Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Israel und Juda – Zwischen den Großmächten zerrieben

 

Nun ist es an der Zeit, uns systematischer mit den jüdisch-babylonischen Beziehungen zu beschäftigen. Dabei müssen wir mit dem Berliner Theologieprofessor Peter Welten zunächst einmal feststellen: „Israel liegt am äußersten Rand des Einflussbereichs Babyloniens, seiner Politik, Geschichte, Kultur und Religion. Im Blick auf die lange, bedeutende Geschichte des Weltreichs sind die Berührungspunkte marginal. Für Israel freilich ist das Verhältnis zentral und beinahe traumatisch zu nennen.“[1]

 

Nachdem das Nordreich 722 v. Chr. von assyrischen Truppen überrannt worden war und das Südreich Juda diesem Schicksal nur knapp entging, versuchte dieses Südreich, seine Selbstständigkeit dadurch zu wahren, dass man auf die Unterstützung durch Ägypten gegen Assyrer und Babylonier setzte.

 

Palästina lag an der Grenze des Einflussbereiches von assyrischem und anschließend babylonischem Reich auf der einen und dem Reich der Ägypter auf der anderen Seite. Zwischen ihnen kam es immer wieder zu Kriegen, und deshalb hatten beide Seiten ein Interesse daran, Juda an sich zu binden. Deshalb sandte der babylonische König Merodoch-Baladan eine diplomatische Gesandtschaft nach Jerusalem, erfahren wir im 39. Kapitel des Jesaja-Buches. Die Gäste wurden sehr freundlich von König Hiskia (Herrschaftszeit von 725 v. Chr. bis 698 v. Chr.) empfangen, der als Beweis seiner Freundschaft den Fremden sogar seine Schatzkammer und seine Waffenlager zeigte. Es wird vermutet, dass dieser Delegationsbesuch dem Ziel gedient haben könnte, eine gegen die Assyrer gerichtete Koalition zu schmieden. König Marduk-apla-iddina II., so sein babylonischer Name, hat nachweislich eine solche Koalition bilden wollen, und da war ihm Juda am Südrand des assyrischen Einflussbereiches sicher ein willkommener Bündnispartner.

 

Der Prophet Jesaja warnte König Hiskia davor, leichtgläubig zu sein und die wahren Absichten der Großmacht Babylonien zu verkennen. Der Prophet kündigte seinem König an, dass sein Land von den Babyloniern erobert werden würde: „Höre das Wort des HERRN Zebaoth: Siehe, es kommt die Zeit, dass alles, was in deinem Hause ist und was deine Väter gesammelt haben bis auf diesen Tag, nach Babel gebracht werden wird, sodass nichts zurückbleibt, spricht der HERR“ (Jesaja 39,5-6). Der Prophet hatte offenbar anders als sein König durchschaut, dass das kleine Juda nur verlieren konnte, wenn es versuchte, im Machtkampf der Großmächte der damaligen Zeit als relativ unbedeutender Akteur mitzumischen.

 

Einen ähnlichen Versuch, von den Konflikten der Großmächte zu profitieren, unternahm später auch König Jojakim. Er setzte auf die ägyptische „Karte“, was sich schon daraus erklären ließ, dass er seine Königswürde mit ägyptischer Unterstützung erlangt hatte. Er war faktisch zum Vasallen der Pharaonen geworden. König Jojakim musste allerdings erleben, dass das Königreich Juda im Konfliktfall nicht auf die       Ägypter zählen konnte, sondern allein dastand. Dies war noch mehr der Fall, als die Schlacht von Karkemisch 605 v. Chr. mit einer verheerenden Niederlage für die Ägypter endete und Babylonien zur unbestrittenen Hegemonialmacht der gesamten Region aufstieg. Ein Ergebnis war, dass Juda nun zum babylonischen Vasallen wurde.

 

Jojakim lernte nichts dazu, sondern stellte nach drei Jahren die Tributzahlungen an Babylon ein, weil er hoffte, die Ägypter würden ihn gegen die Babylonier unterstützen. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die Mächtigen in Babylon waren beunruhigt und verärgert darüber, dass an der Südgrenze ihres Reiches, also an der Grenze zu dem feindlichen Ägypten, eine offene Rebellion inszeniert wurde. Das wollten sie nicht tatenlos hinnehmen. Sie ließen sich zwar mehrere Jahre Zeit, aber 598 v. Chr. erschienen babylonische Truppen zu einer Strafaktion in Juda und belagerten Jerusalem.

