Provenzalische Krippe mit Terracotta-Figuren
Provenzalische Krippe mit Terracotta-Figuren - ein Beispiel für die Vielfalt von Krippen in allen Teilen der Welt. Foto: iStock.com/oceane2508

Jesu Geburt im Lukasevangelium

 

Lukas 2,1-21 Bibeltext

 

„Der Knabe, der in seiner reinen Unschuld und seiner anspruchslosen Schlichtheit in der Krippe liegt, besitzt den Schlüssel zum Geheimnis Gottes und des Menschen. In ihm begegnen sich beide, Gott und Mensch, in unmittelbarer Nähe: Auge in Auge, von Herz zu Herz, von Angesicht zu Angesicht.“[1] So hat der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff das Weihnachts­geschehen gedeutet. Die Geburt Jesu ist für ihn ein Grund großer Hoffnung: „In ihm ist der wahre Gott zugegen, der unsere unendliche Sehnsucht stillt, unsere Schwachheit annimmt, unsere abgrundtiefe Armut bereichert, unsere Tränen trock­­net, uns mit unaussprechlicher Freude erfüllt, unsere Kleinheit vergöttlicht und unser sterbliches Leben unsterblich macht.“[2]

 

Keine biblische Geschichte wird so oft in den Kirchen der Welt gelesen und keine ist den Gläubigen so präsent wie die anrührende Geschichte von der Geburt des Jesus­kindes. Die einundzwanzig Verse am Anfang des Lukasevangeliums können als der bekannteste Text der Weltliteratur angesehen werden und wohl auch der wirkungsvollste.[3] Der äußerlichen Armut steht die Herrlichkeit der Verheißungen der Engel gegenüber. Und gerade diese Geschichte soll eine Legende sein oder wie Uta Ranke-Heinemann sagt ein „Weihnachtsmärchen“?[4] An den Weihnachtsmann glauben wir schon seit jungen Jahren nicht mehr – sollen wir nun Abschied nehmen vom Kind in der Krippe, von der schönen Mutter Maria und dem betagten Vater Josef, von Ochs und Esel und auch von den Engeln und Hirten? Die These „Gott ist tot“ löst hierzulande kaum noch Empörung aus, aber sollen wir nun die schöne Weihnachts­geschichte, wie wir sie jeden Heiligabend ergriffen in der Kirche hören, als fromme Erfindung abtun?

 

Stutzig macht ein Vergleich der Evangelien: Jesu Geburt wird im Matthäus- und im Lukasevangelium mit deutlichen Unterschieden dargestellt. Ein Grund dafür ist, dass die Verfasser der beiden Evangelien den jeweils anderen Text sehr wahrscheinlich nicht kannten, sondern sich beim Schreiben ihrer Evangelien beide auf das Markusevangelium (das keinen Bericht über Jesu Geburt enthält) sowie auf weitere Quel­len stützten, die heute nicht mehr zugänglich sind.

 

Dass die beiden Geburtsge­schich­ten derart unterschiedlich ausfielen, liegt aber auch daran, dass die Evan­­gelien von Matthäus und Lukas an unterschiedliche Gemeinden gerichtet wa­ren, denen in ihrer jeweiligen Situation die Botschaft Jesu nahegebracht werden sollte. Und beide Evangelisten wollten das Heilsgeschehen und die Botschaft Jesu, so wie sie sie verstanden hatten, in Erinnerung halten und sahen sich nicht lediglich als Chronisten dessen, was einige Jahrzehnte vorher geschehen war. Hubertus Halbfas, der Verfasser des umfangreichen Standardwerks „Die Bibel“, hat über die Geburts- und Kindheitserzählungen der beiden Evangelien geschrieben: „Histo­rischen Informationswert haben sie nicht.“[5] Aber das bedeutet weder für ihn noch für uns, dass wir sie einfach beiseite legen sollten. Gerade weil sie keine spannenden Reportagen über ein historisches Ereignis sind, sondern erzählte Theologie, können sie uns neue Zugänge zum Glauben eröffnen.

