maul an diese Zeit zu erinnern: „Als man babylonische, assyrische und auch sumerische Texte lesen und verstehen konnte, wurde der schockierten, christlich geprägten Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass die Gesellschaft des Zweistromlandes bereits zwei Jahrtausende, bevor das Judentum die Bühne der Weltgeschichte betrat, in höchster Blüte stand.

 

Und nicht nur das, die Mesopotamier – so zeigten die Keilschrifttexte – glaubten bereits, lange bevor die Genesis verfasst wurde, dass die Menschheit in der Urzeit auf göttlichen Beschluss durch eine Sintflut vernichtet worden war und dass nur einer in einer Arche sich hätte retten können, der biblische Noah, den man in Babylonien Utnapischtim oder aber Ziusudra nannte.“[1] Es konnte nicht mehr geleugnet werden, dass Menschen einer ungleich älteren Kultur als das Judentum in frommer Weise an das göttliche Wirken geglaubt hatten. Die christlich-westliche Welt, so Professor Maul, „sah erschüttert ihr seit Jahrhunderten nicht angezweifeltes Postulat auf Einzigartigkeit und kulturelle Überlegenheit in Frage gestellt“.[2]

 

Dank der Entzifferung der Keilschriften öffnete sich die Tür in eine fremde Welt, in der vieles gedacht, erforscht und geglaubt wurde, was unser Leben und unseren Glauben bis heute beeinflusst. In einer vielleicht verständlichen Reaktion haben viele Theologen des 19. und 20. Jahrhunderts versucht, die Ähnlichkeiten zwischen babylonischen und jüdisch-christlichen religiösen Texten so weit wie irgend möglich zu relativieren und gleichzeitig die Religion der Babylonier so heftig wie möglich zu diskreditieren. Aber je mehr wir aus den Keilschrifttafeln über die babylonische Religion erfahren, desto deutlicher wird, dass sie weder primitiv noch irrational war, es sei denn, man betrachtet jeden religiösen Glauben als irrational.

 

Die Religionswissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten vielen Theologen und Gläubigen eine größere Zurückhaltung bei der Be- und Verurteilung anderer Religionen nahe gebracht. Das ist besonders wichtig im Blick auf die Glaubensvorstellungen von Menschen, mit denen wir heute Tür an Tür leben. Aber diese Zurückhaltung ist auch wichtig, wenn wir von einem krassen Schwarz-Weiß-Denken über die religiösen Verhältnisse in biblischen Zeiten abkommen wollen. So betrachtet eröffnet die Entzifferung der babylonischen Keilschrifttexte eine große Chance, zu einem Glauben zu gelangen, der nicht von der Abwertung und Diffamierung Andersgläubiger bestimmt ist.

 

Ebenso wichtig ist, dass die Keilschrifttexte und die archäologischen Funde deutlich machen, dass zwischen dem historischen Babylon und dem Babylon, wie es die Verfasser biblischer Texte überliefert haben, gravierende Unterschiede bestehen. Sie lassen sich zumindest zum Teil daraus erklären, dass die biblischen Autoren nicht nur auf traumatisierende Weise an den Euphrat verschleppt worden waren, sondern auch eine Antwort darauf finden mussten, dort einer Kultur zu begegnen, die auf vielen Gebieten der eigenen deutlich überlegen war. Ein Beispiel dafür war die beeindruckende Architektur in Babylon.

 

Die Keilschrifttexte legen nicht den Schluss nahe, dass alles, was in der Bibel in Zusammenhang mit Babylon aufgeschrieben wurde, falsch ist. So gab es, um nur ein kleines Beispiel zu nennen, den König Nebukadnezar tatsächlich und seine Truppen haben die Stadt Jerusalem erobert. Es ist wichtig und gut, solche Übereinstimmungen zu erkennen, aber darüber darf man die Unterschiede zwischen Bibel und wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht ignorieren oder kleinreden. Dafür ein Beispiel aus den letzten Jahren.   