 

König Jojakim starb in dieser Zeit, und sein Sohn und Nachfolger Jojachin tat nach drei Monaten das, was angesichts der babylonischen Übermacht und der ausbleibenden Hilfe aus Ägypten unvermeidlich geworden war: Er kapitulierte und öffnete die Tore von Jerusalem für die feindlichen Truppen. Die plünderten die Stadt, den Königspalast und den Tempel. Auch nahmen sie den König, die Oberschicht und zahlreiche Handwerker gefangen und verschleppten sie ins babylonische Exil. Wie viele Menschen 597 v. Chr. den Zug nach Babylon antreten mussten, ist nicht bekannt. In verschiedenen biblischen Texten werden zwischen 3.023 und 10.000 genannt.

 

Die Eroberung Jerusalems und ihre Konsequenzen werden in der Bibel immer wieder thematisiert, so in 2. Könige 24,2: Da ließ der HERR über ihn Scharen von Kriegsleuten kommen aus Chaldäa, aus Aram, aus Moab und aus Ammon und sandte sie gegen Juda, dass sie ihn vernichteten nach dem Wort des HERRN, das er geredet hatte durch seine Knechte, die Propheten.“ Einige Verse später werden die Folgen der Eroberung dargestellt. Nicht nur plünderten die Truppen Nebukadnezars den Tempel, sondern es wurden auch große Teile der Oberschicht nach Babylon verschleppt: „Und er führte weg das ganze Jerusalem, alle Obersten, alle Kriegsleute, zehntausend Gefangene und alle Zimmerleute und alle Schmiede und ließ nichts übrig als geringes Volk des Landes“ (2. Könige 24,14). Dieser Vers ist der Ursprung des heutzutage noch geläufigen Ausdrucks „obere Zehntausend“.

 

Da es in den Folgejahren mehrfach zu neuen Aufständen gegen die babylonische Herrschaft kam (wahrscheinlich vor allem 587 v. Chr.), ordnete der babylonische König weitere Deportationen an. Es galt, Juda fest unter babylonische Kontrolle zu   bringen, um den eigenen Einfluss in dieser Grenzregion des Reiches abzusichern. Die Deportationen all derer, die tatsächlich oder potenziell gegen die babylonischen Herrscher eingestellt waren, entsprang diesem machtpolitischen Kalkül.

 

Jeremia sah das Unheil kommen

 

„HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich“ (Jeremia 20,7). Nein, es war keine einfache und dankbare Aufgabe, Prophet in Juda zu sein, musste Jeremia erleben. Während der Herrschaft von König Zedekia geriet der Prophet mitten hinein in politische Auseinandersetzungen. Zedekia war vom babylonischen König Nebukadnezar nach der Eroberung Jerusalems 597 v. Chr. als Herrscher über Juda eingesetzt worden.

 

Dieser König plante wenige Jahre nach seiner Inthronisierung einen Aufstand gegen die Babylonier. Dabei spielte die Erwartung eine wichtige Rolle, Gott würde schon für einen Sieg seines Volkes sorgen. Der Prophet Jeremia warnte vor diesem leichtfertigen Schritt gegen eine militärisch weit überlegene Großmacht. Jeremia berichtet so über seine Bemühungen: „Und ich redete alle diese Worte zu Zedekia, dem König von Juda, und sprach: Beugt euren Nacken unter das Joch des Königs von Babel und seid ihm und seinem Volk untertan, so sollt ihr am Leben bleiben. Warum wollt ihr sterben, du und dein Volk, durch Schwert, Hunger und Pest, wie der HERR geredet hat über das Volk, das dem König von Babel nicht untertan sein will?“ (Jeremia 27,12-13). Der Prophet ging sogar mit einem hölzernen Joch auf den Schultern durch Jerusalem, um seine Botschaft anschaulich werden zu lassen, aber auch das half nichts.