 

Eine Volkszählung stößt auf Widerstand

 

Das Lukasevangelium erwähnt in Zusammenhang mit Jesu Geburt eine Reihe von historischen Persönlichkeiten und eine Volkszählung, Angaben, die den Eindruck entstehen lassen könnten, der Verfasser bemühe sich um eine exakte historische Einordnung des Geschehens. Die historische Forschung hat gezeigt, dass die Angaben als Chroniken des damaligen Geschehens nicht geeignet sind. Kaiser Augustus regierte von 27 vor Christus bis 14 nach Christus. Irgendwann in dieser Zeit könnte Jesus also geboren sein, und die Aussage von Lukas wäre zutreffend, dass diese Geburt während der Herrschaftszeit des Kaisers geschah. König Herodes lebte bis 4 vor Christus. Wenn Jesus wäh­rend seiner Herrschaftszeit geboren wurde, muss das Geburtsjahr also spätes­tens 4 vor Christus gelegen haben. Dazu passt aber nicht, dass der von Lukas ebenfalls erwähnte Qurinius sein Amt als Statt­halter in Syrien erst 6 nach Christus ange­treten hat. Zwischen dem Tod von Hero­des und dem Amtsantritt des Statthalters lag mehr als ein Jahrzehnt.

 

Eine allgemeine Volkszählung, verbunden mit einer Steuerschätzung im ganzen Römischen Reich, die nach Lukas der Anlass dafür war, dass Maria und Josef nach Bethlehem reisen mussten, hat es in dem möglichen Zeitraum der Geburt Jesu nicht gegeben. Das kann niemand bestreiten, der sich seriös mit der Ge­schichte des Römischen Reiches beschäftigt hat. Gemeint hat Lukas vermutlich einen Zensus in Judäa, der nach der Absetzung des Herodessohnes Archelaos und der Eingliede­rung Judäas in die syrische Provinz durch­geführt wurde. Dieser Zensus fand 6 oder 7 nach Christus statt.[6] Man sieht, die Daten passen nicht zusammen. Wenn man auch noch versucht, den Stern von Bethlehem in die Berechnungen einzubeziehen, wird die Sache noch undurchsichtiger. Gerd Theißen und Annette Merz kommen nach einer Abwägung der Fakten in ihrem Jesus-Buch zum Ergebnis: „Das Geburtsjahr Jesu lässt sich nicht ermitteln, eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht für die letzten Regie­rungs­jahre Herodes des Großen.“[7]

 

Jeder sollte, schreibt Lukas, für eine Schätzung in seine Stadt gehen, und deshalb machte sich Josef aus Nazareth mit seiner Verlobten Maria, die schwanger war, auf den Weg nach Bethlehem. Wenn wir annehmen, dass Josef nach Beth­lehem aufbrechen musste, gab es keinen Grund dafür, dass auch Maria in ihrem hochschwan­geren Zustand die gefahrvolle Reise auf sich nahm, weil sie nur mit Josef verlobt war. Der Refor­mator Johannes Calvin hat diese Rückfrage an den biblischen Text auch bedacht und sie so beantwortet: „Es hatte ja nun freilich seinen Grund, wenn Josef nach Bethlehem kam; der Grund war der Erlaß des römischen Kaisers. Aber daß er dabei die schwangere, ihrer Niederkunft nahe Frau mitnahm, das stammte sicher nicht von Menschen, da war Gott am Werk. Wir sehen da auch, auf welch seltsame Weise Gott seinen Willen durchführt.“[8]

 

