Max Liebermann - Jesus als jüdischen Jungen darstellen, ein "Skandal"

 

„Ein schielender Judenknabe im schmutzigen Kittel mit rothem Haar und mit Sommersprossen verhandelt, ja handelt mit übelriechenden, gemeinen Scherjuden in schmutzigen Säcken und Gebetsmänteln …“ Diese Beschreibung eines heute berühmten Liebermann-Gemäldes verfasste Heinrich Merz für die erste Ausgabe des Jahrgangs 1880 der Zeitschrift „Christliches Kunstblatt“.[1] Merz stand mit seiner heftigen Kritik nicht allein: Jesus als „naseweiser Juden-Junge“, barfüßig und mit schwarzen Locken – das sollte der Heiland sein? Inzwischen hängt das Gemälde in der Hamburger Kunsthalle. Dass es einen „Skandal“ ausgelöst hat, ist heute kaum noch zu verstehen, aber nicht nur die Zeiten sind andere, sondern auch das Gemälde wurde verändert.

 

Die Aufregung war groß, als 1879 in der Internationalen Kunstausstellung in München das Werk „Der zwölfjährige Jesus im Tem­pel“ von Max Liebermann erstmals ausgestellt wurde. Empört nahmen viele Kunstkritiker der Kaiserzeit wahr, dass hier der Jesusknabe tatsächlich als der dar­ge­stellt wurde, der er war: ein jüdischer Junge. Jesus trug auf dem Gemälde ein kurzes Alltagsgewand und seine Haare waren – wie im orthodoxen Judentum üblich – am Haupt gekürzt und an den Schläfen ungeschnitten. Seine Schläfenlocken machten ihn zweifelsfrei als gläubigen Juden kenntlich. Um den Jesusknaben waren mehrere Schriftgelehrte gruppiert, die ihm zuhörten. Diese Schriftgelehrten waren so gekleidet, als hätte das Gespräch in einer osteuropäischen Synagoge stattgefunden. Im Hintergrund waren die herbeieilenden Jesuseltern zu erkennen.

 

Max Liebermann hat mit Unterbrechungen mehr als drei Jahre lang an dem Gemälde gearbeitet. 18 Ölstudien, Skizzen und Kompositionszeichnungen sind erhalten geblie­ben. Die Modelle für die Figuren des Gemäldes fand der Maler überwiegend in Mün­chener Spitälern, unter Nichtjuden, ein Kind in Italien wurde zum Modell für den Jesusknaben. Anregungen für den Innenraum fand Liebermann in Synagogen in Amsterdam und Venedig. Der Maler ließ sich durch verschiedene ältere Gemälde zur Thematik des zwölfjährigen Jesus im Tempel inspirieren, unter anderem von einer Rembrandt-Radierung aus der Mitte des 17. Jahrhun­derts. Auch Rembrandt stellte den zwölfjährigen Jesus in seiner kindlichen Natürlichkeit dar, dem die Schrift­gelehrten nachdenklich zuhörten. Bei Rembrandt waren Jesus und die anderen dargestellten Personen orientalisch gekleidet, und mit dem zerstörten Tem­pel im Hintergrund wurde angedeutet, dass der Alte Bund Gottes mit seinem Volk beendet war.[2] Dieser Darstellung fehlte also der viele Christen provo­zie­rende Charakter des Liebermann-Gemäldes – und nicht zu vergessen: Rembrandt war im Gegensatz zu Liebermann ein Christ, der sich eines christlichen Themas an­nahm.

 

Max Liebermann war im ersten Jahrzehnt des 1871 proklamierten Deutschen Reiches eine Ausnahmeerscheinung, aus der Sicht seiner patriotisch-natio­na­lis­tischen Landsleute allerdings keine positive. Während andere Künstler mit hero­ischen Reiterstandbildern oder großformatigen Schlachtengemälden viel Aner­ken­nung fanden, wurde Liebermann geringschätzig als „Armeleutemaler“ tituliert, weil er Alltagsszenen darstellte. Seine Vorstellung von der „Poesie des einfachen Le­bens“ widersprach den vorherrschenden Kunstvorstellungen im wilhel­mi­ni­schen Reich. Nach der ersten öffentlichen Präsentation des Jesusgemäldes wurden die Attacken heftiger, erläuterte Martin Faass, der Leiter der Liebermann-Villa in Ber­lin, 2009 anlässlich einer Ausstellung über das Gemälde: „Jetzt bedeutete Liebermanns Malerei seinen Kritikern nicht nur die Herabwürdigung der Kunst, sondern gar eine Herabwürdigung des Heiligen. Dass Liebermann Jude war, machte alles nur noch schlimmer.“[3] Dabei war das Bild nach Auffassung von Faass die kühn­ste „historisch-kritische“ Jesusdarstellung der Kunstgeschichte.[4]

