Gemälde des Evangelisten Matthäus
Gemälde des Evangelisten Matthäus in der Karmeliterkirche in Wien Foto: iStock.com/sedmak

Matthäusevangelium – eine ökumenische Brücke vom Volk Gottes und den Völkern

 

Diese Überschrift wird manche Christinnen und Christen überraschen. Finden sich in diesem Evangelium doch heftige Angriffe auf „die Juden“? In den letzten Jahrzehnten ist in der hiesigen Theologie und der weltweiten Ökumene aber die Einsicht gewachsen, dass der Jesus, den wir bei Matthäus kennenlernen, fest im Judentum verwurzelt war. Der berühmte Theologe Hans Küng hat über Jesus geschrieben: „Jesus war Jude … er wirkte unter Juden und für Juden. Seine Mutter Maria, sein Vater Josef, seine Familie, seine Gefolgschaft waren Juden. Sein Name war jüdisch … Seine Bibel, sein Gottesdienst, seine Gebete waren jüdisch. Er konnte in jener gegebenen Situation an keine Verkündigung unter den Heiden denken. Seine Botschaft galt dem jüdischen Volk, diesem allerdings in seiner Gesamtheit, ohne irgendeinen Ausschluss.“ [1]

 

Man sage nun nicht, dass Jesus ein Jude war, sei doch bekannt und selbstverständlich. Im Beitrag über Max Liebermann auf dieser Website wird ausführlich auf den „Skandal“ um sein Gemälde mit dem zwölfjährigen Jesus eingegangen, auf dem dieser deutlich erkennbar als jüdisches Kind dargestellt wird, eine „Gotteslästerung“, wie die wutschäumenden Gegner dieses Bildes behaupteten. Selbst im Bayerischen Landtag wurde über dieses Bild debattiert und der Maler heftig angegriffen. Das war 1880, und ein halbes Jahrhundert später wurde das Judesein Jesu noch heftiger bestritten.

 

Gerade deshalb ist es wichtig, einen neuen Blick auf das Matthäusevangelium zu werfen und die sozialgeschichtlichen Hintergründe des Lebens Jesu und der Entstehung von Gemeinschaften zu verstehen, die sich an seinen Lehren und seinen Verheißungen orientierten. Ebenso gilt es, die Bibelverse, in denen es um das Verhältnis zu der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung geht, die sich Jesus nicht anschloss, näher zu betrachten. Mit dem jüdischen Gelehrten Pinchas Lapide können wir aber schon hier über die Jesusbewegung feststellen: „Das Christentum entstand aus einer messianischen Gruppierung inmitten des Judentums, das ihm all seine ersten Grundlagen und anfänglichen Impulse verlieh.“[2]

 

Was wissen wir über Matthäus?

 

Wer der Verfasser des Matthäusevangeliums war, wissen wir nicht. Erst später wurde ihm der Name Matthäus zugeschrieben. Anlass für diese Namensgebung war für die alte Kirche vermutlich, dass der Verfasser des Evangeliums bei der Übernahme einer Zöllnergeschichte aus dem Markusevangelium den Namen des Zöllners von Levi in

Matthäus änderte (vgl. Matthäus 9,9).

 

Dass der Verfasser seinen eigenen Namen auf diese Weise ins Evangelium „geschmuggelt“ haben könnte, gilt aber heute als unwahrscheinlich. Der Evangelist hat eine ganze Reihe von Personen mit Namen versehen, die im älteren Markusevangelium noch ohne Namen waren. Er hätte daher leicht einem „Unbe­kannten“ seinen eigenen Namen geben können, statt eine im Markusevangelium namentlich erwähnte Person umzubenennen. Bei der Benennung des Evan­ge­li­ums nach Matthäus könnte auch eine Rolle gespielt haben, dass man im frühen Christentum den Verfasser mit dem Jesusjünger Matthäus identifizierte. [3]

Es wird angenommen, dass das Matthäusevangelium in Syrien entstanden ist. Dafür spricht zum Beispiel, dass von „jenseits des Jordans“ (Matthäus 19,1) die Rede ist, wenn das Gebiet westlich des Jordan gemeint ist. Bei dem Verfasser des Evangeliums handelte es sich wahrscheinlich um einen gebildeten Judenchristen, denn er kannte das Judentum und die Hebräische Bibel sehr gut, und auch das „Sondergut“ in seinem Evangelium, also die Passagen, die nur in seinem Evangelium zu finden sind, deuten auf einen judenchristlichen Hintergrund hin.[4] Wir können Matthäus mit Professor Thomas Söding (Bochum) als „christlichen Schriftgelehrten“ bezeichnen.