 

Der König hörte nicht auf die Warnungen des Propheten vor dem drohenden Unheil, das Gott seinem Volk bei einem solch unbedachten Verhalten zukommen lassen würde. Es gab keine Garantie Gottes, sein Volk auch vor den Folgen leichtsinnigen Verhaltens zu schützen, war Jeremia überzeugt. Die Herrschenden hörten zwar nicht auf seine Prophezeiungen, aber – sicher ist sicher – der König gab Jeremia trotzdem den Auftrag, bei Gott für das Volk zu beten.

 

König Zedekia wagte also den Aufstand gegen die weit überlegenen Babylonier. Daraufhin belagerte ein babylonisches Heer erneut die Hauptstadt Jerusalem. Aber Rettung schien zu nahen, berichtet die Bibel. Als bekannt wurde, dass das Heer des Pharaos sich von Ägypten aus auf den Weg gemacht hatte, um die Rivalen an Euphrat und Tigris zu besiegen, zogen die Babylonier erst einmal ab, und die Stadt Jerusalem schien gerettet zu sein. Aber der Prophet Jeremia warnte vor einer verfrühten Freude und sagte voraus, dass das Heer der Ägypter bald in ihre Heimat zurückkehren würde. Dann würden die Truppen der Babylonier zurückkehren, die Stadt Jerusalem belagern, erobern und zerstören. Auch diese Botschaft wurde nicht gern gehört, und als dann auch noch der Verdacht gestreut wurde, Jeremia wollte zu den Babyloniern   überlaufen, wurde er verhaftet. „So kam Jeremia in den überwölbten Raum einer Zisterne und blieb dort lange Zeit“ (Jeremia 37,16).

 

Immerhin konnte er schließlich beim König erreichen, dass er von der Zisterne in einen Wachthof gebracht wurde. Aber als Jeremia dort weiterpredigte und seiner Stadt erneut prophezeite, sie würde vom Heer des Königs von Babylon erobert werden, erhob sich großer Zorn gegen den Propheten. „Da nahmen sie Jeremia und warfen ihn in die Zisterne Malkijas, des Königssohnes, die im Wachthof war, und ließen ihn an Seilen hinab. In der Zisterne aber war kein Wasser, sondern Schlamm und Jeremia sank in den Schlamm“ (Jeremia 38,6).

 

Das kam einem Todesurteil gleich. In dieser Situation war es Ebed-Melech, ein „Mohr“, der Jeremia rettete. Er war ein Kämmerer des Königs und setzte sich für den Propheten in der Zisterne ein. Die Fürsprache half, und der Kämmerer bekam den königlichen Auftrag, den Propheten aus der Zisterne hochzuziehen. Jeremia blieb in Haft, konnte aber überleben. Als die Babylonier – wie von Jeremia vorhergesagt – 587 v. Chr. die Stadt Jerusalem eroberten, wurde der Prophet befreit.

 

Warum ließ Gott dies zu?

 

Eine erste Reaktion auf die katastrophale Niederlage 597 v. Chr. und dann wahrscheinlich noch einmal 587 v. Chr. war der abgrundtiefe Hass auf die Sieger. Auch das Reich der Babylonier war dem Untergang geweiht, kündigte der Verfasser des letzten Teils des Jeremia-Buches an: „Die du an großen Wassern wohnst und große Schätze hast, dein Ende ist gekommen, dein Lebensfaden wird abgeschnitten!“ (Jeremia 51,13) Den Untergang beschreibt der Prophet so: „Wellen brausen heran wie große Wasser, es erschallt ihr lautes Tosen; denn es ist über Babel der Verwüster gekommen“ (Jeremia 51,55-56).

 

Bei den vielen Verwünschungen gegen Babylon und Edom kann die Einsicht erleichternd wirken, dass hier nicht Gott spricht, sondern die Verfasser der biblischen Texte ihren Zorn über die Zerstörung von Jerusalem und die Verschleppung vieler Menschen hinausschreien und sich in ihrer Verzweiflung an Gott wenden. Eine Interpretationslinie der Verwünschungen gegen die Babylonier und andere Fremdvölker betont, dass die Menschen nicht selbst Rache nehmen wollten, sondern auf die Rache als Teil von Gottes Gerechtigkeit hofften. Aber können wir wirklich auf einen Gott hoffen, der Feinde und ihre Familien brutal töten lässt? Solche biblischen Texte helfen uns heute nicht weiter, einen Glauben an den einen Gott zu finden, der sich unseren menschlichen Wahrnehmungen und Erwartungen entzieht.