 

2007 fanden österreichische Keilschiftexperten auf einer Tontafel den Namen eines babylonischen Beamten, „Nabu-sharrussu-ukin“, ein Name, der aus dem Alten Testament bekannt ist. Ob der auf der Tafel genannte hohe Beamte zur Regierungszeit von Nebukadnezar II. identisch ist mit dem babylonischen Heerführer, der im 39. Kapitel des Buches Jeremia erwähnt wird, weil er die Stadt Jerusalem 587 v. Chr. belagerte, wissen wir nicht. Möglich ist es, aber auch das würde lediglich beweisen, dass der Verfasser des Jeremia-Buches den Namen eines babylonischen Feldherrn kannte, der Jerusalem eroberte. Die Namen von erfolgreichen Feldherren waren in der Antike keine militärischen Geheimnisse, sondern diese erfolgreichen Krieger wurden landauf, landab gepriesen – jedenfalls von den Siegern, sodass die Namen auch den Besiegten bekannt waren.

 

Von daher ist ein Satz in der österreichischen Zeitung „Der Standard“ vom 21. August 2007 maßlos übertrieben: „Ein ungewöhnlich eindeutiger unabhängiger Beweis für die historische Verlässlichkeit eines alttestamentlichen Berichts.“ Es kann durchaus sein, dass der Jeremia-Bericht über die Eroberung von Jerusalem historisch zutreffend ist. Aber dass eventuell der Name des babylonischen Feldherrn korrekt wiedergegeben wird, ist allenfalls ein erster Hinweis auf die historische Korrektheit des Berichtes. Der Fund der österreichischen Keilschriftexperten um Professor Jursa bleibt auch dann bedeutsam, wenn man ihn nicht mit der Behauptung belastet, hier sei ein wichtiger Beweis erbracht, dass die biblischen Berichte historisch verlässlich sind.

 

Ein Professor sorgt für Unruhe – der Babel-Bibel-Streit

 

Der 13. Januar 1902 sollte die theologische Debatte im kaiserlichen Deutschland verändern. Aber das ahnten Kaiser Wilhelm II., sein Gefolge und die Mitglieder der Deutschen Orient-Gesellschaft noch nicht, als sie sich zu einem Lichtbildervortrag in der Berliner Singakademie versammelten. Der Assyrologe Friedrich Delitzsch sprach über Erkenntnisse aus den archäologischen Grabungen in Mesopotamien und der Entzifferung von babylonischen Keilschrifttexten. Was der angesehene Professor über Babel und Bibel referierte, war der Fachwelt zwar nicht neu, aber er formulierte es so pointiert, dass sein Vortrag nicht nur bei Kaiser und Hofstab höchste Aufmerksamkeit hervorrief, sondern auch bei den anwesenden Journalisten. Professor Delitzsch zeigte sich überzeugt, „dass obenan die Ergebnisse der babylonisch-assyrischen Ausgrabungen berufen sind, eine neue Epoche wie im Verständnis, so in der Beurteilung des  Alten Testamentes herbeizuführen, und dass für alle Zukunft eng verbunden bleiben Babel und Bibel.“[3]

 

Der Keilschriftexperte stellte dar, dass viele Erzählungen des Alten Testaments große Ähnlichkeiten mit älteren Legenden und religiösen Texten von Babyloniern und Assyrern aufwiesen. Dies gelte zum Beispiel für die Schöpfungsgeschichten und die Geschichte von der Sintflut. Auch zwischen den Gesetzen und Normen der Babylonier und den Geboten in der Bibel diagnostizierte Friedrich Delitzsch deutliche Übereinstimmungen. Selbst die Vorstellung von der Existenz von Engeln als Boten Gottes hätte einen babylonischen Ursprung. Nach der Darstellung weiterer Ähnlichkeiten kam der Vortragende zum Ergebnis: „Und so ist es mir vielleicht gelungen zu zeigen, dass auch unserm religiösen Denken durch das Medium der Bibel noch gar manches Babylonische anhaftet.“[4] Er beeilte sich hinzufügen, dass durch diese Erkenntnisse „die wahre Religiosität, wie sie uns die Propheten und Dichter des Alten Testaments und in erhabenstem Sinne Jesus gelehrt, so wenig berührt, dass sie vielmehr nur um so wahrer und verinnerlichter aus diesem Reinigungsprozess hervorgeht“.[5]

 

Aber der Versuch, die zu erwartende Kritik von Theologen abzumildern, wurde schon mit den nächsten Sätzen des Vortrags wieder zunichte gemacht, in denen der Assyrologe die Wurzeln des Monotheismus in frühbabylonischen Zeiten zu erkennen glaubte. Der Heidelberger Altorientalist Stefan M. Maul ist zum Ergebnis gekommen, dass Friedrich Delitzsch „mit sichtlichem Vergnügen“ die Theologenschaft verunsicherte, „die um die Autorität der Heiligen Schrift, um das Ansehen der Kirche und das Seelenheil ihrer Gläubigen bangte“.[6]