Matthäus orientierte sich sowohl beim Aufbau seines Evangeliums als auch in vielen Textabschnitten stark am Markusevangelium, das früher entstanden und ihm be­kannt war. Bei Matthäus fehlt nur der In­halt von etwa 60 Versen des Mar­kus­evan­geliums gänzlich. Matthäus nahm vor allem dort Änderungen vor und fügte Abschnitte hinzu, wo dies für die Gemeindegruppen sinnvoll erschien, die er mit seinem Evangelium erreichen wollte. Dazu gehört auch die Aufnahme von Abschnitten über die Herkunft, die Geburt und die Kindheit Jesu. Die Botschaft Jesu fasste Matthäus in fünf großen Reden zusammen (Bergpredigt, Aussendung der Jünger, Gleich­nisrede, Gemeinderede und Endzeitrede). In den fünf großen Reden stellt Matthäus in konzentrierter Form die Lehre Jesu zusammen, so wie er sie verstanden hat. Der Bergpredigt wird in diesem Ökumenischen Handbuch ein eigener Beitrag gewidmet werden.

 

Geografisches Zentrum des Lebens und Wirkens Jesu ist ähnlich wie bei Lukas das kleine Galiläa. Es ist in der Darstellung von Matthäus allerdings nicht die ursprüngliche Heimat von Jesu Familie, sondern Maria und Josef wohnen in Bethlehem, bevor sie nach Ägypten fliehen und sich nach der Rückkehr in Nazareth niederlassen. Der Weg des Wanderpredigers nach Judäa und in das religiöse Zentrum Jerusalem endet mit seiner Ermordung.

 

Da es Hinweise darauf gibt, dass der Tempel und die Stadt Jerusalem beim Verfassen des Evangeliums bereits zerstört waren, wird davon ausgegangen, dass es in der Zeit zwischen 80 und 90 n. Chr. entstanden ist. Die bereits begonnene Ausgrenzung der Jesusanhänger durch die jüdischen Gemeinden und die beginnende Verfolgung durch die Mächtigen des Römischen Reiches nimmt Matthäus auch dadurch auf, dass er in seiner Kindheitsdarstellung Jesu einflicht, dass das Jesuskind gleich nach der Geburt verfolgt wurde und mit seinen Eltern nach Ägypten fliehen musste.

 

Die Geburtsgeschichte als Ouvertüre des Evangeliums

 

Der im Dezember 2011 verstorbene katholische indische Theologe George Keerankeri, der als Professor für Neues Testament am „Vidyajyoti College of Theology“ in Delhi unterrichtete, hat sich mit der Stellung der Geschichten von der Geburt Jesu im Rahmen des Matthäusevangeliums beschäftigt. Er kommt zum Ergebnis, dass die Geburtsgeschichten bei Matthäus wie auch bei Lukas „dadurch charakterisiert wer­den können, dass sie proleptische (in die Vergangenheit zurückreichende, d.Verf.) oder vorangestellte Zusammenfassungen der umfassenderen Evangelien sind, zu denen sie gehören. Viele der theologischen Themen, die das ganze Evangelium beherrschen, und ebenso Hinweise auf Episoden, die in späteren Geschichten entfaltet werden, finden sich bereits in diesen Geburtsgeschichten.“ [5]

 

Die Geburtsgeschichten bei Matthäus und Lukas sind für George Keerankeri „keine in sich selbst abgeschlossene Geschichten, sondern integrale Teile der Evangelien, zu denen sie gehören, von Anfang an in sie einbezogen als kohärente Elemente, die die Theologie und Perspektive des literarischen Ganzen zum Ausdruck bringen“. [6] Matthäus sind, so der indische Theologe, die Verortung Jesu in der jüdischen Geschichte, seine Einführung als der lang erwartete Messias und seine Bestimmung als Retter der Heiden besonders wichtig und deshalb klingen diese Themen bereits in der Geburts­geschichte Jesu an. [7]

 

Fest im Judentum verwurzelt

 

Es wird angenommen, dass zum Zeitpunkt der Abfassung des Evangeliums die Trennung von jüdischen Synagogengemeinden und Christusgläubigen bereits erfolgt war oder dieser schmerzliche und konfliktreiche Prozess gerade stattfand. Zu dieser Zeit waren die Jesusnachfolgerinnen und -nachfolger in ihrer großen Mehrheit Juden und wehrten sich gegen ihre Vertreibung aus den Synagogen, die wahrscheinlich von Pharisäern bestimmt wurden.