 

Neben dem Hass auf die Babylonier beschäftigte die Verfasser der biblischen Texte und sicher ebenso die leidende Bevölkerung von Juda immer wieder die Frage, warum Gott die Eroberung des Landes und die Zerstörung des Tempels zugelassen hatte. Propheten wie Jeremia und Hesekiel gelangten zur Überzeugung, dass Nebukadnezar und seine Truppen nicht von sich aus handelten, sondern Instrumente der Bestrafung ihres Volkes durch Gott geworden waren.

 

Gott erlitt also, so die Erklärung des Geschehens durch die Propheten, bei der Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Tempels keine Niederlage, sondern seine ganze Macht zeigte sich gerade darin, dass er sich der Babylonier bediente, um sein auserwähltes Volk für seine Missetaten zu bestrafen. Deshalb lesen wir bei Jeremia: „Und ich selbst will wider euch streiten mit ausgestreckter Hand, mit starkem Arm, mit Zorn und Grimm und ohne Erbarmen“ (Jeremia 21,5). Und einige Verse weiter lässt Jeremia Gott noch deutlicher werden: „Denn ich habe mein Angesicht gegen diese Stadt gerichtet zum Unheil und nicht zum Heil, spricht der HERR. Sie soll dem König von Babel übergeben werden, dass er sie mit Feuer verbrenne“ (Jeremia 21,10).

 

Hesekiel deutet den Untergang

 

Der Prophet Hesekiel (oder Ezechiel) hatte eine herausragende Bedeutung für die Interpretation der Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Tempels und für die Neugewinnung einer jüdischen Identität und Glaubensgewissheit nach dieser Katastrophe. Hesekiel, der Sohn eines Priesters in Jerusalem, wurde 597 v. Chr. mit der ersten Gruppe aus Juda nach Babylonien deportiert und dort von Gott zum Propheten berufen. Im ersten Kapitel seines biblischen Buches beschreibt er ausführlich eine Vision, die er am Fluss Kebar in Babylonien hatte, wo er die Herrlichkeit Gottes schauen durfte.

 

Seine Berufung zum Propheten durch Gott hat Hesekiel in diesen Worten wiedergegeben: „Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, ich sende dich zu den Israeliten, zu dem abtrünnigen Volk, das von mir abtrünnig geworden ist. Sie und ihre Väter haben bis auf diesen heutigen Tag wider mich gesündigt. Und die Söhne, zu denen ich dich sende, haben harte Köpfe und verstockte Herzen. Zu denen sollst du sagen: ‚So spricht Gott der HERR!‘ Sie gehorchen oder lassen es – denn sie sind ein Haus des Widerspruchs –, dennoch sollen sie wissen, dass ein Prophet unter ihnen ist“ (Hesekiel 2,3-5).

 

Wir ahnen es, auch im Exil hatten Propheten einen schweren Stand und brauchten ein unerschütterliches Gottvertrauen. Dies um so mehr, nachdem sich die Nachricht unter den Judäern im babylonischen Exil verbreitete, dass Jerusalem von den babylonischen Truppen ein zweites Mal erobert und nun einschließlich des Tempels zerstört worden war. Hesekiel schreibt darüber: „Und es begab sich im elften Jahr unserer Gefangenschaft am fünften Tag des zehnten Monats, da kam zu mir ein Entronnener von Jerusalem und sprach: Die Stadt ist genommen“ (Hesekiel 33,21).

 

Hesekiel deutete die bisherige Geschichte seines Volkes im Lichte der Zerstörung des Tempels und des Exils. Er zeigte auf, wie der Abfall seines Volkes von Gott immer wieder zu Krisen und Katastrophen geführt hatte, während ein fester Glaube belohnt wurde. Der Prophet interpretierte die gerade zurückliegende Katastrophe als Folge des Abfalls von Gott und wagte es in diesem Zusammenhang auch, die Priesterschaft mit deutlichen Worten zu kritisieren (Hesekiel 34,1-5).

