Die Rezeption der Geschichte vom Turmbau zu Babel in Theologie, Politik und Kultur
In der Diskussion über die „Sprachverwirrung“ am Ende des Turmbaus wird hierzulande kaum wahrgenommen, dass diese biblische Geschichte auch zur Begründung von Rassismus und besonders der Apartheid in Südafrika gedient hat. Die südafrikanischen Theologieprofessoren G.D. Cloete und D.J. Smit haben dies 1994 kurz vor den ersten freien Wahlen in einem Aufsatz so beschrieben: „Die Apartheid ist ein Versuch gewesen, das öffentliche Leben nach Babel zu organisieren. Apartheidtheologen nutzten Genesis 11 mehr als jede andere Perikope der Heiligen Schrift, um die Apartheid zu verteidigen. Warum war das so? Sie sahen die Bestrafung in Babel als Segen an. Die Menschen wurden nach ihren verschiedenen Sprachen aufgeteilt, was bedeutete, dass sie einander nicht mehr verstanden, sodass sie nicht zusammenarbeiten und zusammenleben konnten. Sie wurden über die ganze Welt zerstreut und lebten getrennt voneinander – entsprechend ihrer jeweiligen Sprache und Kultur. Für die Menschen, die die Ideologie der Apartheid übernahmen, war dies wunderbar. Die Trennung wurde als Segen Gottes verstanden und als die Art und Weise, wie Gott seine Schöpfungsarbeit abgeschlossen hat.“[1]
Die beiden Theologen plädieren für ein neues Rechtssystem in Südafrika nach dem Ende der Apartheid: „Um eine neue Gesellschaft aufzubauen, eine humane, glückliche, gerechte und friedliche Gesellschaft, müssen wir uns als Menschen verändern, um in der Lage zu sein, nach Babel zu leben. Wir müssen zu Menschen werden, die lernen, mit Fremden zu leben, die bereit sind, andere zu akzeptieren, die in der Lage sind, Menschen zu verstehen, die eine andere Sprache sprechen (reale natürliche Sprachen wie Afrikaans und Zulu, aber auch ideologische Sprachen, seien sie sozialistisch, kapitalistisch, nationalistisch oder liberal). Wir haben die Aufgabe, mit ihnen zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten.“[2]
Über Südafrika hinaus stellt sich die Frage, wie wir nach Babel oder genauer gesagt nach der biblischen Geschichte von der „Sprachverwirrung“ mit der sprachlichen, ethnischen und kulturellen Vielfalt auf der Welt umgehen. Hier zeigt sich noch einmal, wie verheißungsvoll die Erkenntnis ist, dass es in der Geschichte vom Turm um die Wiederherstellung von Vielfalt durch Gott geht und nicht um eine göttliche Strafe der Trennung in Sprachgruppen und Völker. Die „Sprachverwirrung“ wird dann zu einer Geschichte der Hoffnung auf ein Miteinanderleben von unterschiedlichsten Menschen statt der Trennung im Stil der Apartheid.
Auf diesem Hintergrund erscheint es als problematisch, wenn von der antiken Großstadt Babylon in der Zeit von König Nebukadnezar ll. in Predigten negativ von der Vermischung von Völkern gesprochen wird. Dass Menschen unterschiedlicher Völker und Kulturen in dieser Stadt zusammenlebten, hat nicht zum Untergang der Stadt geführt, sondern das Leben in dieser Stadt bereichert, was ganz gewiss Konflikte nicht ausgeschlossen hat. Eine ideale multikulturelle Stadt war Babylon mit Sicherheit nicht, aber trotzdem wurde zumindest in Ansätzen vorgelebt, dass Menschen aus unterschiedlichen Kulturen in einem Gemeinwesen friedlich und gedeihlich zusammenleben können. Wenn wir Frankfurt, Berlin und Hamburg heute als Städte mit einer „Völkervermischung“ bezeichnen sollten, würden wir uns wohl berechtigterweise den Vorwurf einhandeln, fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren. Deshalb sollten wir die kulturelle und ethnische Vielfalt des antiken Babylons nicht auf diese Weise diffamieren.