 

Das Interesse an Jesus im Reformjudentum

 

Liebermanns Jesusbild entstand in einer Zeit, als jüdische Historiker in Deutschland ein stärkeres Interesse an der Gestalt Jesus entwickelten. Dem entsprach ein Interesse vieler christlicher Theologen am historischen Jesus. Die jüdischen Gelehrten stellten Jesus aber sehr viel deutlicher als die christlichen Theologen in den Kontext des pharisäischen Judentums seiner Zeit.

 

Ezra Mendelsohn, emeritierter Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem, hat diese Entwicklung im Judentum des 19. Jahrhunderts in einem Ausstellungskatalog zu Liebermanns Je­sus­darstellung beschrieben: „Die Neubewertung des Jesus von Nazareth innerhalb des Judentums ... muss im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Reformjudentums gesehen werden … Einer der wichtigsten Aspekte des Reform­juden­tums, wie es sich insbesondere in Deutschland und in den Vereinigten Staa­ten heraus­bildete, war der Wunsch, das Judentum zu universalisieren – es weniger eng­stirnig, weniger rechtgläubig, weniger Halacha-hörig (Halacha – das jüdische Ge­setz) und damit in seiner Theologie und Ideologie weltoffener zu machen. Dieser neue Akzent rückte zwangsläufig die hebräischen Propheten in den Vordergrund, deren Forderung nach dem Ende gesellschaftlicher Unterdrückung von universaler Bedeutung war, und die zu sagen schienen, dass der Gott Israels der Gott aller Men­schen sei – so Jesajas viel zitiertes und von progressiven Juden innig geliebtem Diktum ‚Mein Haus wird heißen ein Bethaus allen Völkern’ (Jes 56,7).“[5]

 

Das Reformjudentum wollte das Verhältnis zwischen der Identitätswahrung als auserwähltes Volk der Juden und dem universalen Verständnis der göttlichen Botschaft neu bestimmen. Dabei stellte die Beschäftigung mit dem Juden Jesus, der von den Christen als Heiland für die ganze Welt verstanden wurde, ein wichtiges Thema dar. Zugleich entwickelte das Reformjudentum ein wissenschaftliches Interesse an der eigenen Religion und ihren Wurzeln, und auch hier kam man an Jesus nicht vorbei. Er wurde in die pharisäische Tradition seiner Zeit eingeordnet, eine Provokation für die vorherrschende christliche Theologie, die Jesu Leben und Botschaft als Überwindung des Judentums verstand, was angeblich die „verstockten“ Anhänger des jüdischen Glaubens bis in die Gegenwart nicht eingesehen hätten. Der „historische Jesus“ war für Verfechter des wissenschaftlich fundierten Reformju­den­tums ein Jesus, der nicht nur dem Judentum entstammte, sondern fest in ihm verwurzelt blieb.

 

Wir ahnen, die Darstellung des Jesusknaben als jüdisches Kind war in dieser Diskussionslage ein Anlass zum Zorn jener Christen und vor allem Theologen, die Jesus vollständig für das Christentum reklamierten. Max Liebermann mögen die Details dieser theologischen Auseinandersetzung nicht bekannt ge­­wesen sein, dennoch lässt sich mit Ezra Mendelsohn sagen: „Aber es ist schwie­rig, sein Gemälde zu betrachten, ohne sich diesen Kontext zu vergegenwärtigen.“[6]

 

Parallel zum jüdischen Interesse an Jesus wuchs unter nationalistisch orientierten Christen in Deutschland die Tendenz, die jüdische Identität Jesu zu ignorieren und schließlich aus Jesus einen „Arier“ zu machen.[7] Dabei machte man sich den Begriff von den „Heiden Galiläas“ zu eigen und aus dem Jesuskind ein Arierkind.[8] So sehr dieser Argumentation auch jede historische Grundlage fehlte, so fatale Folgen hatte sie später in der Herrschaftszeit der Nationalsozialisten. Max Liebermann hatte offenbar diese Bewegung innerhalb des Christentums unterschätzt und zu sehr auf die Liberalität des Bürgertums vertraut.[9]