 

Das Hesekiel-Buch wird von vielen Fachleuten als Bemühen interpretiert, die traumatischen Erfahrungen von brutalen Kriegserlebnissen und Zwangsumsiedlung nach Babylon zu verarbeiten und den Glauben an den einen Gott neu zu beleben. Die evangelische Theologin Ruth Poser hat diese Erfahrungen so beschrieben: „Die vom Belagerungskrieg Betroffenen waren zunächst mit Hungersnot, Seuchen und der permanenten Angst vor dem Einbrechen der feindlichen Soldaten konfrontiert. Wenn es den Angreifern gelang, die Stadtmauer zu durchbrechen und in die Stadt einzudringen, erlebten sie das ‚Schlagen des Schwerts‘, Kriegsgräuel, Folter, Vergewaltigung, Plünderung und Brandschatzung …“[2]

 

Wer die Gräuel überlebte und deportiert wurde „hatte einen mörderischen Gewaltmarsch über Hunderte von Kilometern zu bewältigen, erfuhr das Dahinsiechen und Sterben von Mitdeportierten, die Zerschlagung von Familien und war schließlich zu einem Leben in völliger Fremde gezwungen, in der Regel ohne Hoffnung auf Rückkehr“.[3]

 

Vertrauen auf Gott auch nach traumatischen Erfahrungen

 

Ruth Poser deutet das Hesekiel-Buch als „Erzählung einer traumatisierten Gemeinschaft“, die die Erfahrungen erinnert, aber auch den Raum für die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen schafft. Es spricht meines Erachtens viel dafür, dass diese Situation der Traumabearbeitung das sehr negative Bild von Babylon stark mitgeprägt hat. Traumatisierte Menschen, die auf einen nicht nur militärisch überlegenen Feind treffen, sondern auch in ein Land verschleppt werden, das von seinen Bauten bis zu seiner Wissenschaft unübersehbar überlegen ist, werden schwerlich diese Überlegenheit bewundern, sondern darauf mit Abwehr reagieren, bis hin zu der Erwartung, dass all das, was sie sehen, bald in Schutt und Asche versinken wird. Dies ist um so mehr der Fall, wenn auch die eigene religiöse Identität infrage steht angesichts der bitteren Niederlage und der Stärke des siegreichen Volkes.

 

Hesekiel trat mit seinen theologischen Botschaften zu einem Zeitpunkt auf, als die Juden sich in einer existenziellen Krise befanden und ihr Glaube an ihren Gott erschüttert war, hatte dieser doch seinem Volk für ewige Zeiten ihr Land verheißen. Hatte dieser Gott sich als schwächer als die babylonischen Götter erwiesen? Hesekiels Interpretation des Geschehens eröffnete die Möglichkeit, den Glauben an den einen, die ganze Welt beherrschenden Gott zu bewahren und gleichzeitig die Hoffnung zu hegen, dass ein fester Glaube an diesen Gott und die Befolgung seiner Weisungen zurück in das gelobte Land führen würden.

 

Hesekiel leistete aber noch mehr. Er vermittelte den Juden im Exil, dass der von ihnen angebetete Gott der Herr der ganzen Welt war und deshalb auch eine religiöse Existenz außerhalb der Heimat und ohne den Tempel in Jerusalem möglich erschien. Das Hesekiel-Buch entstand also auch als eine theologische Antwort darauf, dass immer mehr Juden in der Diaspora lebten, und sagte diesen Menschen zu, dass ein Glaube an Gott und eine gottgefällige religiöse Praxis auch außerhalb von Israel möglich waren. Das war nicht zuletzt für die vielen Juden von großer Bedeutung, die nach der persischen Machtübernahme in Babylonien die Möglichkeit zur Rückkehr nach Jerusalem nicht nutzten, sondern auf Dauer an Euphrat und Tigris blieben.