Die Stadt der Sünde und ihr Stufentempel
Der erste bedeutende christliche Theologe, der sich mit der Deutung der Geschichte Babylons und seines Turms beschäftigte, war vermutlich Augustinus, der in seinem Buch „Der Gottesstaat“ das Bild einer verderbten Stadt zeichnete, der er die Vision einer Stadt Gottes gegenüberstellte.
Die Stadt der Sünde, Babylon, stand für Augustinus in der Tradition von Kain, während die Stadt Gottes in Abel ihren ersten Repräsentanten fand. Hintergrund von Augustinus umfangreichem Werk über den Gottesstaat war sein Versuch, den Schock großer Teile der Christenheit über die Eroberung Roms durch die heidnischen Westgoten im Jahre 410 theologisch zu verarbeiten. Die Kirche stand dem römischen Herrschaftssystem seit Kaiser Konstantin nahe, war also von der Katastrophe mit betroffen. Aber Augustinus entfaltete die theologische Position, dass das Christentum auf eine an den göttlichen Geboten ausgerichtete Stadt hofft und sich nicht am realen Rom oder Babylon ausrichtet. Das sollte nach Auffassung des antiken Theologen zwar nicht dazu führen, sich von der irdischen Stadt abzuwenden. Aber bei allem Bemühen um Verbesserungen und die Bewahrung des stets gefährdeten Friedens in dieser sündigen Stadt blieb aus der Perspektive von Augustinus das wichtigste Ziel, auf das himmlische Jerusalem hin zu glauben und zu leben.
Durch ein solches Leben, war Augustinus überzeugt, ließe sich schon mitten in dieser Welt etwas von der ewigen Stadt Gottes sichtbar machen. Das irdische Babylon hingegen würde von Gott bestraft werden und untergehen. Mathijs Lamberigts, Theologieprofessor an der Katholischen Universität Leuven in Belgien, schreibt in einem Aufsatz über „Jerusalem und Babylon“ zu den Überlegungen von Augustinus: „Die irdische Stadt ist die Stadt der Prüfung, die Stadt des Bösen. Der irdischen Stadt geht es also um nichts anderes als sich selbst, um menschliche Herrschsucht, um Macht, die Menschen unterwirft. Die Stadt der Menschen ist die Stadt des Mordens, der Unordnung, kurzum die Stadt Kains.“[3] Aus der Perspektive von Augustinus war die Eroberung Roms durch die Westgoten kein Grund zu einer tief gehenden religiösen Erschütterung. Das irdische Rom war für Augustinus keine „ewige Stadt“.
In seinen Ausführungen über die irdische und über die himmlische Stadt zeigt Augustinus kein Interesse am historischen Babylon, von dem er auch kaum etwas wusste, sondern er zeichnete auf der Grundlage der negativen biblischen Darstellungen dieser Stadt ein negatives Bild von Babylon. Die so beschriebene Stadt war für Augustinus das Gegenbild zur Stadt Gottes, auf die die Christenheit sich zubewegte. Das negative Bild vom realen Babylon in der Christenheit wurde durch Augustinus Bücher und Predigten natürlich trotzdem gefestigt.
Martin Luther: Das Papsttum als „babylonisches Reich“
Wie nachhaltig das auf die Bibel zurückgehende negative Bild von Babylon in Europa wirkte, zeigt sich zum Beispiel an einer Streitschrift von Martin Luther aus dem Jahre 1520. Sie entstand in einer Zeit der Eskalation des Konflikts Luthers mit der Führung der katholischen Kirche, in deren Verlauf er das päpstliche Rom mit kräftigen Worten attackierte.
