Vorbild Babylon: Eine erfolgreiche Stadt der Vielfalt

 

Babylon – das ist für viele immer noch das historische Beispiel für ein Chaos, das entsteht, wenn Menschen aus vielen Kulturen und Religionen in einer Stadt zusammenleben. Es ist ein Schreckensszenario, das heutzutage angesichts einer großen Zahl von Migranten immer wieder aufs Neue heraufbeschworen wird.

 

Viele kennen die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel. Als dort niemand den anderen mehr verstand, brach ein großes Durcheinander aus. Daraufhin zogen die Menschen in alle Richtungen davon, sodass der Bau für immer unvollendet blieb. Diese und andere negative Darstellungen und Verwünschungen der Stadt Babylon in der Bibel sind nicht zufällig entstanden. Hintergrund war, dass die Truppen des babylonischen Königs Nebukadnezar 597 v. Chr. Jerusalem erobert und die „oberen Zehntausend“ der Bevölkerung nach Babylonien verschleppt hatten.

 

Nach einem strapazenreichen Zug erreichten diese Israeliten eine pulsierende und prosperierende Großstadt mit beeindruckenden Stadtmauern, Tempeln, Palästen und Wohnhäusern. Es erstaunte die Neuen, dass in Babylon Menschen aus vielen Völkern und Kulturen friedlich zusammenlebten. Und es kamen immer neue Zuwanderer mit ihren Sprachen und Religionen hinzu. Das Wissen und das Können der Zugezogenen trugen offenkundig zu ökonomischer Prosperität und kulturellem Reichtum bei.

 

Eine Stadt, von der viel zu lernen war

 

Babylon war nicht irgendein Provinznest. Es war über viele Jahrhunderte eine der führenden Städte Mesopotamiens und hat die Kultur, Wissenschaft und Religion der gesamten Region geprägt. Vieles von dem, was dort gedacht, erfunden und entdeckt wurde, wirkt bis in die Gegenwart nach. Wem heute die Stunde schlägt, der richtet sich immer noch nach der babylonischen Zeitmessung, und auch auf mathematischem Gebiet haben die Babylonier lange vor den Griechen Beeindruckendes geleistet. Selbst in den heiligen Schriften der Juden finden sich Anklänge an die Glaubenswelt der Babylonier, so in der Legende von der großen Flut und der Arche.

 

Heute weiß man, dass es den Exilisraeliten an Euphrat und Tigris für damalige Verhältnisse relativ gut erging. Sie lebten in eigenen Siedlungen, konnten sich in gewissem Umfang selbst verwalten und hatten Aufstiegsmöglichkeiten in Wirtschaft und Staatsdienst. Sie profitieren mit vom hohen Lebensstandard in Babylonien, der vor allem auf harter Arbeit und großem handwerklichem Können beruhte.

 

Wen wundert es, dass die große Mehrheit der Nachfahren der verschleppten Israeliten mehr als ein halbes Jahrhundert später nicht in die ihnen unbekannte, wirtschaftlich rückständige frühere Heimat zurückkehren wollte, als dies möglich wurde. Das wurde zum Problem für ihre Priester und politischen Führer, die immer aufs Neue die Rückkehr nach Jerusalem angekündigt und propagiert hatten. Sie fürchteten nun, dass ihre Landsleute ihre ethnische, religiöse und kulturelle Identität verlieren würden. Die meisten Nachfahren der Verschleppten blieben trotzdem in Babylonien.

 

Sie fanden auf die Fragen von Identität, Integration und multikulturellem Miteinander eigene Antworten. Und deshalb gingen sie nicht in einem „Völkermischmasch“ unter, sondern bewahrten mehr als zwei Jahrtausende lang ihre jüdische Identität im Zusammenleben mit Menschen anderer Völker, Kulturen und Religionen. Erst Anfang der 1950er Jahre verließen mehr 100.000 Jüdinnen und Juden den Irak als Folge der israelisch-arabischen Auseinandersetzungen.