 

Dabei müssen wir uns aber von der Annahme verabschieden, der matthäischen Gruppe von Christusanhängern (und andere Christusanhänger) hätten einem festen Verbund der übrigen Juden gegenübergestanden. Tatsächlich gab es nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem eine größere Zahl jüdischer Bewegungen, die um die Zukunft des Judentums nach der Katastrophe rangen. Da die Sadduzäer mit der Zerstörung des Heiligtums in Jerusalem an Einfluss verloren hatten, besaßen pharisäischen Bewegungen einen großen Einfluss. Die Konflikte mit ihnen spiegeln sich an vielen Stellen im Matthäusevangelium wider, so vor allem in der ausführlichen Darstellung von Streitgesprächen Jesu mit den Pharisäern.

 

Dass sich bereits Ende des 1.Jahrhunderts eine rasch wachsende Zahl von Nichtjuden der Jesusbewegung anschloss, warf eine ganze Reihe theologischer und praktischer Fragen auf, für die Matthäus überzeugende Antworten fand. Er wollte dabei Brücken bauen zwischen Judenchristen und Heidenchristen und deshalb können wir sein Werk mit dem ausgewiesenen Matthäus-Fachmann Ulrich Lutz als „ökumenisches Evangelium“ bezeichnen.

 

Matthäus blieb in seinem Evangelium ganz und gar innerhalb des Judentums, was schon dadurch deutlich wird, dass er eine große Zahl alttestamentlicher Texte zitierte oder anklingen ließ. Professor Frank Crüsemann stellt hierzu fest: „Was das Matthäusevangelium über Jesus erzählt, ist durchgängig mit Worten des Alten Testaments gestaltet. So wird Jesus im ersten Vers als Nachkomme Davids und Abrahams bezeichnet, um dann die gesamte Geschichte des Gottesvolkes in Form einer Genealogie von Abraham bis Josef zu rekapitulieren (1,1-16). Von da an findet sich im gesamten Evangelium keine Aussage von Gewicht, die nicht mit Worten der Schrift gestaltet ist oder erläutert wird.“ [8]

 

Lange Zeit herrschte in der christlichen Theologie die Überzeugung, die vielen alttestamentlichen Zitate im Matthäusevangelium würden eindrucksvoll belegen, dass und wie Jesus die Verheißungen des Alten Testaments als Messias erfüllte. Mit Frank Crüsemann sind auch viele andere Theologinnen und Theologen inzwischen zum Ergebnis gekommen, dass es ein angemesseneres Verständnis der Schrift ist, von „bestätigen“ und „bekräftigen“ und nicht von „erfüllen“ zu sprechen.

 

Gleich fünf Mal in sei­ner Geburtsgeschichte spricht Matthäus davon, dass das „erfüllt“ sei, was der Herr durch die Propheten gesagt hatte. Wir dürfen uns die Verbindung aber nicht als einfache „Verheißung – Erfüllung“ vorstellen. Dazu schreibt Erich Zenger, emeritierter Professor für Exegese des Alten/Ersten Testaments an der Universität Mün­s­ter, in einem Zeitschriftenbeitrag über die Verheißungen als Brücke zwischen Altem und Neuem Testament: „Dass der biblische Gott seine Verheißungen erfüllt, bedeutet nicht, dass die Verheißungen damit erledigt sind und ihre Kraft erschöpft haben. Im Gegenteil: ‚Erfüllung’ einer Verheißung bedeutet (bereits im alttestament­lichen Sprachgebrauch) Bekräftigung, Besiegelung, Bewahr­heitung und ist so zugleich Fundament der Hoffnung auf weitere Erfüllungen einmal ergangener Verheißungen, da Verheißungen im Vergleich zu ihren Erfüllungen meist einen ‚Sinnüberschuss’ haben.“ [9]

 

Matthäus stand vor den Aufgaben, die feste Verwurzelung der Jesusbewegung im Judentum nachzuweisen und ebenso zu vermitteln, dass Jesus der angekündigte Messias war, auch wenn er den Erwartungen vieler damaliger Juden an den kommenden Messias nicht entsprach. Zugleich galt es, die Einbeziehung von Nichtjuden in die Jesusbewegung zu rechtfertigen. Andreas Hölscher, der Chefredakteur der katholischen Zeitschrift „Bibel und Kirche“, hat im Editorial des Heftes „Matthäus neu lesen“ festgestellt: „In einer genialen Weise gelingt es Matthäus, aus der Tradition seiner heiligen Schriften heraus Heilsperspektiven für Israel und für die Völker zu verbinden.“ [10]

 

Das Thema Gerechtigkeit

 

Bei seiner Taufe durch Johannes erklärte Jesus: „Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ (Matthäus 3,15) Ganz in der Tradition des Alten Testaments machte Matthäus die Fragen der Gerechtigkeit zu einem ganz zentralen Thema seines Evangeliums.