Er gab der Streitschrift den Titel „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ und verglich den Vatikan mit dem Sündenpfuhl Babylon. Es ging, anders als man bei dem Titel vermuten könnte, Luther in dieser Schrift aber nicht in erster Linie um eine Abrechnung mit den Missständen in der Kirche oder eine grundlegende Reform von Papsttum und römischer Kurie, auch wenn sie pointiert vorkommen. So verkündete Martin Luther, er hätte zwar schon früher den göttlichen Ursprung des Papsttums geleugnet, aber doch zugegeben, dass es aus dem menschlichen Recht stammen würde: „Als ich aber die überaus subtilen Subtilitäten dieser vornehmen Stutzer sah und hörte, mit denen sie ihren Abgott künstlich aufrichten … weiß ich jetzt und bin gewiss, dass das Papsttum das babylonische Reich und die Herrschaft Nimrods, des gewaltigen Jägers ist.“[4]
Den theologischen Kern der Schrift bildet die kritische Auseinandersetzung mit der katholischen Lehre von den sieben Sakramenten und Luthers Beschränkung der Zahl der Sakramente auf drei: Taufe, Buße und Abendmahl. Dieses Verständnis der Sakramente trug ganz wesentlich zum Bruch zwischen Katholiken und Lutheranern bei. Die Kritik Luthers an kirchlichen Missständen kam in Rom schon nicht gut an, aber der Konflikt musste mit dem Angriff auf die Sakramentenlehre eskalieren. Luther wurde kurz darauf vom Vatikan exkommuniziert.
Menschlicher Größenwahn in Babylon und anderswo
Es war menschlicher Größenwahn. Darin waren sich christliche Künstler und Schriftsteller viele Jahrhunderte lang einig, wenn sie die biblische Geschichte vom Turmbau zum Thema ihrer Werke machten. Zwar kann man den beeindruckenden Turm auch als Ausdruck der architektonischen Leistungen einer der ersten Stadtkulturen der Welt verstehen und vor allem als Ausdruck tiefen Glaubens seiner Bewohner an den Gott Marduk, der ihrer Stadt Schutz und Wohlstand gewährte. Aber das war nicht die Perspektive der Verfasser der biblischen Geschichte und auch nicht diejenige späterer christlicher Künstler und Schriftsteller. Es ist auffällig, dass die Pyramiden der Pharaonen höchst selten derart negativ als Größenwahn betrachtet und dargestellt worden sind wie der Turm in Babel, obwohl zum Beispiel die Cheopspyramide ursprünglich etwa 50 Meter höher war als der babylonische Turm. Auch der Petersdom in Rom fällt durch seine beeindruckenden Dimensionen auf und ist mehr als 130 Meter hoch. Gigantische religiöse Bauwerke waren also durchaus kein Alleinstellungsmerkmal der Babylonier.
Nachdenklich kann auch machen, dass religiöse Stätten anderer Glaubensgemeinschaften wie zum Beispiel der Tempel von Borobudur auf Java nicht annähernd so heftig als „heidnische“ Bauwerke herabgewürdigt werden wie der Turm in Babel. Der schon zitierte Werner Keller schreibt in seinem Buch „Und die Bibel hat doch recht“ über den Turm, er „stand im Dienste eines dunklen Kultes“.[5] Der Verfasser bedient sich eines durchschaubaren Tricks, um die Religion der Babylonier zur Zeit des jüdischen Exils zu diskreditieren. Er zitiert den antiken Historiker Herodot, der beschreibt, dass sich jede Frau angeblich einmal im Leben in einem Tempel einem fremden Mann hingeben musste.[6]
In der Altorientalistik besteht Einigkeit, dass diese Darstellung von Herodot absolut nichts mit den tatsächlichen religiösen Traditionen in Babylon zu tun hat. Der Wiener Professor Michael Jursa, einer der führenden Altorientalisten der Gegenwart, schreibt über diese und ähnliche Behauptungen des griechischen Historikers, sie „dürften entweder schlicht und einfach erfunden oder im besten Fall von Herodots Informanten (er selbst war nie in Babylon) grob missverstanden worden sein“.[7] Die Altorientalistin Eva Cancik-Kirschbaum bekräftigt, dass die Tempelprostitution „ein Phantasieprodukt der späteren griechischen Geschichtsschreiber“ war.[8] Es wäre viel für die Redlichkeit der Argumentation gewonnen, wenn solche unhaltbaren Behauptungen hinfort in Predigten und kirchlichen Vorträgen über Babylon vermieden würden.