Dass es Gottes Willen war, dass eine hochschwangere Frau die beschwerliche Reise von Nazareth in Galiläa nach Bethlehem in Judäa unternahm, wird nicht alle heutigen Gläubigen überzeugen. Vor allem aber ist es auch höchst unwahrscheinlich, dass für Josef diese Reise nach Bethlehem überhaupt erforderlich war. Die Schätzung in dem von Syrien aus regierten Judäa hatte das Ziel, die Steuerpflich­tigen zu erfassen, um sie besser zu den Zahlungen der Grund- und Kopf­steuern her­anziehen zu können. Das Eintreiben der Steuern sollte selbstverständlich am jeweiligen Wohnort erfolgen. Da wäre es geradezu widersinnig gewesen, die Bür­ger zu ihren Ge­burtsorten zu beordern und im allgemeinen Chaos völlig den Überblick zu ver­lieren, wer wo zu Steuerzahlungen verpflichtet war. [9]

 

Zudem lebte Josef in Nazareth in Galiläa, war also gar nicht von dem Zensus betroffen. Die von manchen Verteidigern der historischen Authentizität des neutestamentlichen Geschehens ins Feld geführte Annahme, Josef habe Land in Bethlehem besessen und hätte deshalb für die Steuerschätzung dort erscheinen müssen, hilft nicht weiter. Diese Argumentation krankt daran, dass Lukas diesen Grund der Reise nicht erwähnt, obwohl er viele Details in Zusammenhang mit Jesu Geburtsgeschichte in sein Evangelium aufnahm. Außerdem ist es unwahr­scheinlich, dass ein kleiner Handwerker in Nazareth im weit entfernten Bethlehem Land besessen haben soll und er dort gleichzeitig keine Verwandte hatte, bei denen das Paar hätte wohnen können. Dass Josef und Maria kurz darauf von der Opferung eines Lamms im Tempel befreit wurden und sich wegen ihrer Armut auf die Opferung von zwei Tauben beschränken durften, spricht nicht für einen Landbesitz in Bethlehem. Man erkennt, Lukas beschreibt hier kein historisches Ereignis, sondern benutzt den in Erinnerung gebliebenen Zensus dafür, Josef und Maria für die Geburt des Kindes von Nazareth nach Bethlehem reisen zu lassen. Das war nach dem Verständnis von Lukas notwendig, weil der Messias aus Bethlehem kommen sollte. Ein Messias aus dem winzigen Dorf Nazareth in Galiläa erschien von Anfang an, von der Geburt an, weniger glaubwürdig.

 

Ein Zensus als Symbol der verhassten römischen Herrschaft

 

Dass der Zensus eine derart prominente Rolle in der Geburtsgeschichte des Lukas hat, liegt auch daran, dass er auf beträchtlichen Widerstand in der Bevölkerung von Judäa stieß. Dazu schreibt Manuel Vogel in seinem Herodes-Buch: „Da das Herr­schaftsgebiet des abgesetzten Klientelfürsten (Archelaos) nun den Römern di­rekt steuerpflichtig war, bedurfte es einer solchen Zählung, um durch die Erhebung des Volksvermögens die Bemessungsgrundlage für die zukünftig zu entrichtenden Steu­ern zu schaffen. Der Zensus des Quirinius kündigte nicht nur eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung für die Bevölkerung an, er symbolisierte auch handgreiflich die römische Herrschaft über den einstigen jüdischen Staat.“[10]

 

Für die jüdische Bevölkerung von Judäa war der Widerstand gegen den Zensus und die damit verknüpfte römische Kopfsteuer auch religiös begründet. Dazu schrei­­­­ben Dorothee Sölle und Luise Schottroff in ihrer Jesus-Biographie: „In den mes­­sianischen Bewegungen des Judentums im 1. Jahrhundert stand die Hoffnung auf das Reich Gottes, auf eine Erde, auf der nur noch Gott König ist, im Mittelpunkt. Die Gotteserwartung gab den Menschen Kraft und Phantasie. Ihr Widerstand machte sich besonders an der Frage der Steuer für Rom fest. Das war die Konsequenz aus der Gottesbeziehung: Kein Mensch hat mehr das Recht, Anspruch auf den Körper anderer zu erheben. Dies aber tat der Kaiser in Rom. Er betrachtete die Kopfsteuer (tributum capitis) als Konsequenz der Eroberung von Völkern, deren Körper nicht mehr ihnen selbst gehörten, sondern Eigentum des neuen Herrn in Rom geworden war ... Aus der Perspektive vieler jüdischer Menschen drohte die mit der Kopfsteuer verbundene Anerkennung der Herrschaft des Kaisers über die Menschen die Beziehung zu Gott zu zerstören. Gott allein soll König und Herr sein und niemand sonst, das war die Lebensrichtung für jüdische Menschen.“[11]