 

Ein Ausstellungsskandal

 

Dass Liebermann die Szene vom zwölfjährigen Jesus in seine Zeit versetzte, war seit Jahrhunderten ein üblicher und anerkannter künstlerischer Umgang mit biblischen Motiven. Aber dass Jesus hier nicht als blondlockiger holder Knabe in einer gutbürgerlichen Umgebung dargestellt wurde, sondern als jüdisches Kind aus einfachen Verhältnissen in einer jüdischen Umgebung, das löste den „Jesus-Skandal“ aus. In der Münchner Ausstellung nahm die Welle negativer Reaktionen mit dem Prinzregenten ihren An­fang, der sich bei einem ersten Rundgang durch die Ausstellung abfällig über das Werk äußerte. Es folgten Verrisse in der Presse, in denen sich der wachsende Antise­mitismus im Kaiserreich widerspiegelte.

 

Der damals bekannte Kunstkritiker Friedrich Pecht schrieb in der „Allgemeinen Zeitung“: „Das Bild beleidigt nicht nur unser Gefühl, sondern selbst unsere Nase, indem es ihr alle möglichen widrigen Erinnerungen hervorruft.“[10] Wie „Volkes Stimme“ sich zu diesem Werk äußerte, zeigte schlaglichtartig ein Leserbrief im „Bayerischen Landboten“: „Sie dürfen nicht vergessen, dass der Maler ein Jude ist und die Juden durch die karikaturhafte Darstellung das zu ersetzen suchen, was ihnen an Sinn für Farben und wirkliche Schön­heit mangelt.“[11] In der schon zitierten katholischen Zeitschrift „Christliches Kunstblatt“ wurde angeprangert, „dass ein Jude gewagt hat, seinen christlichen Mit­bürgern solche Verhöhnung ihres Heilands öffentlich ins Gesicht zu schleudern“.[12]

 

Auch in einer Debatte im Bayerischen Landtag über das Liebermann-Gemälde war von einem blasphemischen Bild die Rede, von dem jeder gläubige Christ sich aufs Tiefste beleidigt fühlen müsste. Balthasar Daller, ein Abgeordneter der katholisch-geprägten Bayerischen Patriotenpartei, griff die Künstler an, die in eigener Verantwortung das Gemälde in die Ausstellung aufgenommen hatten: „Es wäre Sache der ganzen Künstlerschaft gewesen, dieses Ärgernis zu entfernen.“ Und er drohte mit dem Entzug von Geldern für zukünftige Ausstellungen, als er verkündete, „dass diese Art und Weise, ein so blasphemisches Bild auszustellen, eigent­liche Freunde an und für sich nicht gewinnen kann, für weitere Ausstellungen Geld zu bewilligen“.[13]

 

Schnell machte in Deutschland der Vorwurf „Gotteslästerung“ die Runde.[14] Max Liebermann sah sich angesichts der Zornausbrüche gegen ihn als „Herrgottschänder“ zur eiligen Abreise aus München veranlasst. In einem Brief schrieb er später über diese Begebenheit: „… da mir Lenbach rieth, der Wuth des Pöbels mich durch die Flucht zu entziehen, wie ich wieder Dachau, wohin ich ging, für die Malerei ‚entdeckte’.“[15] Beklemmend der Gedanke, dass Liebermann angesichts des Antise­mitismus seiner Zeit gerade an den Ort flüchtete, wo die Nationalsozialisten, die Erben des Antisemitismus des Kaiserreiches, später ein großes Konzentrationslager errich­teten.

 

Wie tief der Antisemitismus in den Kirchen verwurzelt war, zeigte sich, als am 19. September 1879 der Hofprediger Adolf Stoecker als Reichstagskandidat für den Wahlkreis Minden eine Rede zum Thema „Notwehr gegen das moderne Judentum“ hielt, in der er Bezug nahm auf den einzigen bekannt gewordenen jüdischen Zeitungsbeitrag zur Verteidigung Liebermanns. Er sah in diesem Beitrag, in dem ein fiktiver Prozess gegen Liebermann dargestellt wurde, ein Beispiel des Hasses der „Judenpresse“ gegen alles Christliche. Diese und zwei weitere judenfeindliche Reden des Hofpredigers fanden große Verbreitung, und es ist überliefert, dass Cosima Wagner ihrem Mann Richard Wagner eine „sehr gute Rede“ von Adolf Stoecker vorgelesen hat.[16]