 

Der kanadische Theologieprofessor Leif E. Vaage hat in seinem Aufsatz „‘Jesus, der Wirtschaftsfachmann‘ im Matthäusevangelium“[11] dargestellt, wie der Jesus dieses Evangeliums besonders in den fünf großen Reden alltägliche Erfahrungen des damaligen Wirtschaftslebens in seine Verkündigung einbaute. Dies gilt besonders für die Bergpredigt: „In der Bergpredigt wird die Vision einer ‚göttlichen‘ Wirtschaft vorgestellt. Sie beruht explizit auf Selbstvertrauen und Vertrauen und nicht auf der Befürchtung, dass morgen alles schlechter sein könnte und deshalb die größte Sicherheit und das grundlegende Anliegen jedes Menschen darin bestehen sollte, dass sie von allem mehr als genug haben. Angesichts dieser wohlbekannten wirtschaftlichen Logik wird die Frage gestellt: ‚Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?‘ (Matthäus 6,25) Mit dieser Frage ist nicht verbunden die biologische Notwendigkeit von Nahrung und Kleidung zu bestreiten … Infrage gestellt wird die ökonomische Argumentation, die aus dem nicht zu leugnenden Bedarf an Nahrung und Kleidung den alles andere erdrückenden Mittelpunkt der menschlichen Existenz macht.“

 

Damit verbunden sínd dann Raffgier, Ungerechtigkeit und wachsende soziale Unterschiede. Mehr zu dieser Thematik wird in dem geplanten Abschnitt zur Bergpredigt in diesem Ökumenischen Handbuch entfaltet. Hier wird auch im Detail sichtbar, wie der Gott, dessen Botschaft Jesus verkündet, für die Armen und Marginalisierten Partei ergreift.

 

Eine Gemeinschaft von Geschwistern

 

Auffällig ist im Matthäusevangelium die Kritik an Hierarchien in der religiösen Gemeinschaft: „Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder.“ (Matthäus 23,8) Das Gleiche gelte für die Ehrentitel Vater und Lehrer. „Der größte unter euch soll euer Diener sein.“ (Vers 11) Dieses Thema hatte Matthäus bereits im 18. Kapitel seines Evangeliums aufgegriffen, wo es um den Rangstreit der Jünger ging. Die Jünger fragten ihn, wer der Größte im Himmelreich sei, und überraschend rief Jesus ein Kind zu sich und sprach: „Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins himmelreichkommen.“ (Matthäus 18,3) Wer sich selbst erniedrige wie das Kind, der komme ins Himmelsreich.

 

Wie wichtig dieses Thema Matthäus war, können wir daran ermessen, dass er es im 20. Kapitel noch einmal aufgriff. Die Mutter der beiden Zebedäus-Jünger bat Jesus, dass ihre Söhne im Reich Gottes rechts und links von ihm sitzen sollten, also auf hervorgehobenen Plätzen. Jesus lehnte dies aber schroff ab und verwies darauf, dass sein Vater das entscheiden werde. Den Jüngern sagte er: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld.“ (Matthäus 20,26-28)

 

Mit drastischen Worten warnte Jesus im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums davor, die Kinder zum Bösen zu verführen. Es folgt das berühmte Gleichnis vom verlorenen Schaf (Matthäus 18,12ff.), aus dem wir lernen können, dass die Gemeinden niemanden, der sich aus ihrer Herde entfernt hatte, vorschnell aufgeben sondern ihn suchen und zurückholen sollte. Anschließend geht es um Fragen der Zurechtweisung bei Fehlern und um Vergebung. Kirchen und Gemeinden können viel aus dem 18. und 20. Kapitel von Matthäus lernen.