 

Es kam hinzu, dass der Zensus verbunden war mit dem Verkauf der Güter des Herodessohns Archelaos in Judäa. Der Verkauf führte dazu, dass die bisherigen Klein­pächter dieses Landes ihre Felder und damit ihre Existenzgrundlage verloren. Sie hatten nur die Wahl auszuwandern oder sich und ihre Familien als Sklaven zu verkaufen.[12] Die Erinnerung an den Zensus in der Weihnachtsge­schichte des Lukas war eine Erinnerung an erfahrenes Unrecht durch existenzge­fährdend hohe Steuern und ein auf Ausplünderung beruhendes Wirtschaftssystem. So betrachtet sind nicht Herbergsbesitzer, die das Paar abwiesen, ein Anlass, über Willkür nach­zudenken, sondern die wirtschaftlichen Verhältnisse im Römischen Reich, die zu dem Zensus führten.

 

Das Thema Steuern besaß auch in Galiläa, wo Maria und Josef lebten, eine große Brisanz, denn der dort herrschende Herodes Antipas, ein Sohn von König Herodes, wollte sich mit einem gewaltigen Bauprogramm einen Namen machen und war hierfür auf hohe Steuern und Abgaben angewiesen. Da er als Lokalfürst inner­halb des Römischen Reiches nicht willkürlich die Steuern erhöhen konnte, baute er ein effizienteres System der Verwaltung und Steuereintreibung auf und erhöhte auf diese Weise seine Einnah­men.[13] Dagegen formierte sich eine Widerstandsbewegung, die ihr – wie man heute formulieren würde – sozialrevolutionäres Pro­­gramm religiös begründete.[14] Als Herrscher wurde nur Gott anerkannt, nicht die römischen Kaiser und ihre lokalen Vasallen. Willibald Bösen schreibt in seinem Galiläa-Buch über den Widerstand dieser Bewegung: „Kraft dazu gewinnt man in einem eschatologisch-apokalyptischen Zeitverständnis. Man ist überzeugt, dass der neue Äon kurz bevorsteht, die Gegenwart mit ihrer vielfachen wirtschaftlichen und poli­ti­schen Not zeigt bereits den Umbruch an. Doch will man nicht wie die Phari­säer auf das wunderbare Eingreifen Gottes warten, sondern die Wehen der Endzeit durch eigene Aktivität verkürzen, und sei es mit dem Schwert.“[15] Die Widerstands­be­wegung wurde brutal unterdrückt, formierte sich aber immer wieder neu und beteiligte sich 66 n. Chr. an einem Aufstand, der vier Jahre lang dauerte und mit der Zerstö­rung Jerusalems endete.

 

Das Kind in der Krippe

 

In Bethlehem angekommen, gebar Maria einen Sohn, den sie in eine Krippe legte, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge, lesen wir bei Lukas. Den Hir­ten, die auf dem Felde waren, verkündete ein Engel, dass heute ihr Heiland geboren wurde, und die Hirten machten sich eilends auf den Weg und fanden Maria, Josef und das Kind in der Krippe. Anschließend verbreiteten sie das Wort, das ihnen von diesem Kinde gesagt worden war. Von der Mutter des Neugeborenen wird berichtet, dass sie alle Worte behielt und in ihrem Herzen bewegte. Jesu Geburtsgeschichte, wie sie Lukas erzählt hat, kann uns vermitteln, dass Jesus in großer Armut auf diese Welt gekommen ist. Und doch wurde, betonte Lukas, bei seiner Geburt sichtbar, dass Großes von ihm ausgehen würde.