Der Turm von Pieter Bruegel
Das bekannteste Gemälde vom unvollendeten Turm von Babel hat Pieter Bruegel der Ältere gemalt. Bruegel wurde zwischen 1525 und 1530 geboren und ließ sich als junger Maler in Antwerpen nieder. Die Hafenstadt war damals ein Zentrum der boomenden globalen Wirtschaft. Der Reichtum von Antwerpen zog auch viele Maler an, die unter den Kaufleuten zahlungskräftige Auftraggeber suchten und fanden. Vermutlich veranlassten eine Handelskrise und die damit einhergehende Auftragsflaute für Künstler 1552 den jungen Pieter Bruegel, für zwei Jahre nach Italien zu ziehen. Bei der Rückkehr nach Antwerpen fühlte er sich angesichts der zahlreichen Menschen aus vielen Kulturen und mit vielen Sprachen in der wieder boomenden Handelsmetropole an das biblische Babylon erinnert. Mehrmals machte er danach den Turm von Babel zum Motiv von Gemälden.
Heute immer wieder reproduziert wird das Gemälde mit dem Titel „Großer Turmbau zu Babel“ aus dem Jahre 1563, das sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet. Unübersehbar hat der Künstler das Geschehen der biblischen Geschichte in seine flämische Heimat versetzt. Erkennbar ist, wie seine Erinnerung an das Kolosseum in Rom den Maler beeinflusst hat, als er die Säulen und Arkaden seines Turms malte. Mit der für ihn typischen großen Liebe zum Detail stellte Pieter Bruegel die verschiedenen Bauhandwerke mit den Werkzeugen und Hilfsmitteln dar, wie sie zu seiner Zeit in Antwerpen verwendet wurden, zum Beispiel Tretkräne.
Der Turm auf dem Gemälde ist nicht nur unvollendet, sondern es deutet sich bereits an, dass er nie vollendet werden wird. Er befindet sich trotz eines Felsens als Fundament in einer Schieflage, innerer Ziegel- und äußerer Kalksteinbau bilden keine architektonische Einheit und die einzelnen Bauarbeiten scheinen schlecht koordiniert zu sein. Große Teile der Stadt werden vom Turm „in den Schatten gestellt“, also beschattet.
Im Vordergrund des Bildes lässt sich König Nimrod, erkennbar als orientalischer Herrscher, den Baufortschritt erklären. Dass die Steinmetze vor dem König einen Kotau machen, spiegelt wider, dass für Pieter Bruegel und viele seiner Zeitgenossen der orientalische Despot, vor dem sich alle auf den Boden werfen, einen festen Platz in der Vorstellungswelt vom „Morgenland“ hatte. Dass sich hier kein niederländischer Herrscher die Baufortschritte erläutern lässt, scheint zunächst aus der Bildkomposition mit den vielen flandrischen Motiven heraus zu fallen, aber es passt hinein in ein Weltbild, in dem Despoten häufig die Gestalt von Herrschern ferner Länder hatten.
Was Pieter Bruegel nicht ahnen konnte, war, dass sein Gemälde mehr als vier Jahrhunderte später einen Platz in den Verschwörungstheorien einer europäisch-amerikanischen christlichen Gruppe bekommen sollte. Die Gruppe „European-American Evangelistic Crusades“, die ein „fundamentales Christentum“ propagiert, meint Ähnlichkeiten zwischen Bruegels Turm und dem 1999 fertig gestellten Gebäude des Europäischen Parlaments in Straßburg erkannt zu haben. Und – für die Vorstellungen dieser Gruppe – folgerichtig wird in einem ihrer Internettexte ein Bogen zwischen beiden Gebäuden gespannt: „Die Überlieferung sagt uns, dass der Turmbau zu Babel nie vollendet wurde. Insofern führt das EU-Parlament im Grunde das unvollendete Werk von Nimrod, dem berüchtigten Tyrannen, fort, der den Turm baute, um Gott die Stirn zu bieten.“[9]
Es folgen Angriffe auf die Europäische Union als „Superstaat“, und in dem Text heißt es schließlich: „Das Europa-Parlament ist das erste Gebäude, das einen Superstaat repräsentiert und durch seine intensive Symbolik den Hass auf Religion, Pläne für eine Neue Weltordnung und die subtile Befürwortung von Tyrannei offenbart.“ Babylon und sein Turm scheinen auch für noch so verschrobene (und trotzdem vielleicht nicht ungefährliche) Verschwörungstheorien Anknüpfungspunkte zu bieten.