 

Das Heil auch für „alle Völker“

 

Die Völker der Welt werden gleich im ersten Vers des Matthäusevangeliums und damit auch des Neuen Testaments indirekt zum Thema. Denn Abraham ist nicht nur der Stammvater des jüdischen Volkes, sondern Gottes Verheißung lautete: „Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ (1. Mose, 2-3) Gottes Zusage gilt also für alle Geschlechter und Völker, ist aber untrennbar verknüpft mit Gottes Heilszusage für das Volk Israel. Denn Jesus steht für Matthäus zugleich in der Tradition Davids, des großen Königs Israels.

 

Auffällig sind die vielen Reisen Jesu in diesem Evangelium, auch Reisen über die Grenzen seiner Heimat hinaus. Sie sind für Matthäus immer wieder ein Anlass, darauf hinzuweisen, dass Jesus auf diese Weise die biblischen Prophezeiungen erfüllt habe und der erwartete Messias ist. Gleich nach seiner Geburt begeben sich seine Eltern mit ihm auf die Flucht nach Ägypten, danach geht es nicht zurück in den Geburtsort Bethlehem, sondern ins weiter entfernte Galiläa. Nach der Taufe zieht sich Jesus nach der Darstellung von Matthäus in die Wüste zurück, fastet dort vierzig Tage und vierzig Nächte und wird vom Teufel in Versuchung geführt. Er kehrt nach Galiläa zurück und predigt in vielen Orten. Mehrfach predigt und heilt er in benachbarten Regionen, in der Gegend von Gardarener südöstlich des Sees Genezareth im heutigen Jordanien (Matthäus 8,28-34) sowie im Gebiet von Tyrus und Sidon im heutigen Libanon (Matthäus 15,21-28).

 

In Galiläa selbst ist Jesus mit der antiken „Globalisierung“ konfrontiert, leben hier doch Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen (das „Galiläa der Heiden“) und ist das Gebiet doch durch wichtige Handelsstraßen mit den überregionalen Wirtschaftsstrukturen der Römer verbunden. Im Westen grenzte Galiläa an Phönizien mit seinen Häfen, im Norden und Osten an Syrien und im Süden an Samarien.

 

Nach Matthäus mied Jesus lange Zeit Judäa und das religiöse Zentrum Jerusalem mit dem Tempel, also die Region, in der die Sadduzäer das religiöse Denken und Leben bestimmten. Seine Reise nach Jerusalem am Ende seiner Zeit als Wanderprediger endet rasch mit seiner Verhaftung, Verurteilung und Ermordung. Bei seiner Kreuzigung folgen ihm Frauen aus Galiläa, und als sie sein leeres Grab vorfinden, gibt Jesus ihnen den Auftrag, die Jünger aufzufordern, nach Galiläa zu gehen, wo sie ihn sehen werden.

 

Der US-amerikanische Theologe Paul Herting, der Neues Testament und Mission an zwei Universitäten lehrt, ist zum Ergebnis gekommen: „Matthäus malt geografische Porträts der Marginalisierung bei den fortdauernden Reisen Jesu, dem wandernden Gott. Das Galiläa der Heiden, ein Kreuzungspunkt von Kulturen und Imperien dient als geeignete Missionsbasis für Jesu Reisen zu den Zentren und den Rändern. Matthäus malt soziale Porträts der Marginalität durch die Begegnung Jesu mit einzelnen Menschen wie den Centurio, die kanaanäische Frau und die Frauen aus Galiläa, die Jesus zum Kreuz und zum Grab folgen.“ [12]

 

„Die Heiden zu Gott führen, nicht in die Synagoge“

 

Das Matthäusevangelium enthält zwei Sendungsaufträge. In Matthäus 10,5-6 sendet Jesus seine Jünger zu den „verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“ und ausdrücklich nicht zu den Heiden und Samaritern. In Matthäus 28,19 fordert Jesus nach seiner Auferstehung hingegen von seinen Jüngern „gehet hin und lehret alle Völker“. Dieses Zitat ist sehr bekannt, aber es lohnt sich, auch die nachfolgende Textpassage zu lesen: „Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“

 

Die anderen Völker müssen also nach Matthäus keine Juden werden, um am Heil teilzuhaben, aber sie müssen das einhalten, was Jesus gelehrt hatte – und das ist, wie wir wissen, wahrlich nicht wenig.

 

In der Vergangenheit haben viele Theologen die Auffassung vertreten, das jüdische Volk habe durch die Ablehnung Jesu als Messias und die Mitwirkung an seiner Tötung ihre Stellung als Gottesvolk verloren und sei hinfort auch nur eines der Völker, die missioniert werden müssten. Manche Theologen und Gemeindemitglieder vertreten auch weiterhin diese Auffassung.