 

Wenn wir uns in die Geschichte, wie sie Lukas aufgeschrieben hat, hineinbegeben, können wir uns vorstellen, wie Maria am Ende einer anstrengenden Reise und ohne die Hilfe einer Hebamme ihr erstes Kind auf die Welt gebracht hat. Schmerz und Hoffen werden zu dieser Geburt gehört haben. Für die junge Mutter Maria – wie für viele Mütter auf der Welt – werden nach der Geburt die Erleichterung und die Freude groß gewesen sein. Vielleicht wird sie gedacht oder gesagt haben, was viel später ihr Sohn am gewaltsam herbeigeführten Ende seines Lebens gesagt hat: Es ist vollbracht.

 

Die feministische Schweizer Theologin Ina Praetorius erinnert uns daran, dass eine Geburt mit Schmer­zen, Blut, Schweiß und Schreien verbunden ist, dass diese Tatsache aber bei gängigen Fei­ern des Weihnachts­­­­festes keine Rolle spielt: „So spre­chen viele bedenkenlos von ‚Geburtsdarstellungen‘, wenn sie Bilder meinen, auf denen eine vollständig bekleidete junge Frau einen sauber gewaschenen Säugling auf dem Arm hält. Auf sol­chen Bildern ist aber weit und breit keine Geburt zu sehen. Während die christliche Ikonographie des Todes Jesu eine Entwicklung hin zur realistischen Darstel­lung – mit Nacktheit, Blut und schmerzverzerrtem Gesicht – erlebt hat, steht ein sol­cher Fortschritt hinsichtlich der Geburt des GOTT-Menschen noch aus.“[16]

 

Die Hebamme Ina Schneider hat in einem Zeitschriftenbeitrag be­tont, dass eine Geburt Schwerstarbeit ist: „Erst wenn der Wehensturm sich gelegt hat, kommt bei den Müttern die Empfindung: Was habe ich da tolles geschafft und geschaffen.“[17] Die junge Maria wird hoffentlich auch diese Gefühle gehabt haben, und der Lebens­weg ihres ältesten Sohnes sollte viel Anlass dafür bieten, stolz auf ihn zu sein, auch wenn innerfamiliäre Spannungen über die Entscheidung des Sohnes, Wanderpre­diger zu werden, vielleicht nicht ausgeblieben sind. Im Lukasevangelium wird berichtet, dass Maria von Anfang an Freude darüber empfinden konnte, ein beson­de­res Kind zur Welt gebracht zu haben, denn dieses Kind wurde von Hirten angebetet und von Engelscharen gepriesen. Und vielleicht hat Maria sich – wie viele andere Mütter – auch gefragt, was das Leben für ihr Kind bereithalten würde. Eine berechtigte und wohl auch besorgniserregende Frage in unruhigen Zeiten.

 

Da mag es tröstlich sein, dass das Paar vermutlich wenigstens nicht in einem Stall genächtigt hat. Zu diesem Ergebnis ist Pastor Hans-Christoph Goßmann von der Ham­burger Jerusalem-Gemeinde aufgrund seiner Beschäftigung mit dem biblischen Text und der damaligen sozialgeschichtlichen Wirklichkeit gekommen. Die Krippe befand sich damals nämlich im Wohnhaus: „... in diesen Häusern war der Eingangsbereich einen halben Meter tiefer angelegt. In diesem Bereich standen in der Nacht die Nutztiere, die tagsüber draußen waren … Der Fußboden des Wohnraumes befand sich sozusagen auf Nasenhöhe der Tiere. Diese Art der Architektur hatte für Mensch und Tier ihre Vorteile: Die Tiere waren geschützt und wärmten zudem das Haus durch ihre Körperwärme, was insbesondere in kalten Nächten für die im Haus lebenden Menschen wichtig war. Die Futtertröge waren in den Fußboden ein­gelassen … Mit anderen Worten: Wir können davon ausgehen, dass Josef und Maria mit Jesus im Haus und nicht in einem Stall waren.“ [18]

