Die jüdischen Antworten auf eine globale Macht und einen globalen Markt

 

Die politischen Katastrophen bestärkten jene Juden in ihren Überzeugungen, die das nahe Ende der Welt und die Errichtung der endgültigen Herrschaft Gottes herbeigekommen sahen. Nach diesen apokalyptischen Vorstellungen, die damals im jüdischen Volk weit verbreitet waren, sollte die vom Bösen regierte Welt durch die künftige von Gott beherrschte Welt ersetzt werden. Jetzt war die Treue zu Gott in der Erwartung seines bevorstehenden Sieges mehr denn je gefragt. Bewegungen wie die von Johannes dem Täufer und Jesus standen in dieser Tradition, entwickelten sie aber weiter. Hier sei bereits angemerkt, dass die Vorstellung, dass die jetzige Welt eine Welt des Bösen sei, auch christliche Vorstellungen stark beeinflusst hat und bis heute die Theologie vieler Kirchen prägt, mit zum Teil fragwürdigen Konsequenzen in der Frage des Engagements zur Verbesserung des Lebens in dieser Welt.

 

Radikale Vorstellungen vertraten die Zeloten (die „Eiferer“). Angesichts der Gewalttätigkeit der politisch und wirtschaftlich Mächtigen riefen sie zur Erneuerung des religiösen Lebens auf, und aus dem Glauben heraus waren sie zum bewaffneten Widerstand bereit. Mit der Jesus-Bewegung verband sie ein konsequentes, ja radikales Verständnis des Glaubens an den befreienden Gott und die Naherwartung des Reiches Gottes, was sie trennte, waren die unterschiedlichen Vorstellungen der Umsetzung dieser religiösen Einsichten. Dies zeigt sich besonders deutlich an Jesu Gebot der Feindesliebe.

 

Dass die Zeloten nach Auffassung des römischen Geschichtsschreibers Räuber waren, kann nicht überraschen. Karl Jaroš stellt hingegen in seinem Jesus-Buch fest: „Bei diesen Leuten handelt es sich nicht einfach um Straßenräuber, sondern um Guerillakämpfer, Partisanen gegen den König und letztlich gegen Rom ... Ähnlich damaligen Straßenräubern waren sie ständig auf der Flucht, mussten sich verstecken, konnten praktisch nur aus dem Hinterhalt zuschlagen. Dabei waren sie auf die Hilfe des Volkes angewiesen. Es mag sicher sein, dass sie diese Hilfe bisweilen auch herbeizwangen. Trotzdem waren sie beim Volk als Symbol eines ungebrochenen nationalen Stolzes nicht unbeliebt.“[1]

 

Die Zeloten sahen keinen anderen Weg als den der Gewalt, um das Unrecht zu beenden, das die globale Macht und ihre lokalen Vertreter ihnen antaten. Ihr gewaltsamer Widerstand war eine Anklage gegen ein Unrechtssystem. Jesus ging einen anderen Weg, aber seine Anhängerschaft kam offenbar auch aus Kreisen, die den Zeloten nahe standen, wird doch bei den Berufungen der Jünger über Simon gesagt, „genannt der Zelot“ (Lukas 6,15).

 

Eine zweite jüdische Gruppe, die eine Antwort auf die katastrophalen Folgen der antiken Globalisierung suchte, waren die Pharisäer, die im Neuen Testament häufig negativ dargestellt werden, tatsächlich aber eine Reformbewegung innerhalb des Judentums waren, die durchaus positive Ziele und auf vielen Gebieten auch eine positive Wirkung hatte. Es war eine Laienbewegung, die sich vermutlich vornehmlich aus Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzte und dafür eintrat, nach dem Gesetz zu leben und die überlieferten Reinheitsvorschriften einzuhalten. Sie waren bereit, über eine zeitgemäße Auslegung der Tora zu debattieren[2] und taten dies zum Beispiel mit dem Wanderprediger Jesus. Anders als zum Beispiel die Sekte in Qumran waren die Pharisäer aber bereit, lebensrettende Maßnahmen auch am Sabbat zuzulassen.

 

Die Pharisäer bildeten kleine Gemeinschaften innerhalb der jüdischen Gemeinden, waren aber bestrebt, die ganze jüdische Gesellschaft für eine Gesetzestreue zu gewinnen. Es handelte sich also um eine Erneuerungsbewegung, die sich nicht sektiererisch abkapselte wie die Gruppe in Qumran, sondern die mitten „im Leben stand“ und es umgestalten wollte. Sie waren am Heil der einzelnen Menschen interessiert und glaubten an eine Auferstehung der Toten und ein göttliches Gericht, vor dem sich jeder einzelne Mensch verantworten musste. Dies waren Vorstellungen, die später auch die Jesus-Bewegung vertrat, und gerade diese Nähe der Vorstellungen bei grundlegenden Unterschieden in anderen Fragen war es wohl, die zu den heftigen Konflikten beitrugen, die sich in der negativen Beschreibung der Pharisäer in den Evangelien niederschlägt. Die Antwort der Pharisäer auf den umfassenden Herrschaftsanspruch des Römischen Reiches bestand darin, auf das individuelle Heil zu hoffen, die Weisungen Gottes zu befolgen und auch die Wirtschaftsbeziehungen möglichst mit anderen Pharisäern abzuwickeln.[3]