 

Matthias Konkradt, Professor für neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg, widerspricht – wie viele andere heutige Theologen – dieser Interpretation, die aus mehreren gravierenden Gründen nicht mehr zu halten sei. [13] Der irdische Jesus habe sein irdisches Wirken programmatisch auf Israel konzentriert und ihn als davidschen Messias Israels gezeichnet. Zweitens dauert die Sendung zu Israel nach Matthäus 10,23 bis zur Wiederkunft Jesu an. Drittens wird die universale Sendung Jesu bereits vom irdischen Jesus angesprochen und nicht erst vom auferstandenen in Matthäus 28,19. Und schließlich berichtet Matthäus nicht von einer kollektiven Ablehnung Jesu durch die Juden, sondern stellt die Jesus zugewandten Volksmassen in Galiläa den sich feindselig verhaltenen jüdischen Autoritäten gegenüber. Matthias Konkradt kommt deshalb zum Ergebnis: „Matthäus‘ zentrales Anliegen ist es, sowohl an der besonderen Stellung Israels als Volk Gottes festzuhalten, als auch die Universalität des mit Jesus Christus verbundenen Heils zur Geltung zu bringen.“[14]

 

Der Neutestamentler betont, dass für Matthäus der Lebenswandel für ein gelebtes Christsein von allergrößter Bedeutung sei. Dabei stelle Matthäus Jesus nicht als „Überwinder“ der Tora da, sondern als wahren Ausleger. Hierum geht es in Jesu Auseinandersetzungen mit den Schriftgelehrten und Pharisäern. Die Menschen aus anderen Völkern werden darauf verpflichtet, so Matthias Konkradt, das radikal verstandene Liebesgebot, die ebenso verstandenen zehn Gebote und das Gebot der Barmherzigkeit einzuhalten.[15]

 

Der irdische Jesus hat in der Darstellung von Matthäus das Heil für die Juden betont, während es der Auferstandene war, der den Jüngerinnen und Jüngern den Auftrag gab, das Evangelium den Völkern zu predigen. Aber bereits in den ersten Kapiteln des Matthäusevangeliums sind die anderen Völker im Blick. So wurden vier Frauen aus anderen Völkern in den Stammbaum aufgenommen und die Magier in der Geburtsgeschichte huldigen dem Jesuskind vor den Angehörigen seines eignen Volkes.

Juden waren und sind überzeugt, dass Gott der Gott der ganzen Welt ist und auch die nichtjüdischen Völker einen Platz im Heilsplan Gottes haben. Aber es gibt einen bedeutsamen Unterschied, den Pinchas Lapide so formuliert: „Der Auftrag hieß seit eh und je, die Heiden zu dem einen Gott zu führen, nicht aber sie in die Synagoge einzuverleiben.“[16]

 

Mission unter anderen Völkern – und die Folgen

 

Matthäus warb in seinem judenchristlichen Kontext für die Heidenmission, also für den Schritt von einer auf ein Volk begrenzten Religionsgemeinschaft zu einer Gemeinschaft, die allen Menschen im großen Römischen Reich und darüber hinaus offen stehen sollte ohne dass sie vorher Juden werden und sich beschneiden lassen mussten. Uta Poplutz, Lehrstuhlinhaberin für Biblische Theologie an der Universität Wuppertal, schreibt zu den Reaktionen auf die Aufnahme von Nichtjuden in das (christliche) Gottesvolk bei den jüdischen Bewegungen, die Jesus nicht als Messias anerkannten, aber auch unter Judenchristen: „Dass es aus dem sich nach der Tempelzerstörung 70 n. Chr. unter pharisäischer Führung neu formierenden Judentum – insbesondere vermutlich seitens orthodoxer judenchristlicher Gruppierungen - Vorbehalte und Widerstände gegen diese Praxis gab, liegt auf der Hand. Matthäus antwortet darauf mit seinem Evangelium.“[17]

 

Die Ausgrenzung durch die jüdischen Synagogengemeinden einerseits und das rasche Wachstum der heidenchristlichen Gemeinschaften andererseits hat die judenchristlichen Gemeinschaften in eine Randposition in der Jesusbewegung gebracht, sodass sie letztlich ihre Bedeutung für das entstehende Chris­tentum verloren, aber dieser Prozess kam erst zum Abschluss, nachdem Matthäus sein Evangelium geschrieben hatte.[18]