 

In der Botschaft von der Präsenz Gottes auch fern der Heimat kommt dem Geist Gottes, ruach, eine große Bedeutung zu, und so gibt es kein anderes biblisches Buch, in dem diese Geisteskraft auch nur annähernd so häufig genannt wird wie bei Hesekiel. Die Geisteskraft wird so zum zentralen Ausdruck für den Neuanfang, für die neue Gemeinschaft Gottes mit seinem Volk.[4]

 

Verbunden mit dem Leben im Exil war, und das deutet sich bereits bei Hesekiel an, die „angepasste“ Aufnahme von kulturellen und religiösen Gedanken der Völker, mit denen man zusammenlebte. Dass in den Versen 5 und 6 des ersten Kapitels des Hesekiel-Buches von vier Gestalten die Rede ist, die aussahen wie Menschen und die jeder vier Angesichte und vier Flügel hatten, wird in Verbindung gebracht mit mesopotamischen Gottesvorstellungen, in denen vier Lebewesen die Träger des Himmels waren, und diese Zahl bildete auch die Grundlage für die Festlegung der Himmelsrichtungen durch die Babylonier. Diese Aufteilung in vier Himmelsrichtungen (die es auch im alten Ägypten gab) spielte eine wichtige Rolle in der babylonischen Astronomie und Geografie.

 

Hesekiel erlebte die erdrückende militärische und ökonomische Übermacht der Babylonier vor Ort und warnte – ähnlich wie Jesaja und Jeremia – auf indirekte Weise vor einem aussichtslosen Aufstand gegen die Babylonier (Hesekiel 21,28-30). Es galt vielmehr, auf Gottes Wirken zu vertrauen. Breiten Raum nehmen im Buch dieses Propheten die Drohworte gegen die Nachbarvölker Israels (Hesekiel 25-32) ein, wobei interessanterweise Babylonien fehlt. Wir können dies so interpretieren, dass Hesekiel die Juden an ihre eigenen Verfehlungen erinnern wollte und Schmähungen gegen die Babylonier hiervon nur abgelenkt hätten. Aber es bestand für ihn, so wird im ganzen Buch deutlich, kein Zweifel, dass auch deren Niederlage und eine Rückkehr der Juden in ihre Heimat von Gott vorgesehen waren. Hesekiel prophezeite seinem Volk und der Welt weitere Kämpfe und blutige Kriege, bevor am Ende der neue Tempel in Jerusalem gebaut werden würde.

 

Hoffnungsbilder in schweren Zeiten

 

Die Hoffnungsbilder Hesekiels waren geeignet, in einer Zeit der schwersten Niederlage den Zusammenhalt der Gläubigen und ihr Vertrauen auf einen Neuanfang zu bewahren und zu festigen. Den Neuanfang beschreibt Hesekiel im 36. Kapital seines Buches in leuchtenden Farben: „Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun“ (Hesekiel 36,26-27).

 

Es wird ein neuer Garten Eden entstehen, lautet die hoffnungsvolle Botschaft: „Und man wird sagen: Dies Land war verheert und jetzt ist's wie der Garten Eden, und diese Städte waren zerstört, öde und niedergerissen und stehen nun fest gebaut und sind bewohnt“ (Hesekiel 36,35).

 

Die katholische Theologin Gabriele Theuer hat 2012 in einer Veröffentlichung des „Katholischen Bibelwerkes“ zur Bedeutung dieser Hoffnungsdimension im Hesekiel-Buch geschrieben: „Gerade in der Exilszeit in Anbetracht schlimmer Gegenwart werden Hoffnungsbilder entworfen. Darunter spielen das Bild vom neuen, von innen her verwandelten Menschen mit einem neuen Herz und neuen Geist und die Vision eines erneuerten Bundes die zentralen Rollen ... Die Hoffnungsbilder können verändernde Kraft haben. Die Verheißung Ezechiels kann uns an den Traum von einem erfüllten ‚paradiesischen‘ Leben im Einklang mit Gott erinnern. Sie kann eine Sehnsucht wachrufen, die uns anstiften kann, uns nicht mit dem scheinbar unabänderlichen Status quo in Kirche und Gesellschaft zufrieden zu geben.“[5]

 

Stefan Zweig: Möglichkeiten und Last des Lebens in der Diaspora

 