 

Ein gemeinsamer Mythos als Überlebensgrundlage

 

Mindestens zwölf Mal ist die Stadt Babylon zerstört worden, und immer wieder haben die Bewohner sie neu aufgebaut, oft größer und prächtiger als zuvor. Das wurde möglich, weil die Babylonier bei aller Unterschiedlichkeit die gemeinsame Identität als Bewohner einer bedeutenden Stadt pflegten, auf die man stolz sein konnte. Babylon bildete nach einem gemeinsamen Mythos den Mittelpunkt der Erde. Einmal im Jahr, beim Neujahrsfest, wurde der Sieg des Stadtgottes Marduk über alle seine Gegner ausgelassen gefeiert.

 

Marduk war der oberste Gott, dessen Macht sich in der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung seiner Stadt Babylon widerspiegelte. Aber daneben gab es unzählige andere Götter, die von den Bewohnern der Stadt und des babylonischen Reiches verehrt wurden. Jeder und jede konnte zu den eigenen Göttern beten, solange der staatstragende Gott Marduk nicht vom Sockel gestürzt werden sollte.

 

Der berühmte Turm von Babylon war ein Tempel zur Verehrung dieses gemeinsamen Gottes Marduk. Der 90 Meter hohe Turm überragte nicht nur die Stadt, sondern war auch ein überragendes Symbol gemeinsamer Identität in einer Stadt der Vielfalt. Babylon war ganz gewiss kein multikulturelles Paradies, aber es war ein Gemeinwesen, in dem Menschen aus vielen Völkern und Kulturen friedlich und zum gemeinsamen Wohlergehen zusammenlebten. Interessant ist zum Beispiel, dass manche alteingesessene babylonische Familien ihren neugeborenen Kindern gern Namen aus anderen Kulturen gaben und manche Zuwanderer ihren Kindern babylonische Namen.

 

Babylon als Ausgangspunkt für eine Erneuerung des Irak

 

In den letzten Jahrzehnten haben die Konflikte unter den religiösen und ethnischen Gemeinschaften des Irak so stark zugenommen, dass sie in einen Bürgerkrieg mündeten, wozu ausländische Mächte kräftig beigetragen haben. Um so wichtiger ist aus der Sicht vieler irakischer Historiker und Archäologen, dass sich die Menschen ihres zerrissenen Landes auf die gemeinsame Geschichte besinnen und stolz daran erinnern, dass in Städten wie Babylon eine Vielfalt von Kulturen und Religionen den wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg ermöglicht hat. Mohamed Hattab, der für die staatliche Antiken-Behörde arbeitet, erklärte im Juni 2015 zwei CNN-Korrespondenten: „Babylon ist unsere Seele.“

 

Die Mächtigen des „Islamischen Staates“ haben hingegen ganz andere Überzeugungen und vernichten systematisch alle archäologischen Zeugnisse der antiken Geschichte des Landes. Vielfalt und der Reichtum unterschiedlicher Kulturen und Religionen werden mit großer Brutalität bekämpft. Dem stellen sich religiöse Gemeinschaften im Irak und in anderen Teilen der Welt entgegen, die gemeinsam zur Zukunft der Menschheit beitragen wollen.

 

Babylon bleibt ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass ein Miteinander von Menschen unterschiedlicher Völker in einem Gemeinwesen möglich ist und dem Wohl aller dienen kann. Das weckt die Hoffnung, dass auch heute ein gedeihliches Miteinander von Menschen verschiedener Ethnien, Religionen und Kulturen gelingen kann – und das nicht nur im Irak.

 

Professor Markus Hilgert, der Direktor des Vorderasiatischen Museums in Berlin, hat vor einiger Zeit in einem Interview darauf hingewiesen, dass schon altorientalische Metropolen wie Babylon sehr erfolgreich mit Herausforderungen wie der sozialen Integration ethnischer Minderheiten umgegangen sind: „In unserem eigenen Interesse sollten wir herausfinden, was sie so beispiellos erfolgreich gemacht hat.“

 

Zum Weiterlesen:

 

Frank Kürschner-Pelkmann: Babylon – Mythos und Wirklichkeit, Steinmann Verlag, Rosengarten bei Hamburg 2015, 240 Seiten, 24,80 €

 

© Frank Kürschner-Pelkmann