 

Massive Angriffe auf Juden

 

Angesichts des judenchristlichen Hintergrunds des Verfassers könnte überraschen, dass Matthäus massive antijüdische Aussagen in sein Evangelium aufgenommen und sich derart deutlich von Juden abgegrenzt hat, indem er zum Beispiel über „ihre Schriftgelehrten“ (Matthäus 7,29) schrieb. Als Grund wird angenommen, dass – wie erwähnt - seine eigene frühchristliche Gemeinschaft im Konflikt mit der jüdischen Synagogengemeinde lebte und eventuell bereits aus der Synagoge ausge­wie­sen worden war. Ein solcher Hinauswurf musste tief schmerzen, denn die judenchristliche Gemeinschaft, zu der Matthäus gehörte, war fest im Judentum verwurzelt und sah Jesus als Ausleger der Tora an.

 

Jesus verband viel mit den Pharisäern, aber Jesu liberale Auslegung des Sabbatsgebets und Reinheitsvorschriften trennte sie.[19] Viele Pharisäer hatten große Vorbehalte gegenüber Jesu liberale Auslegung des Sabbatgebotes, ist Ulrich Luz überzeugt, ebenso seine Freiheit gegenüber rituellen Reinheitsvorschriften. In Matthäus 23 wird dieser Konflikt mit Schriftgelehrten und Pharisäern dramatisch thematisiert. Gleich sieben Mal beginnt ein Vers mit den Worten „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler“ (Verse 13ff.)

 

Gerade weil sich die Judenchristen und die übrigen Juden so nahe waren, gestalteten sich die Konflikte, die zur Trennung führten, besonders heftig und schmerzhaft, und das spiegelt sich im Matthäusevangelium wider. Aber trotz dieser Konflikte lässt sich mit Ulrich Lutz feststellen: „Dennoch ist es ihm – dem Judenchristen – lebensnotwendig, dass Jesu Gott der alttestamentliche Gott ist und dass Jesu Sendung von ihm geplant und bewirkt wird. So entbrennt der Bruderstreit gerade dort, wo das Verhältnis feindlicher Brüder besonders eng war, besonders heftig.“[20]

 

In der Nachfolge Jesu weist das Matthäusevangelium den Weg zu Interpretationen der Tora, die sich durchaus im Rahmen der damaligen Diskussionen im Judentum bewegten. So wollte er das Scheidungsrecht zugunsten der Frauen einschränken. Damals konnte eine Scheidung nur vom Mann ausgehen und stürzte Frauen anschließend in große Not. Indem Matthäus unter Berufung auf Jesus die Möglichkeiten des Mannes zu solch einem Schritt reduzieren wollte, ergriff er hier also Partei für die Frauen. [21] An dieser wie anderen Stellen seines Evangeliums wollte er die Tora nicht durch Jesu Botschaft ersetzen, sondern neu interpretieren. Es gab für Matthäus noch kein Gegenüber von Juden und Christen, sondern er bemühte sich, so wie andere jüdische Gruppierungen es taten, um eine Neuorientierung des Judentums unter veränderten Umständen.

 

Die schmerzhafte und folgenschwere Trennung

 

Dass es dennoch zu einer Trennung der Jesusbewegung vom Judentum kam, lag vor allem an zwei Streitpunkten. Erstens war keine Einigung darüber möglich, ob Jesus der angekündigte Messias war oder nicht. Matthäus bemühte sich in seinem Evangelium immer aufs Neue, nachzuweisen, dass die Jesusbewegung in der Tradition des Judentums stand und Jesus tatsächlich der Messias war. Dass der Stammbaum Jesu gleich am Anfang des Evangeliums steht, ist deshalb kein Zufall, ebenso wenig, dass an vielen Stellen Bezug genommen wird auf Texte des Alten Testaments. Dass solche Verweise häufig nicht heutigen wissenschaftlichen Maßstäben entsprechen, gilt es wahrzunehmen, ohne dass dadurch diese Verweise ihre Relevanz verlieren.