Im 20. Jahrhundert entstand ein pazifistisches Theaterstück, das den Weg des militärischen Widerstandes gegen Babylon als Irrweg erscheinen lässt. Dieses Drama stammt von Stefan Zweig. Er wurde am 28. November 1881 als Kind großbürgerlicher Eltern in Breslau geboren. Seine Eltern lebten ihren jüdischen Glauben nicht, ohne ihn zu verleugnen. Bereits in der Schulzeit beschloss Stefan Zweig, Schriftsteller zu werden und verfasste erste Gedichte, bald auch Erzählungen, Dramen und Novellen. Die Schrecken des Ersten Weltkrieges ließen den Schriftsteller zum Pazifisten werden, und deshalb schrieb er 1916/17 das Drama „Jeremias“, in dessen Mittelpunkt der Untergang Jerusalems und der Weg ins babylonische Exil stehen. Das Leben in der Diaspora wurde von nun an für Stefan Zweig zu einem wichtigen Thema seines literarischen Werkes und seiner Identität als jüdischer Schriftsteller.

 

Im pazifistischen Drama „Jeremias“ warnt der Prophet immer wieder eindringlich vor dem drohenden Unheil und widersetzt sich der Hoffnung, die Babylonier mit    ägyptischer Hilfe zu besiegen. Der König hört nicht auf ihn und verrennt sich in aussichtslose Kriegspläne. Die Schrecken dieses Krieges werden von Stefan Zweig dramatisch dargestellt, wenn in dem belagerten Jerusalem eine Frau angesichts der zu Ende gehenden Lebensmittelvorräte schreit: „Aber ich habe Hunger! Ich habe Hunger!“[6] In diesem Verzweiflungsschrei stimmen andere ein: „Wir verlangen … Brot … Brot …“ Und bald erheben sich viele Stimmen, die rufen: „Endet den Krieg … Nieder mit dem Krieg … Fluch dem, der ihn begann …“[7] Nun findet der Prophet Jeremias mit seiner Kritik an der Kriegspolitik von König Zedekia endlich Zustimmung im Volk, aber es ist zu spät, die Eroberung und die Zerstörung Jerusalems sind nicht mehr abzuwenden.

 

Im Augenblick der Niederlage zeigt sich im Drama die wahre Stärke des jüdischen Volkes, dem es gelingt, diese Niederlage nicht nur zu ertragen, sondern aus ihr neue Stärke zu gewinnen. Der Prophet Jeremias verkündet seinen Landsleuten: „… meine Brüder, auch unseres Leidens Sinn sehe ich: Ich sehe den Gott darin. Seine Prüfung nur ist diese Stunde, so lasset sie uns bestehen!“[8] Und einige Sätze später lesen wir: „… unser Gott, unserer Väter Gott, ein verborgener Gott ist er, und erst in der Tiefe des Leidens werden wir seiner gewahr, nur in der Prüfung tut er sich auf seinen Erwählten.“[9]

 

Dieses Mal kann der Prophet seine Landsleute überzeugen, die so voller Gottvertrauen ins Exil ziehen. Am Ende des Dramas hören wir die „Stimmen der Ausziehenden“:

 

Wir wandern den heiligen Weg unserer Leiden,

Von Prüfung zu Prüfung zur Läuterung …

Heimwärts zu Gott,

Der aller Anfang und Ausgang war,

Bis dass er uns selbst die Heimstatt werde,

Der ruhlos wie wir mit Sternen und Jahren

Die Welt umwandert und lauschend umkreist,

Und wir werden aufgehn im Unsichtbaren:

Verlorenes Volk, unsterblicher Geist.[10]

 

Zu Ostern 1917 erschien das Drama „Jeremias“ in Buchform und wurde noch in der Kriegszeit im Züricher Stadttheater uraufgeführt. Stefan Zweig hatte innerlich „erbittertsten Widerstand“ erwartet und gar nicht erst versucht, das Stück in Deutschland aufführen zu lassen. Aber zu seiner großen Überraschung wurde es nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland positiv aufgenommen, „selbst die Opposition der Kriegerischen zeigte sich höflich und respektvoll“. Der Schriftsteller erklärte sich das kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs so: „… die Zeit hat ihr Werk grausamer Ernüchterung getan“.[11]

 