 

Der Vortrag von Professor Delitzsch löste in den jüdischen und christlichen Religionsgemeinschaften heftige Reaktionen aus, allein schon deshalb, weil damals die Überzeugung noch weiter als heute verbreitet war, dass die biblischen Texte den Verfassern Wort für Wort von Gott diktiert worden waren. Damit ließ sich nicht in Einklang bringen, dass die biblischen Geschichten von der Schöpfung oder der Sintflut beträchtliche Ähnlichkeiten mit älteren babylonischen Geschichten aufwiesen. Ein Gott, der in seiner Heiligen Schrift etwas von den Mythen anderer orientalischer Völker übernahm, erschien undenkbar. Der Berliner Theologieprofessor Rüdiger Liwak schrieb 1998 in einem Zeitschriftenaufsatz über den Stellenwert der Debatte:        „Delitzschs Anschauungen waren explosiv: Seine These, nach der Texte des Alten  Testaments von Babylonien herzuleiten sind, erschütterte die Glaubwürdigkeit von Theologie und Kirche. Nach der kirchlichen Entfremdung der Arbeiterschaft drohte nun auch der Abschied des Bürgertums aus der Kirche.“[7]

 

Viele jüdische und christliche Theologen entschlossen sich zum Gegenangriff und attackierten Professor Delitzsch in zahlreichen Artikeln und Broschüren heftig – der Babel-Bibel-Streit (auch Bibel-Babel-Streit genannt) schlug in Fachwelt und Medien hohe Wellen. „Will man uns alles rauben?“, fragte ein besorgter Pfarrer in einer konservativen Zeitung. Der Streit brachte Kaiser Wilhelm II. in Verlegenheit. Denn in seiner ersten Euphorie über die spannenden Ausführungen von Professor Delitzsch hatte er veranlasst, dass der Vortragstext im amtlichen „Deutschen Reichsanzeiger“ erschien. Außerdem hatte der an Geschichte und archäologischer Erforschung des Orients überaus interessierte Kaiser den Wissenschaftler eingeladen, die Rede ein weiteres Mal im Königlichen Schloss zu Berlin zu halten. Wenig später sah er sich genötigt, offiziell zu erklären, er missbillige die Angriffe des Professors auf die alttestamentliche Offenbarung. Ein Karikaturist zeigte Delitzsch und seine Gegner als antike Krieger, die mit Tontafeln bewaffnet waren. Dazu dichtete er: „Und Keilschrift heißt es alldieweilen, weil sie mit ihren Schriften keilen.“[8]

 

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es noch ein ähnliches „Schlachtfeld“, die Debatte um den „Panbabylonismus“. Einige deutsche Keilschriftforscher vertraten die These, dass die babylonische (und assyrische) Astrologie und Religion der Ursprung aller Religionen und Kulturen waren, namentlich auch der israelitischen Religion und Kultur. Der Begriff „Panbabylonismus“ geht auf den Altorientalisten   Hugo Winckler zurück, der auch zu den prominentesten Verfechtern dieser Theorie gehörte. An Euphrat und Tigris läge zwar nicht die Wiege der Menschheit, aber der Ursprung all dessen, was sich danach in den vielen Religionen und Kulturen entfaltet hat. Dies gelte auch für die jüdische Religion.

 

Diese Auffassungen wurden nicht in ihrer Gänze von Friedrich Delitzsch geteilt, aber viele Kritiker setzten sich mit Vehemenz gleich mit beiden Argumentationslinien auseinander, die die Originalität und Einzigartigkeit der biblischen Offenbarung infrage stellten. Richtig am „Panbabylonismus“ war zweifellos, dass er das Augenmerk darauf lenkte, dass verschiedene biblische Geschichten und Aussagen an „heidnische“ Texte anknüpften. Aber aus heutiger Sicht sind mindestens drei Schwächen der Argumentation zu diagnostizieren. Der „Panbabylonismus“ vernachlässigte die Unterschiede zwischen den Religionen. Ebenso hatte er die Gemeinsamkeiten der  orientalischen kulturellen und religiösen Vorstellungen nicht im Blick, ohne dass man voneinander abgeschrieben hat.