 

Ulrich Luz, der sich Jahrzehnte lang intensiv mit dem Matthäusevangelium beschäftigt hat, stellt fest, dass Jesus keinesfalls vom jüdischen Volk geschlossen abgelehnt wurde: „Abgelehnt wurde er sicher durch die Sadduzäer in Jerusalem, also von der obersten Schicht der Priesterschaft, die ihre im Kult gründenden Privilegien durch Jesu Verkündigung gefährdet sahen und die in ihm auch einen gefährlichen, die politische Ruhe und den status quo störenden Unruhestifter sehen mochten.“ [22]

 

Bei der Verurteilung Jesu wusch Pilatus nach dem Matthäusevangelium seine Hände in Unschuld, während das Volk Jesu Hinrichtung forderte. Als das Volk sich durchsetzte, sollen die Menschengerufen haben: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Matthäus 27,25) Möglichweise hatte Matthäus bei diesem Vers die Niederschlagung des Aufstandes gegen die Römer und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Blick. Aber diese Zeile wurde immer wieder zur Rechtfertigung der Ermordung Tausender und schließlich Millionen jüdischer Menschen missbraucht.

 

Matthäus und die anderen Evangelisten haben sich vermutlich bemüht, den Anteil der römischen Besatzer an Jesu Ermordung so gering wie möglich erscheinen zu lassen, um die Römer nicht noch stärker gegen die Anhänger des gekreuzigten Aufrührers Jesus aufzubringen. Entsprechend groß erschien der Anteil „der Juden“ an diesem Mord.[23] Wie erwähnt hat auch der Trennungsschmerz beim Herauswurf der Jesus-Anhänger aus den Synagogen eine Rolle bei den Angriffen aus Schriftgelehrte, Pharisäer und das jüdische Volk gehabt und dies besonders beim Judenchristen Matthäus mehr als bei Heidenchristen, die sich in den Synagogen ohnehin nicht beheimatet fühlten. Aber dennoch blieb Matthäus ein Brückenbauer zwischen dem Volk Gottes und den Völkern – und das kann man nur ignorieren, indem man einzelne Verse aus dem Zusammenhang reißt.

 

 

 © Frank Kürschner-Pelkmann



[1] Hans Küng, Christ sein, München 1974, S. 159

 [2] Pinchas Lapide/Ulrich Lutz: Der Jude Jesus, Düsseldorf und Zürich1979. S. 19

[3] Vgl. Das Matthäusevangelium, www.wibilex.de, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, Deutsche Bibelgesellschaft

[4] Vgl. u. a. Hubertus Halbfas: Die Bibel, Düsseldorf 2001, S. 414

[5] George Keerankeri: Listen to the Spirit: The Gospel of Matthew, in: Vidyajyoti Journal of Theological Reflection. Nr. 69, Delhi 2005, S. 64

[6] Ebenda, S. 65

[7] Ebenda, S. 64f.

 [8] Frank Crüsemann: Kontinuität im Neuanfang, Der Anfang des Neuen Testaments in der Perspektive des Alten, in: Bibel und Kirche, 3/2019, S. 137f.

[9] Erich Zenger: „… damit sich erfüllte, was der Herr durch die Propheten gesagt hat“, in: Prophetie und Visionen, Welt und Umwelt der Bibel, 4/2004, S. 32

 [10] Bibel und Kirche, 3/2019, S. 129

[11] Leif E. Vaage: „Jesus the Economist” in the Gospel of Matthew”, zur Zeit nicht mehr online verfügbar

[12] Paul Hertig: The multi-ethnic journeys of Jesus in Matthew, in: Missiology, An international Review, 1/1998, S. 23

 [13] Matthias Konkrath: Die neue Matthäusperspektive, in: Bibel und Kirche, 3/2019, S. 130ff.

 [14] Ebenda, S. 132

 [15] Ebenda, S 134

 [16] Pinchas Lapide/Ulrich Luz. Der Jude Jesus, a.a.O., S. 119

 [17] Uta Poplutz: Kinder Abrahams, Der universale Ursprung der matthäischen Kirche, in: Bibel und Kirche, 4/2014, S.215

[18] Vgl. hierzu u. a. Hubertus Halbfas: Die Bibel, a.a.O., S. 414f.

[19] Vgl. ebenda

[20] Pinchas Lapide/Ulrich Luz. Der Jude Jesus, a.a.O., S. 145

 [21] Vgl. Martin Vahrenhorst: Intra muros oder extra muros? Hat das Evangelium seinen Ort im Judentum? in: Bibel und Kirche, 3/92, S. 154f.

 [22] Pinchas Lapide/Ulrich Luz:. Der Jude Jesus, a.a.O., S. 141

[23] Vgl. Hierzu u.a. die Ausführungen von Ponchas Lapide in „Der Jude Jesu“, a.a.O., S. 80