 

Ein Trost blieb dem Maler: Der Prinzregent Luipold, der die ganze Ausein­an­dersetzung um das Gemälde angestoßen hatte, interessierte sich dann doch für Max Liebermann und besuchte ihn in seiner Wohnung. Der Prinzregent zeigte sich offen für ein Gespräch über den Stil, in dem der Künstler arbeitete. Max Liebermann schrieb später: „Der Prinz Luitpold kam dann öfter, und wir wurden gute Freunde.“[17] Und noch jemand kam vorbei, der von Liebermann hoch geschätzte Maler Wilhelm Leibl. Der hünenhafte Künstler stand in den Tagen des „Skandals“ plötzlich vor der Tür Liebermanns und erklärte: „Ich bin der Leibl. Ich habe gehört, dass Sie wegen Ihres Bildes so angegriffen werden. Es ist ein Meisterwerk, und wer Ihnen ein Haar krümmt, ich schlag ihn tot den Hund.“[18] Das war glücklicherweise nicht nötig. Auch wurde das Jesusgemälde in den folgenden Jahren mit großem Erfolg in Den Haag und Paris gezeigt.

 

Doch noch ein Happy End? Wohl nicht. Denn Max Liebermann war von der unflätigen Kritik und der Diffamierung als hässlicher Jude so betroffen, dass er drei Jahrzehnte lang kein Gemälde zu einem religiösen Thema mehr malte. Es mag ihn auch enttäuscht haben, wie wenig Unterstützung er in diesem Konflikt durch die etablierten Juden in Großstädten wie Berlin erhielt. Es ist möglich, dass diese sich mit den auf dem Gemälde dargestellten traditionell gekleideten Juden in einer osteuropäischen Syna­goge nicht identifizierten und als moderne, emanzipierte Juden auch nicht mit ihnen iden­tifiziert werden wollten.[19] Max Liebermann selbst wurde erst durch dieses Gemälde als „jüdischer Künstler“ eingeordnet und dies gerade, weil er sich eines christlichen Themas angenommen hatte. Er selbst hat sich als deutscher Künstler verstanden,[20] der 1931 angesichts des erstarkenden Antisemitismus erklärte, er habe sich sein „ganzes Leben als Deutscher gefühlt“.[21] Der Maler hat einmal no­tiert: „Mit Professor Einstein habe ich oft über die Judenfrage gesprochen. Mein ganzes Leben habe ich immer nur zuerst gefragt: Was bist du für ein Mensch? Niemals aber: Bist du Jude, Christ oder Heide? Ich bin als Jude geboren und werde als Jude sterben.“[22]

 

Der Maler „der alten Dorfweiber“

 

Geboren wurde Max Liebermann am 20. Juli 1847. Über seine Kindheit schrieb der Sohn einer Fabrikantenfamilie in Berlin später: „Mein Vater, Louis Lie­bermann, erzog mich, treu dem Glauben der Väter, in der jüdischen Religion.“[23] Der Vater war wirtschaftlich sehr erfolgreich und hoffte, sein Sohn werde in seine Fußstapfen treten. Demgegenüber zeigte der Vater keinerlei Interesse am künstlerischen Talent des Sohnes. Als eine Zeitschrift zwei Zeichnungen des Zwölfjäh­rigen veröffentlichen wollte, musste dies unter einem falschen Namen geschehen, weil der Vater um den Ruf der Familie fürchtete. Auf Druck des Vaters musste der nur noch an der Kunst interessierte Sohn nach dem Realabschluss das Gymnasium besuchen und das Abitur machen. Danach begann er – wiederum auf väterlichen Druck – ein Philosophiestudium an der Berliner Universität, ohne allerdings jemals auch nur eine einzige Vorlesung zu besuchen. Er wurde wegen „Studienunfleiß“ von der Universität verwiesen. Schließlich musste der Vater resig­niert hinnehmen, dass sein Sohn Künst­ler wurde. Von 1868 an studierte Max Lie­bermann an der angesehenen Großherzoglichen Kunstschule in Weimar.