„Metropolis“ – ein Leben zwischen Turm und Unterwelt
Durch den berühmten Film „Metropolis“ von Fritz Lang erlangte der babylonische Turm als „Turm der Macht“ für immer einen Platz in der Filmgeschichte. In dem 1925 und 1926 in Berlin gedrehten Stummfilm ist die Großstadt Metropolis in eine luxuriöse Oberstadt und eine triste unterirdische Arbeiterstadt aufgeteilt. Während oben die Wohlhabenden ihr Leben genießen, schuften unten die Armen an gewaltigen Maschinen und fristen ein trostloses Leben. Regiert und überwacht wird die gesamte Stadt vom „Neuen Turm von Babel“ aus. Der Sohn des despotischen Herrschers verliebt sich bei einer kurzen Begegnung in die junge Frau Maria aus der Arbeiterstadt und steigt in ihre Welt hinab, um sie zu finden. Damit nimmt eine komplexe Mischung von Liebes- und Widerstandsgeschichten ihren Anfang. Maria tritt als Prophetin eines friedlichen Widerstandes gegen die herrschenden Verhältnisse auf.
Aber eine „falsche Maria“, ein Maschinenmensch aus dem Labor eines Erfinders in der Oberstadt, stachelt die Arbeiterinnen und Arbeiter zu einem sinnlosen Aufstand und zur Zerstörung der Maschinen auf. Auch die gewaltigen Pumpen, die das Grundwasser aus der unterirdischen Stadt abpumpen, werden zerschlagen, was zur Überflutung des Lebensraums der Armen führt. Im dramatischen Schlussteil des Films flüchten die Armen in die Oberstadt, wo es zu Auseinandersetzungen kommt, an deren Höhepunkt Maria sich auf die Spitze des Turms rettet und eine große Glocke läutet. Ihre Initiative ermöglicht schließlich zu Füßen des Turmes eine große Versöhnung.
Am Ende des Films steht diese Botschaft groß auf der Leinwand: „Mittler zwischen Hirn und Händen muss das Herz sein.“ Gerade diese einfach klingende Botschaft der Brüderlichkeit aller schätzte der Regisseur Fritz Lang am Drehbuch der Autorin Thea von Harbou nicht, weil die soziale Frage nach seiner Auffassung nicht durch die Einigung einiger Akteure aus Ober- und Unterstadt gelöst werden konnte. Deshalb hatte er lange Zeit ein ambivalentes Verhältnis zu seinem bedeutendsten Film. Dass die Drehbuchautorin später der NSDAP beitrat, bestärkte jene, die in „Metropolis“ einen faschistischen Film sahen, während andere – so die Zensoren des faschistischen Italien – ihn für ein kommunistisches Machwerk hielten.
In den Film „Metropolis“ wurden zahlreiche religiöse Motive aufgenommen, darunter die Marienverehrung in den Katakomben unterhalb der Unterstadt sowie die gotische Kathedrale und die paradiesischen Gärten in der Oberstadt. In einer Schlüsselszene erzählt Maria den andächtig lauschenden Arbeitern die Legende vom Turmbau von Babel als Gleichnis für ihre eigene Situation, verbunden mit der Ankündigung einer friedlichen Veränderung der Verhältnisse. Der Turm, der zu dieser Szene im Hintergrund eingeblendet wird, erinnert an Bruegels Gemälde. Die „falsche Maria“ trägt Züge der „Hure Babylon“ und stürzt die Menschen ins Unglück. Unter ihrem Einfluss steuert die Stadt Metropolis auf eine Apokalypse zu, bevor sie von der wahren Maria und dem Sohn des Herrschers (dem von Maria angekündigten „Mittler“ oder „Erlöser“) gerettet wird.
„Metropolis“ ist mit mehr als 25.000 Komparsen, der aufwendigen Ausstattung, den in mühsamster Kleinarbeit hergestellten Trickszenen, einem für damalige Verhältnisse gewaltigen Budget und einem fast despotisch herrschenden Regisseur als eines der monumentalsten Stummfilme in die Kulturgeschichte eingegangen. Es war ein mit dem Turmbau in Babel vergleichbares gewaltiges Filmprojekt. „Metropolis“ gilt heute als eines der bedeutendsten Werke expressionistischer Filmkunst und bleibt als beeindruckende Geschichte von menschlichen Allmachtsvorstellungen in Erinnerung, welche immer wieder unter der Last sozialer Gegensätze und Konflikte einzustürzen drohen.