 

Waren die Pharisäer eine Laienbewegung, so wurde die Gruppe der Sadduzäer von den Priesterfamilien und anderen Angehörigen der Oberschicht bestimmt, für die die Institutionen und vor allem der Tempel von Jerusalem im Zentrum standen. Die Bewahrung dieser Institutionen auch in Zeiten des Umbruchs war für sie von zentraler Bedeutung. In Fragen des Gesetzes vertraten die Sadduzäer eine – so würden wir heute sagen – etwas liberalere Position als die Pharisäer. Ihnen ging es um eine zeitgemäße Glaubenspraxis, zu der durchaus auch die Übernahme hellenistischer Vorstellungen gehören konnte, wenn diese der Tora nicht widersprachen. Sie verfochten aber entgegen den hellenistischen religiösen Vorstellungen einen strengen Monotheismus, in dem auch für gute und böse Geister kein Platz blieb.

 

Als Vertreter der Priesterschaft in Jerusalem waren sie zur Zusammenarbeit mit den politisch Mächtigen gezwungen, wollten sie den Tempel und die Religionsausübung im Tempel bewahren. Das brachte sie, so zeigte sich am Konflikt um Jesus, immer wieder in schwierige Situationen. Am Ende waren sie es aber dann, die den Volksaufstand gegen die Römer mit auslösten, weil sie beschlossen, keine Opfer von Nichtjuden für den Tempel mehr anzunehmen, also auch nicht eine Unterstützung, die der römische Kaiser für den Tempel sandte. Das war praktisch eine Kriegserklärung an Rom.[4]

 

Auch für religiöse Menschen, die um der Glaubensausübung willen mit den politisch Mächtigen zusammenarbeiten, gibt es einen Punkt, von dem an sie sich dem Widerstand anschließen. Das ist nicht nur eine antike Erfahrung, sondern zeigt sich auch heute im Verhältnis von globalen Mächten zu religiösen Gruppen. Der Versuch, islamische Gruppen für Großmachtinteressen zu instrumentalisieren, ist nicht nur in Afghanistan gescheitert.

 

Eine weitere religiöse Bewegung, die auf den politischen und religiösen Angriff der Weltmacht Rom nach einer religiösen Antwort suchten, waren die Essener. Ihre Wurzeln reichen eventuell bis ins 4. vorchristliche Jahrhundert zurück, mindestens aber bis in die Zeit vor dem Makkabäeraufstand, den sie zunächst unterstützten. Letztendlich aber standen für sie religiöse und nicht politische Ziele im Mittelpunkt. Die Essener waren eine tiefreligiöse Bewegung, die ehelos und in persönlicher Armut lebten. Sie brachten ihren Besitz in Gütergemeinschaften ein, und in diesen religiösen Gemeinschaften wurde zum Beispiel der Sabbat absolut eingehalten, und es wurde großes Gewicht auf das Studium der heiligen Schriften gelegt. Als die Essener zur Auffassung gelangten, das heidnische Unrechtssystem der Römer sei eine Bedrohung ihres Glaubenslebens, schlossen sie sich dem bewaffneten Widerstand an. Im Volksaufstand gegen die Römer gehörten sie zu den unerschrockensten Kämpfern, nicht zuletzt deshalb, weil sie an die Unsterblichkeit der Seele glaubten.

 

Kann man die Theologie der Essener als fundamentalistische Antwort auf die damalige Globalisierung bezeichnen? Vielleicht wäre das eine zu gewagte Behauptung. Sicher aber ist, dass sie angesichts der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Katastrophen ihrer Zeit und des Ansturms fremder religiöser und kultureller Vorstellungen zu den Wurzeln des Glaubens zurückkehren wollten. Die heute berühmteste Gruppe der Essener waren die Leute von Qumran, deren Lehre und Leben heute immer neue Rätsel aufgibt und sogar abenteuerliche Theorien entstehen lässt.[5] All diese Gruppen hatten also ganz unterschiedliche Antworten auf die gewaltigen politischen, sozialen und religiösen Umbrüche, die mit der Eingliederung Judäas in das römische Weltreich verbunden waren.

 

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 



[1] Karl Jaroš: Jesus von Nazareth, Mainz 2000, S. 74

 

[2] Vgl. Karl Jaroš: Jesus von Nazareth, a. a. O., S. 77 sowie Gerd Theißen und Annette Merz: Der historische Jesus, Göttingen 2001, S. 210ff.

 

[3] Walter Klaiber: Geschichte Israels in zwischen- und neutestamentlicher Zeit von Alexander dem Großen bis Bar Kochba, in: Siegfried Herrmann/Walter Klaiber: Die Geschichte Israels, Stuttgart 1996, S. 156f.

 

[4] Vgl. Karl Jaroš: Jesus von Nazareth, a. a. O., S. 69

 

[5] Im „Bibel-Report“ der Deutschen Bibelgesellschaft ist immer wieder versucht worden, den unseriösen Spekulationen mit sachlichen Informationen entgegenzutreten (vgl. die Ausgaben 3/1997, 1/2000 und 3/2000). Weitere Informationen findet man zum Beispiel in: Hubertus Halbfas: Die Bibel, Düsseldorf 2001, S. 345ff