Angesichts von Kriegsende und Friedensverheißungen des amerikanischen Präsidenten Wilson war Stefan Zweig, so schreibt er in seinen Lebenserinnerungen, voller Friedenshoffnung: „Die Hölle lag hinter uns, was konnte nach ihr uns noch erschrecken? Eine andere Welt war im Anbeginn. Und da wir jung waren, sagten wir uns: Es wird die unsere sein, die Welt, die wir erträumen, eine bessere, humanere Welt.“[12]

 

Der Schriftsteller lebte in den 1920er und Anfang der 1930er Jahre in Österreich und wollte lange Zeit die Gefahren durch den Nationalsozialismus in Deutschland nicht wahrhaben, auch dann noch nicht, als sie die Macht übernahmen und Goebbels den „Juden Zweig“ öffentlich attackierte. Nicht einmal gegen das Verbrennen seiner Bücher hat Stefan Zweig protestiert. Erst nachdem die österreichische Polizei 1934 sein Haus nach angeblichen Waffen durchsuchte, entschloss er sich, ins Exil zu gehen. Über England und die USA führte sein Fluchtweg in mehrere südamerikanische Länder. Am 2. Juni 1940 schrieb er in sein Tagebuch: „Dass man, nahe seinem sechzigsten Jahr, wie ein Verbrecher gejagt werden könnte, hätte man sich in der Jugend und im Hochgefühl unseres Jahrhunderts nicht träumen lassen.“

 

Das hoffnungsvolle Verständnis des jüdischen Schriftstellers Stefan Zweig von einer Existenz in der Diaspora war angesichts des brutalen Vernichtungskrieges und der Judenverfolgung zerbrochen. Er hatte sich verstanden „als Österreicher, als Jude, als Schriftsteller, als Humanist und Pazifist“. Aus Österreich war er vertrieben worden, als Jude wurde er verfolgt, als Schriftsteller hatte er erlebt, dass literarische Werke den Nationalsozialismus nicht in Schranken weisen konnten, als Humanist sah er sich dem scheinbaren Sieg von grenzenloser Dummheit und Gewalt gegenüber und als Pazifist musste er sich fragen, wie verbrecherische Regime gestoppt werden konnten.

 

Nichts war geblieben von der Hoffnung, die die letzte Regieanweisung des Dramas „Jeremias“ ausstrahlte: „DIE POSAUNE schallt zum dritten Male. Die Sonne ist aufgegangen über Jerusalem und strahlt über dem Auszug des Volkes, das aus der Stadt in die Zeiten schreitet.“[13] Die Einsamkeit und Verfolgung des pazifistischen Propheten seines Dramas hatte den Schriftsteller eingeholt, und er hatte nicht mehr die Kraft, weiter durch die Zeit zu schreiten. Auch angesichts der militärischen Erfolge des Deutschen Reiches war er müde und entmutigt. Am 22. Februar 1942 nahmen Stefan Zweig und seine Frau Lotte sich im brasilianischen Exil das Leben. Auf seinem Schreibtisch fand man diese Zeilen: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht. Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus!“

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 

 

 



[1] Peter Welten: Babylonien und Berlin, in: Berliner Theologische Zeitschrift, 2/98, S. 236.

[2] Ruth Poser: Es standen dort geschrieben: Tiefes Wehklagen, Ach und Weh (Ezechiel 2,10b): Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur, Vortrag für die 5. Feministisch-theologische Sommerakademie, 29. 6. 2012 (Manuskript), S. 2f.

[3] Ebenda, S. 3.

[4] Vgl. u. a. ebenda, S. 14.

[5] Gabriele Theuer: Die Verheißung eines neuen Lebens, in: Katholisches Bibelwerk (Hrsg.): Biblische Impulse zum Katholikentag in Mannheim, Stuttgart 2012, S. 25.

[6] Stefan Zweig, Jeremias, Leipzig 1920, S. 148.

[7] Ebenda, S. 150.

[8] Ebenda, S. 200.

[9] Ebenda.

[10] Ebenda, S. 216.

[11] Vgl. zur Uraufführung das 13. Kapitel von Stefan Zweigs Lebenserinnerungen „Die Welt von gestern“.

[12] Ebenda.

[13] Stefan Zweig: Jeremias, a. a. O., S. 216.