Ein Gedicht vom Turm als Kritik am Stalinismus
Zu den spannendsten literarischen Arbeiten zum Tum-von-Babylon-Thema gehört ein Gedicht von Johannes Robert Becher, dem Verfasser des Textes der DDR-National-hymne („Auferstanden aus Ruinen“). Er war ein bekannter Schriftsteller des zweiten deutschen Staates. Das Gedicht spiegelt wider, dass auch ihm in den 1950er Jahren angesichts des stalinistischen Terrors und der Unterdrückung im eigenen Land offenkundig Zweifel an diesem Weg zum Sozialismus kamen. Verdeckt, aber doch erkennbar, hat er seine Kritik und Zweifel in dem Gedicht „Turm von Babel“ zum Ausdruck gebracht. Der vorletzte Vers lautet:
Gerüchte aber schwirren,
Die Wahrheit wird verschwiegen.
Die Herzen sich verwirren –
So hoch sind wir gestiegen!
Unverkennbar wird hier die Stimmung der Bevölkerung angesichts von Denunziation und verzerrter Medienberichterstattung thematisiert, ebenso die Kluft zwischen der Verunsicherung vieler Menschen auf der einen und die Fortschrittspropaganda auf der anderen Seite. Im Exil in Moskau hatte Johannes R. Becher in den 1930er und Anfang der 1940er Jahren wie viele politische prominente Flüchtlinge aus Deutschland im berüchtigten Hotel „Lux“ gelebt, wo die Geheimpolizei frühmorgens an Türen klopfte und die Bewohner daraufhin für immer verschwanden. Auch in diesem Hotel „schwirrten Gerüchte“, und es konnte überlebenswichtig sein, die Wahrheit zu verschweigen. Diejenigen, die Walter Ulbricht widersprachen, standen offenbar besonders rasch auf den Todeslisten.
Johannes R. Becher überlebte das „Lux“-Hotel und baute an dem Turm mit, dessen Einsturz er bald darauf vorhersagte. Nach seinen Vorstellungen hätte in der DDR ein demokratischer Sozialismus aufgebaut werden sollen, wo auch die „Rechte der Andersdenkenden“ gewahrt bleiben sollten. Mit großer Energie strebte er gleichzeitig an, die kulturelle Einheit Deutschlands zu wahren und gründete den „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“. Mit beiden Zielsetzungen scheiterte der Schriftsteller und Kulturpolitiker. Die Führung der DDR unter Walter Ulbricht orientierte sich am autoritären, oft brutalen Führungsstil von Josef Stalin, und das selbst noch, als dieser gestorben war.
Johannes R. Becher hoffte auf eine aktive Rolle der Schriftsteller bei einer demokratischen Erneuerung Deutschlands, und es gelang ihm, Literaten aus Ost und West vom 4. bis 8. Oktober 1947 zu einem „Parlament des Geistes“ im Deutschen Theater in Ostberlin zu versammeln, darunter zum Beispiel auch den aus dem Exil zurückgekehrten Alfred Döblin. Ost- und westdeutsche Schriftsteller waren sichtlich bemüht, Brücken zu bauen und bestehende Brücken über die ideologischen Grenzen hinweg zu bewahren. Sie vermieden deshalb zunächst verbale Konfrontationen. Nicht so einige Gäste aus den USA und der Sowjetunion. Der amerikanische Journalist Melvin J. Lasky nutzte sein Referat, um die sowjetische Kulturpolitik und Zensur heftig zu attackieren, was russische Schriftsteller mit massiven Gegenangriffen beantworteten.
Johannes R. Becher war trotzdem bemüht, bei dem Treffen die Gemeinsamkeit der deutschen Schriftsteller zu verteidigen. Der „Spiegel“ attestierte ihm in einem Bericht über das Treffen: „Mit einem weisen, friedlichen Referat versuchte Kulturbundpräsident Johannes R. Becher, die Risse des Kongresses zu kitten.“[10] Im Nachhinein mag man diagnostizieren, dass Bechers Bemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, aber immerhin hat er versucht, den Weg der Intellektuellen in die ideologischen Schützengräben zu verhindern.