 

Die jüdischen Geschichten, die in die Bibel aufgenommen wurden, hatten zumindest zu einem wesentlichen Teil ihre Wurzeln in Geschichten, die an den Lagerfeuern in der ganzen Region und eben auch in Palästina erzählt wurden. Aus heutiger Sicht ist drittens festzustellen, dass der „Panbabylonismus“ einen stark verengten Weltblick auf Europa und den Mittleren Osten hatte. All die Religionen, die außerhalb dieses Raums entstanden, und das waren zweifellos die meisten, besaßen in dieser Argumentation allenfalls eine Randstellung.

 

Professor Delitzsch war angesichts der heftigen Angriffe gekränkt und reagierte darauf, indem er seine Thesen noch verschärfte und nun forderte, den alttestamentlichen Gottesglauben kritisch zu hinterfragen. Angesichts der daraufhin noch massiveren Kritik an seiner Person und seinen Thesen verstieg er sich sogar zur Forderung, das Alte Testament aus der christlichen Bibel zu entfernen. Es habe für den christlichen Glauben keine größere Bedeutung als babylonische Texte.

 

Als Friedrich Delitzsch dann auch noch eine arische Herkunft Jesu vermutete, hatte er sich bedenklich antijüdischen Positionen in der deutschen Gesellschaft angenähert. Zwar verwahrte er sich gegen den Vorwurf, er propagiere einen Antisemitismus, aber dass er den Antijudaismus förderte, ist nicht ernsthaft zu bestreiten. Es kann nicht überraschen, dass nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten regimetreue „Deutsche Christen“ die Thesen des Berliner Assyrologen (und auch des „Panbabylonismus“) in ihre eigene Argumentation einbezogen.

 

 Das hat Professor Delitzsch nicht mehr erlebt, denn er war 1922 gestorben. Er hatte seinem Ruf als führender Assyrologe dadurch selbst schwer geschadet, dass er sich durch die Kritik zu immer gewagteren religionsgeschichtlichen und theologischen Thesen verleiten ließ. Aber nicht nur er nahm Schaden durch den „Babel-Bibel-Streit“, sondern auch der sachlich notwendige Diskurs darüber, was es für den jüdischen und christlichen Glauben bedeutet, dass manche biblische Geschichte durch mesopotamische Mythen und religiöse Texte beeinflusst worden ist. Gar zu rasch gingen viele Theologen dazu über, sich und andere damit zu beruhigen, dass die Geschichten in der Bibel ja nicht identisch mit den heidnischen Geschichten seien. Sie stellen bis heute die Unterschiede so ausführlich dar und diskreditieren die mesopotamischen „Originale“ so sehr, dass die Brisanz der Ähnlichkeiten ganz aus dem Blickfeld verschwindet.

 

Der im 19. Jahrhundert entstandenen „Historischen Religionswissenschaft“, die die geschichtliche Entwicklung von Religionen und ihrer Beziehungen untersucht, hat die Debatte um „Panbabylonismus“ und die Thesen von Professor Delitzsch nicht gut getan. Gar zu einfach konnten viele seiner provokanten Aussagen widerlegt werden, ohne dass die Notwendigkeit bestand, sich mit dem Wahrheitsanspruch der eigenen Religion in einer Welt der vielen Religionen auseinanderzusetzen und die vielfältigen historischen Verbindungen zwischen verschiedenen dieser Religionen ernst zu nehmen.

 

Der Verzicht auf einen exklusiven eigenen Wahrheitsanspruch fällt heute eher noch schwerer, wo viele Gläubige unterschiedlicher Religionen mit großer Entschlossenheit ausschließlich ihre Religion und sogar nur ihr Verständnis des Kerns dieser Religion als wahr betrachten, mit großer Vehemenz verteidigen und in manchen Fällen auch mit Gewalt gegen Andersgläubige vorgehen. Und doch ist ein Miteinander der Religionsgemeinschaften und Kulturen nur zu verwirklichen, wenn die Bereitschaft wächst, den Glauben der Anderen ernst zu nehmen und deren und den eigenen Wahrheitsanspruch nebeneinander stehen zu lassen.