 

1872 konnte der junge Künstler sein erstes Bild verkaufen, „Die Gänserupferinnen“. Die Berliner Kunstkritik lobte sein Talent, kritisierte aber heftig, dass der Maler „alte Dorfweiber“ in all ihrer Hässlichkeit dargestellt hatte.[24] In Berlin haftete Liebermann bald der Ruf eines „Apostels der Hässlichkeit“ an.[25] Auch auf Reisen nach Paris und in den Niederlanden malte Liebermann immer wieder einfache Leute, die er realistisch darstellte. 1878 zog der Künstler in die damalige deutsche Kunstmetropole München, wo er fast sechs Jahre blieb. 1879 wurde hier das Gemälde „Der Zwölfjähriger Jesus im Tempel“ fertiggestellt, das die Auseinandersetzun­gen auslöste, ihn aber auch in Künstlerkreisen bekannt machte.

 

Die zweite Fassung des Jesusgemäldes

 

1884 entschloss sich Max Liebermann, das Jesusgemälde zu übermalen. In der heutigen Fassung, die in der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist, trägt das Jesuskind nun Sandalen, ein sauberes und wohlgeordnetes langes weißes Gewand und hat lange blonde Haare ohne Schläfenlocken. Die Kunstgeschichtlerin Anna Sophie Howoldt schreibt über diese übermalte Fassung des Gemäldes: „In der überarbeiteten Fassung passt sich Liebermann dem Darstellungskonsens der biblischen Figur seiner Zeit an und tilgt jeden Hinweis auf die jüdische Tradition.“[26] Vom ursprünglichen Bild sind nur noch Schwarz-Weiß-Darstellungen erhalten geblieben.

 

Ebenfalls 1884 zog Max Liebermann zurück in seine Heimatstadt Berlin, wo er im gleichen Jahr Martha Marckwald heiratete. Trotz fortdauernder Angriffe auf seine Kunstwerke stieg Max Liebermann in Berlin zum erfolgreichen und hoch angesehenen Künstler auf. Es blieb allerdings kein ungeteiltes Ansehen. Kaiser Wilhelm II. nannte ihn einen „Anarchisten“. Der Kaiser hatte verkündet: „Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr …“[27] Max Liebermann wollte keine staatstragende und vom Kaiser anerkannte Kunst schaf­fen und nannte den Monarchen „Wilhelm den Letzten“.[28] Der Maler behielt Recht, wissen wir heute. 1890 erhielt Max Liebermann den ehrenvollen Auftrag, den ehemaligen Hamburger Bürgermeister Carl Friedrich Petersen zu porträtieren. Das Porträt geriet allerdings so realistisch, dass der greise Petersen derart empört war, dass das Gemälde erst Jahre nach seinem Tode öffentlich gezeigt werden durfte. Auch dieses Gemälde hat Max Liebermann später überarbeitet, aber das besänftigte die Kritiker in diesem Falle nicht.[29]

 

1894 starb der Vater von Max Liebermann, und der Künstler lebte von nun an als Millionenerbe in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen. Ein Jahr später brach­­te eine große Liebermann-Ausstellung in Berlin seinen endgültigen künstlerischen Durchbruch. Der Maler erhielt den Professorentitel und wurde in die Aka­demie der Preußischen Wissenschaften aufgenommen. 1898 wurde Max Lie­ber­mann zum Präsidenten der neu gegründeten Künstlervereinigung „Die Seces­sion“ gewählt, die entstand, nachdem Kaiser Wilhelm II. und seine Günstlinge immer offener die Auswahl von Werken für Kunstausstellungen beeinflusst hatten. „Die Secession“ wurde zur erfolgreichsten Künstlervereinigung des Kaiserreiches. Die beteiligten Künstlerinnen und Künstler waren trotz aller Verschiedenheit durch die Ablehnung der rigiden preußischen Kulturpolitik vereint.[30]

 

1907 stellte Max Liebermann in einer großen Ausstellung anlässlich seines 60. Geburtstags erstmals die überarbeitete Fassung des Gemäldes vom zwölfjährigen Jesus im Tempel aus, dieses Mal ohne Skandal. Dazu werden sowohl die Bearbeitung selbst als auch die inzwischen erlangte Reputation des Künstlers beigetragen haben.

 

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeigte sich Max Liebermann patri­o­tisch und unterschrieb eine Erklärung deutscher Künstler, in der sie ihr Einverständ­nis mit den Kriegszielen des Kaisers bekundeten. Der Krieg ging verloren, und in den gewaltsamen Aus­einandersetzungen nach der Niederlage gehörte die Lie­ber­mannsche Villa nahe dem Brandenburger Tor zu den umkämpften Gebäuden. Glücklicherweise hatte der Künstler vorher seine Kunstwerke in Sicherheit gebracht und war selbst bei Verwandten untergekommen.