Die DDR-Führung ging nach den Erfahrungen des Schriftstellerkongresses 1947 um so entschlossener daran, den eigenen Turm zu errichten, der immer mehr zu einem Wehrturm wurde. Johannes R. Becher verteidigte unverdrossen weiterhin die Einheit der deutschen Kultur und wirkte doch gleichzeitig aktiv an der Festigung einer mit harter Hand regierten DDR mit. Er stieg 1954 zum Kulturminister auf, obwohl seine Auffassungen führenden Genossen zu liberal und zu gesamtdeutsch waren. Regimekritiker warfen ihm hingegen Opportunismus, ja „Fundamentalopportunismus“ vor, weil er immer wieder Propaganda für das Regime und dessen Chef Walter Ulbricht und selbst für Josef Stalin machte.
In seinen politischen Ämtern blieb dem Schriftsteller nicht verborgen, wie groß schon im ersten Jahrzehnt der DDR-Geschichte die Kluft zwischen Wahrheit und Propaganda geworden war. Im letzten Vers des Babel-Gedichtes schrieb er deshalb:
Das Wort wird zur Vokabel,
Um sinnlos zu verhallen.
Es ist der Turm von Babel
Im Sturz zu nichts verfallen.
Angesichts sinn- und wirkungsloser Parolen der Partei ahnte der Dichter, dass das System – wie der biblische Turm von Babel – einstürzen könnte. Johannes R. Bechers ging bis zu seinem Tod am 11. Oktober 1958 auf immer größere Distanz zur SED-Führung, ohne aus der Partei auszutreten. Politisch war er längst entmachtet und nur noch pro forma Kulturminister. Der Lebensweg Bechers war voller Widersprüche, Kehrtwendungen und Neuanfängen. Auch psychische Probleme und mehrere Versuche, sich selbst das Leben zu nehmen, müssen erwähnt werden. Der Becher-Kenner Carsten Gansel schreibt im Vorwort eines Buches mit Texten des Dichters: „Becher war ein jubelnd Hoffender, aber auch ein an sich zweifelnder, suchender, verunsicherter, depressiver und verletzlicher Mensch.“[11]
Sein Babelgedicht wurde vom Regime als „Menetekel“ erkannt und weitgehend totgeschwiegen, und seine Nationalhymne seit Anfang der 1970er Jahren nicht mehr gesungen, weil die Worte „Deutschland, einig Vaterland“ nicht zur Abgrenzungspolitik der SED passten. Die Hymne wurde von nun an nur noch instrumental aufgeführt – obwohl Johannes R. Becher für den Text zunächst mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet worden war. 1989 wurde der Slogan „Deutschland, einig Vaterland“ wieder populär bei denen, die den Turm zum Einsturz brachten.
Und „Der Turm“ von Uwe Tellkamp, seine Abrechnung mit dem DDR-Unrechtsregime, hat dieser Roman auch einen Bezug zu dem berühmten Turm aus der Herrschaftszeit von König Nebukadnezar? Dazu der Autor: „… wie in der Geschichte vom Turm zu Babel geht es in dem Roman immer wieder um das Miteinanderreden. Immer wieder kommen Telefone vor, die mal funktionieren und mal nicht, immer wieder werden Briefe geschrieben, immer wieder kommt es zu Unterhaltungen, reden Leute miteinander oder aneinander vorbei. Zum Schluss geht das alles in einer Art Mahlstrom unter. Die Sprache wird zum Steinbruch, zum zusammenbrechenden Turm.“[12]
Angesichts der vielen zeitgenössischen Texte zum berühmten Turm hat der bekannte Kulturredakteur Hanjo Kesting in einem Referat festgestellt: „So universal und bedeutungsmächtig und trotz vielfältigem Gebrauch unzerstörbar wie der Turm von Babel ragen die biblischen Geschichten und Bilder bis in unsere Gegenwart.“[13]
© Steinmann
Verlag, Rosengarten
Autor: Frank Kürschner-Pelkmann
[1] G.D. Cloete und D.J. Smit: “Its Name was Called Babel …”, in: Journal of Theology for Southern Africa, März 1994, S. 83.
[3] Mathijs Lambertigts: Jerusalem und Babylon, Die Lehre des Augustinus von den zwei Städten in ihrem Kontext, in: Concilium, 4/2011, S. 541.