 

Hans-Christoph Goßmann erinnert daran, dass auch in der Geburtsgeschichte von Matthäus in Zusammenhang mit dem Besuch der drei Sterndeuter von einem Haus und nicht von einem Stall die Rede ist. Der Hamburger Pastor fügt hinzu: „Es hätte auch nicht zu den damaligen Sitten gepasst, eine hochschwangere Frau in einen Stall abzuschieben.“[19] Bevor wir nun zu sehr bedauern, dass das schöne Bild von der Krippe im Stall nicht zu dem passen will, was wir über die damaligen Wohnverhältnisse wissen, hören wir noch einmal in die Predigt von Hans-Christoph Goßmann hinein: „Jesus kam nicht in einem Stall zur Welt, der abseits der Wohnhäuser der Men­schen lag. Er kam da zur Welt, wo die Menschen lebten und wohnten, da, wo sie ihren Alltag verbrachten, mit all dem Schönen und auch all den Sorgen, die zum Alltag nun einmal dazugehören. Und wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott auch zu uns kommt – nicht in irgendeinem abgelegenen Gebäude, sondern zu uns, in unsere Wohnungen, unsere Wohnzimmer, unsere Küchen, unsere Kinderzimmer und un­sere Büros.“[20]

 

Dass Jesus als Baby der mütterlichen Fürsorge bedurfte wie jedes andere Baby, hat der katholische indische Theologe Joseph Francis in einer Weihnachtsmeditation betont: „Seine Mutter stillte ihn, wie alle Mütter ihre Babys stillen, und tat all die notwendigen Dinge, die ein Kind braucht, vom Baden über das Ankleiden bis zum Singen eines Schlafliedes. Dieser Gott weinte und lachte, öffnete und schloss seine Augen, wie alle Babys dies tun, und war genauso hilflos wie jedes andere menschliche Baby.“[21] Diese Menschlichkeit des Babys Jesus, sind Theologen wie Joseph Francis überzeugt, ist Ausdruck dessen, dass er wahrer Gott und zugleich wahrer Mensch war.

 

Werfen wir hier mit dem Hamburger ehemaligen Propsten Hartwig Liebich wenigstens einen kurzen Blick auf Josef, der in dieser Geburtsszene so oft vergessen wird: „Josef steht, wie üblich, etwas im Hintergrund. Spätere theologische Dogmatiker haben sogar angefangen, an seiner biologischen Vaterschaft zu zweifeln, doch das kann er zum Glück noch nicht wissen, als er erschöpft und sorgenvoll im Stall von Beth­lehem steht. Immerhin kann er als Vorläufer der so genannten neuen Väter gel­ten; er war bei der Geburt dabei und wiegt auch schon mal selbst das Kind in den Schlaf.“[22]

 

Zur Geburt des Jesuskindes in einer einfachen Krippe schrieb Martin Luther 1529: „Die Krippe wird auch nicht mit Gold und Silber geschmückt, sondern tau­send und tausend Engel schweben drüber, sodass aller Glanz aller Könige auf Er­den lauter Dreck dagegen ist … Drum lass deine Augen nirgend anders wohin sehen als auf dieses Kind. Dann freuen sich die Engel und alle Kreaturen mit dir, die Nacht wird zu Licht und predigt den Hirten, die Krippe wird zum Paradies und Himmel, und der Stall stinkt nicht, sondern riecht aufs beste und ist ein Engelsort.“[23]

 