 

In der neuen Republik konnte Max Liebermann an seine Vorkriegserfolge anknüpfen und wurde 1920 zum Präsidenten (und später Ehrenpräsidenten) der Preußischen Akademie der Künste gewählt. Der Liebermann-Biograf Bernd Küster schreibt über diese Tätigkeit: „Liebermanns umsichtige Akademieleitung und die Er­folge seiner Arbeit in seinem achten Lebensjahrzehnt sind kaum genug zu würdigen, stellt man ihn als große integrative Persönlichkeit vor den Hintergrund der zerrissenen Zeit, in die hinein er mit Wahrheitsliebe und Gerechtigkeitssinn zu wir­ken versuchte.“[31] Zu seinem 80. Geburtstag verlieh ihm die Stadt Berlin die Ehren­bür­gerwürde.

 

Zu alt, um auszuwandern

 

Der Antisemitismus, der sich schlaglichtartig in dem Streit um Max Liebermanns Jesusgemälde gezeigt hatte, verschärfte sich, und dem angesehenen Künstler wurde in einem anonymen Brief angedroht, ihn aufzuknüpfen. Den Macht­antritt der Nazis am 30. Januar 1933 kommentierte Max Liebermann: „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.“[32] Am 11. Mai 1933, einen Tag nach der öffentlichen Bücherverbrennung in Berlin und anderen deutschen Städ­ten, gab Max Liebermann der Presse bekannt, er trete als Ehrenpräsident der Preußischen Akademie der Künste zurück, ebenso als Mitglied der Aka­demie. Vorher waren viele jüdische und „entartete“ Künstlerinnen und Künstler gezwungen worden, die Akademie zu verlassen. Der zurückgetretene Ehrenpräsident trat danach nicht mehr öffentlich auf, sondern lebte vereinsamt in seiner Villa am Wannsee.

 

Max Liebermann, der wenige Jahre vorher Paul von Hindenburg porträtiert hatte, schrieb im Februar 1934 an einen Freund: „Aus dem schönen Traum von der Assimilation sind wir leider, leider! nur zu jäh aufgeweckt. Für die jüdische Jugend sehe ich kaum eine andere Rettung als die Auswanderung nach Palästina, wo sie als freie Menschen aufwachsen kann und den Gefahren des Emigrantentums entgeht. Leider bin ich, der ich im 87sten stehe, zu alt um auszuwandern.“[33] Bereits in einem Brief im Jahre 1929 hatte er geschrieben: „Ich bin alt geworden, und mich beschäftigt bei meiner Kunst immer nur eines: das Göttliche.“[34]

 

Max Liebermann malte in dieser Zeit nur noch ganz wenige Bilder und starb am 8. Februar 1935. Einige wenige Freundinnen und Freunde nahmen trotz der allgegenwärtigen Gestapo an der Trauerfeier teil. Auf Geheiß des Regimes würdigten weder die Akademie ihren früheren Ehrenpräsidenten noch die Stadt Berlin ihren Ehrenbürger noch die Öffentlichkeit den wohl bedeutendsten zeitgenössischen Ma­ler. Seine Witwe Martha Liebermann musste die Berliner Stadtvilla und die Villa am Wannsee verlassen. Die Gemäldesammlung wurde beschlagnahmt. Wie viele Jüdinnen und Juden wartete Martha Liebermann zu lange mit der Flucht, und als die Gestapo ankündigte, sie werde am nächsten Tag abgeholt werden, nahm sie Gift und starb am 10. März 1943 im Jüdischen Krankenhaus.

 

In Hamburg, wo Max Liebermann ein hohes Ansehen genoss, waren seine Werke nach dem Machtantritt der Nazis zunächst noch in der Kunsthalle zu sehen. Allerdings versuchte die Leitung des Museums, die Werke des Künstlers zu verkaufen, darunter auch das Bild „Der zwölfjährige Jesus im Tempel“. Aber das Gemälde erwies sich zunächst als unverkäuflich. Werke von jüdischen Künstlern waren im deutschen Kunsthandel nicht gefragt. Erst im März 1941 konnte die Hamburger Kunsthalle ein Tauschgeschäft mit einem Kunsthändler machen und erhielt für vier Liebermannwerke und ein Gemälde von Otto Kokoschka einige andere Gemälde. Nach dem Krieg bedurfte es jahrelanger Verhandlungen, um die Liebermann-Wer­ke zurückzuerhalten und erneut in die Dauerausstellungen der Kunsthalle aufzunehmen.[35] Dort ist nun auch wieder das Jesusgemälde zu sehen – ohne Skandal und ohne die ursprüngliche Botschaft.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