 

Karl Mays vergessenes Drama „Babel und Bibel“

 

Der Versuch ist gescheitert. Gerne wäre Karl May nicht allein für seine Winnetou-Geschichten, sondern vor allem als Verfasser bedeutender Dramen in die Kulturgeschichte eingegangen. Dass er dafür ausgerechnet den Babel-Bibel-Streit zum Ausgangspunkt machte, war ein Fehler. Zwei Jahre lang, von 1904 bis 1906, arbeitete er unermüdlich an dem Stück, so lange, wie an keinem anderen seiner Werke. In „Babel und Bibel, Arabische Fantasia in zwei Akten“ verknüpfte der Schriftsteller religiöse Fragen mit abenteuerlichen Geschichten an einem arabischen Herrscherhof. In der ersten Szene bildet der zerstörte Turm von Babylon die Kulisse, und eine der Hauptpersonen des Stücks, ein etwas verknöcherter Gelehrter, trägt den Namen Babel. Dieser Babel vertritt im Drama die Wissenschaft, die nach Karl Mays Auffassung durch Kunst und Religion geläutert werden muss. Der Schriftsteller setzte sich in seinem Drama deshalb vehement für eine Versöhnung von Wissenschaft und Religion ein.

 

Der Babel-Bibel-Streit selbst wird in dem Stück explizit nicht thematisiert, aber Karl May, der einen Vortrag von Professor Delitzsch gehört und seine Schriften intensiv studiert hatte, nahm im Verlauf des Dramas häufiger Bezug auf dessen Darstellung der Religionsfragen und Babylons, ohne sie sich zueigen zu machen. Der Schriftsteller vertrat in vielen Punkten andere Positionen als der Assyrologe. So sah er Märchen und Mythen sehr viel positiver und wertete das Alte Testament nicht ab. Karl May war ein gläubiger Christ, der seine religiösen Überzeugungen in viele Geschichten und Gedichte einfließen ließ. Unvergessen die letzten Worte eines edlen Indianers: „Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!“

 

Und auch in seinen arabischen Geschichten machte Karl May das Christentum und sein Verhältnis zum Islam zum Thema. Hermann Wohlgschaft, der sich intensiv mit der Beziehung der Werke von Delitzsch und May beschäftigt hat, betont: „Mays Anliegen war nicht die Abgrenzung des Christentums von anderen Religionen; sein Anliegen war, im Gegenteil, die Versöhnung des Christentums (und des Abendlands) mit dem Morgenland.“[9]

 

Als das Drama endlich veröffentlicht werden konnte, erwartete Karl May einen großen Erfolg. Am 26. September 1906 schrieb er in einem Brief an Prinzessin Marie Therese von Bayern: „Mit dem soeben in Druck erschienenen arabischen Fantasia ‚Babel und Bibel‘ beginne ich eine Reihe von Dramen, welche zeigen sollen, in welcher Weise die Kunst zwischen Religion und Wissenschaft zu vermitteln hat. Ich will in diesen Dramen die heilige Macht des Glaubens, die Unwiderstehlichkeit des wahren Gottvertrauens, die Forderungen der edlen Menschlichkeit und die Möglichkeit eines vernunftmäßigen Völkerfriedens zur lebendigen Gestaltung bringen.“

 

Das Drama wurde von Kritikern ausgesprochen negativ bewertet, und Karl May verfasste daraufhin keine weiteren Theaterstücke. Ein Jahrhundert lang wurde das Drama „Babel und Bibel“ auf keiner Bühne aufgeführt. Die Uraufführung fand erst im Juni 2005 statt, und dann war es keine professionelle Bühne, die sich des Dramas annahm, sondern das Schülertheater der Realschule in Hachenburg.

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann



[1] Stefan Maul: Wiedererstehende Welten, Aufgaben und Möglichkeiten moderner Altorientalistik, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin, 130, Berlin 1988, S. 267f.

[2] Ebenda, S. 268.

[3] Friedrich Delitzsch: Babel und Bibel, Ein Vortrag, Leipzig 1902, S. 4.

[4] Ebenda, S. 44.

[5] Ebenda.

[6] Stefan M. Maul: Babylon – das Fadenkreuz von Raum und Zeit, in: R. Galle/J. Klingen-Protti (Hrsg.): Städte der Literatur, Heidelberg 2005, S. 1.

[7] Rüdiger Liwak: Bibel und Babel, in: Berliner Theologische Zeitschrift, 2/1998, S. 210.

[8] Zitiert nach: Christian Feldmann: Ausbruch des Bibel-Babel-Streits, Bayerischer Rundfunk, Das Kalenderblatt, 13. 1. 1992.

[9] Hermann Wohlgschaft: Der Einfluß des Assyrologen Friedrich Delitzsch auf Karl Mays ‚Babel und Bibel‘ und sein Spätwerk überhaupt, Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft Nr. 89, September 1991, S. 9.