Der Reformator Johannes Calvin predigte Weihnachten 1558 über das Thema „Ein Heiland ward geboren“ und betonte, Jesus sei als „armer Er­den­wurm“ geboren, fügte dann aber hinzu: „Auf der anderen Seite sehen wir ihn aber gleichsam von Gottes Hand gezeichnet, damit er ohne Schwierigkeiten von uns aufgenommen werde als der Mann, von dem man das Heil erwarten muß und durch den allein wir in Gottes Königreich Aufnahme finden können, aus dem wir zuvor verbannt waren … Und wenn er sich so erniedrigt hat, dann tut dies seiner göttlichen Majestät nicht den geringsten Eintrag, und ist kein Hindernis unsrer Sicherheit unter seiner Führung.“[24] Über den Auftritt der Engel in der Geburtsgeschichte sagte Johannes Calvin in dieser Predigt: „Die Engel des Paradieses sind erschienen, damit wir keine Entschuldigung mehr hätten, wenn wir Jesus Christus nicht als höchsten König anerkennen und uns seiner Majestät beugen.“[25]

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 



[1] Leonardo Boff: Mensch geworden, Das Evangelium von Weihnachten, Freiburg 1986, S. 43

[2] Ebenda, S. 52

[3] Vgl. Walter Schmithals: Weihnachten, Göttingen 2006, S. 47

[4] Vgl. Uta Ranke-Heinemann: Nein und Amen, Mein Abschied vom traditionellen Christentum, München 2007, S. 15ff.

[5] Hubertus Halbfas: Die Bibel, Düsseldorf 1980, S. 415

[6] Vgl. zu diesen Daten den Beitrag von Markus Lau „Herrscher, Zensus und Planetenkonjunktur: Kennen die Evangelisten das Datum der Geburt Jesu“, Weihnachten, Welt und Umwelt der Bibel, 4/2007, S.20 sowie Gerd Theißen und Annette Merz: Der historische Jesus, Göttingen 2001, S.149ff.

[7] Theißen/Merz: Der historische Jesus, a.a.O., S. 151

[8] Johannes Calvin: Lukas 2,1-14: Ein Heiland ward geboren, veröffentlicht auf www.reformiert-online.de

[9] Vgl. Helmut Gollwitzer/Pinchas Lapide: Ein Flüchtlingskind, Auslegungen von Lukas 2, München 1981, S. 11 (Text von P. Lapide)

[10] Manuel Vogel: Herodes, Leipzig 2002, S. 289

[11] Dorothee Sölle/Luise Schottroff: Jesus von Nazaret, München 2000, S. 27

[12] Vgl. Willibald Bösen: Galiläa, Freiburg 1998, S. 165

[13] Vgl. Michael Tilly: Der Fuchs auf dem Herrscherthron, in: Jesus der Galiläer, Welt und Umwelt der Bibel, 2/2002, S. 20

[14] Vgl. Willibald Bösen: Galiläa, a.a.O., S. 161ff.

[15] Ebenda, S. 163f.

[16] Ina Praetorius: „Geburtlichkeit“ – Die andere Seite der „Sterblichkeit“, 13.12.2010, www.evangelisch.de

[17] Ina Schneider: Das Wunder des Menschen, Publik-Forum, 24/2007, S. 13

[18] Hans-Christoph Goßmann: Christvesper 2011, Jerusalem-Kirche, Hamburg, Manuskript

[19] Ebenda

[20] Ebenda

[21] Joseph Francis: A Christmas Meditation: He became one of us, Indian Theological Studies, 3-4/2001, S. 274

[22] Hartwig Liebich: Der Mensch kann immer wieder neu anfangen, 22.12.2011, veröffentlicht auf www.kirche-hamburg.de

[23] Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Göttingen 1951, S. 220f.

[24] Johannes Calvin: Lukas 2,1-14: Ein Heiland ward geboren, veröffentlicht auf www.reformiert-online.de

[25] Ebenda