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[1] Zitiert nach: Anna Sophie Howoldt: Komposition und Bedeutung der Bekleidung im Gemälde Der zwölfjährige Jesus von Max Liebermann, in: Ausstellungskatalog „Der Jesus-Skandal“, Berlin 2009, S. 25

[2] Vgl. Petra Wandrey: Der zwölfjährige Jesus im Tempel, in: Ausstellungskatalog „Der Jesus-Skandal“, a.a.O., S. 136

[3] Zitiert nach: „Der König der Juden durfte nicht jüdisch sein“, Der Tagesspiegel, 13.12.2009

[4] Vgl. ebenda

[5] Ezra Mendelsohn: Max Liebermanns zwölfjähriger Jesus im Tempel, in: Ausstellungskatalog „Der Jesus-Skandal“, a.a.O., S. 112

[6] Ebenda, S. 115

[7] Vgl.: Inka Bertz: Anatomie eines Kunstskandals, in: Ausstellungskatalog „Der Jesus-Skandal“, a.a.O., S. 96f.

[8] Vgl. Ezra Mendelsohn: Max Liebermanns Zwölfjähriger Jesus im Tempel, a.a.O., S. 109

[9] Vgl. Inka Bertz: Anatomie eines Kunstskandals, a.a.O., S. 98

[10] Zitiert nach: Martin Faass und Henrike Mund: Sturm der Entrüstung, in: Ausstellungskatalog „Der Jesus-Skandal“, a.a.O., S. 67

[11] Zitiert nach: ebenda, S. 68

[12] Zitiert nach: ebenda

[13] Zitiert nach: Inka Bertz: Anatomie eines Kunstskandals, a.a.O., S. 94

[14] Aussage von Martin Faass, dem Kurator einer Ausstellung zu dem Jesus-Gemälde, vgl. „Liebermann-Villa präsentiert übermalten Jesus“, Berliner Morgenpost, 21.11.2009

[15] Zitiert nach: Ausstellungskatalog „Der Jesus-Skandal“, a.a.O., S. 146

[16] Vgl. Ida Bertz: Anatomie eines Kunstskandals, a.a.O., S. 92f.

[17] Zitiert nach: Martin Faass und Hendrike Mund: Sturm der Entrüstung, S. 71

[18] Zitiert nach: Bernd Küster: Max Liebermann, Ein Malerleben, Hamburg 1988, S. 51

[19] Vgl. hierzu: Chana Schütz: Max Liebermann vor Gericht, in: Ausstellungskatalog „Der Jesus-Skandal“, a.a.O., S. 79ff.

[20] Vgl. hierzu: Ezra Mendelsohn: Max Liebermanns zwölfjähriger Jesus im Tempel, a.a.O., S. 121f.

[21] Zitiert nach dem Beitrag „Max Liebermann“ auf der Website www.haGalil.com

[22] Zitiert nach: Bernd Küster: Max Liebermann, a.a.O., S. 208

[23] Zitiert nach: ebenda, S. 12

[24] Vgl. ebenda, S. 31f.

[25] Vgl. ebenda, S. 70

[26] Anna Sophie Howoldt: Komposition und Bedeutung …, a.a.O., S. 27

[27] Zitiert nach: David Richardt: Max Liebermann: Wegbereiter der Moderne, Vernissage Hamburg, 8/2011, S. 24

[28] Vgl. Bernd Küster: Max Liebermann, a.a.O., S. 9

[29] Vgl. ebenda, S. 97

[30] Vgl. ebenda, S. 121ff.

[31] Vgl. ebenda, S. 197

[32] Zitiert nach: Bernd Küster: Max Liebermann, a.a.O., S. 216

[33] Zitiert nach: ebenda, S. 213

[34] Zitiert nach: ebenda, S. 214

[35] Vgl. zur Geschichte des Kunstwerks in der Zeit des Nationalsozialismus: Ute Haug: „Es ist ein mächtiges Werk“, in: Ausstellungskatalog „Der Jesus-Skandal“, a.a.O., S. 31ff