Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Der langsame Niedergang einer Stadt

 

Babylon verlor unter griechischer Herrschaft immer mehr an politischer Bedeutung. Die Stadt wurde zwar zunächst zur Residenzstadt des griechischen Königs Seleukos I., der sich aber eine neue Hauptstadt bauen ließ, der er den Namen Seleukeia gab. Große Teile der Bevölkerung von Babylon wurden dorthin umgesiedelt. Die Stadt am Euphrat blieb zwar das religiöse Zentrum des Königreichs, aber der langsame Niedergang war nicht zu übersehen. Das einzige größere Bauwerk aus der griechischen Zeit, von dem wir heute noch wissen, war ein Freilichttheater. Auch einige Reste griechischer Häuser und Hausverzierungen sind erhalten geblieben.

 

140 v. Chr. änderten sich die Herrschaftsverhältnisse in Babylon ein weiteres Mal, und die Parther aus dem heutigen Iran traten die Nachfolge der Seleukiden an. Das parthische Reich war vom 3. Jh. v. Chr. an so stark gewachsen, dass es schließlich vom heutigen Syrien bis nach Indien reichte. Annähernd 500 Jahre lang beherrschten die Parther ein Weltreich, das auch ökonomisch eine herausragende Bedeutung besaß und den Handel zwischen Europa und Asien (bis nach China) beherrschte. Wie vorher Alexander der Große wurden die Parther nun zu den wichtigsten Akteuren der antiken Globalisierung.

 

Die Parther mussten sich vom 1. Jh. v. Chr. an gegen Angriffe des Römischen Reiches zur Wehr setzen. Dabei konnten sie die römischen Legionen immer wieder schlagen und ihr eigenes Herrschaftsgebiet verteidigen. Für die Römer waren die Parther gerade deshalb „Barbaren“, und dieses Bild beherrscht bis heute die europäische Wahrnehmung dieses Volkes. Leider ist unser heutiges Wissen über die Parther sehr begrenzt – und das gilt eben auch für ihre Herrschaft in Babylon.

 

Über die letzten Jahrhunderte der Existenz von Babylon wissen wir recht wenig. Dass die Stadt keine prägende Kraft mehr besaß, lässt sich daran ablesen, dass der babylonischen Sprache kaum noch Bedeutung zukam. Seit Alexander dem Großen war das Griechische die Verwaltungssprache, und Aramäisch setzte sich immer stärker als Alltagssprache durch. Damit einher ging, dass der Stadtgott Marduk als Gott Bel nur noch eine lokale Bedeutung behielt. Die Astronomischen Tagebücher wurden zwar noch bis ins 1. Jh. n. Chr. fortgeführt, fanden aber keine große Beachtung mehr. Die Zahl der Stadtbewohner nahm stetig ab und war nach der Zeitenwende vermutlich auf einige Tausend gesunken. Zwar standen die Stadtmauern noch, aber es fehlte die militärische Stärke, um sie zu verteidigen, sodass viele der verbliebenen Bewohner bei der Nachricht vom Anrücken eines feindlichen Heeres während eines der römisch-parthischen Kriege fluchtartig Babylon verließen. Zeitweise gelang es den Römern, die unbedeutend gewordene Stadt zu besetzen, ohne dass ihnen dies im Kampf gegen die Parther viel gebracht hätte.

 

Babylon blieb eine Vielvölkerstadt, von der wir allerdings wenig wissen, weil nun aramäische Buchstaben auf Leder geschrieben wurden, und dieses Leder ist im Laufe der Jahrhunderte zerfallen. Bekannt ist, dass der Bel-Tempel ein Zentrum religiösen Denkens und der Wissenschaft blieb. Babylon schrumpfte weiter, war bald nur noch ein größeres Dorf. Zu den letzten Spuren der einst so großen Stadt, die von Archäologen gefunden wurden, gehören einige magische Tonschalen aus dem 5. bis 7. Jh. n. Chr.

 

Nur durch den Dorfnamen Babil blieb die Erinnerung daran wach, dass hier einmal eine der bedeutendsten Städte der antiken Welt gestanden hatte. Einige der europäischen Reisenden des 17. und 18. Jahrhunderts, die Arabien besuchten, machten sich auch auf die Suche nach dem sagenhaften Babylon, waren aber tief enttäuscht von den wenigen Resten, die von der aus Lehm gebauten Stadt übrig geblieben waren. Immerhin war weiterhin bekannt, wo sich die Stadt befunden hatte.

 

Was blieb, war der schlechte Ruf

 

In der kirchlichen Tradition hatte Babylon zu dieser Zeit längst einen festen Platz – den denkbar schlechtesten. Seit den Kirchenvätern Augustinus und Origenes war es üblich geworden, alles Schlechte und den Teufel mit der Stadt am Euphrat zu verbinden und sie dem göttlichen Jerusalem gegenüberzustellen. Finsternis und Licht wurden durch diese beiden Städte repräsentiert. Vermutlich hatten diese Kirchenväter nur sehr geringe Kenntnisse von der historischen Stadt Babylon, aber die negative Rolle, die die Stadt in ihrer Theologie einnahm, hat sie über viele Jahrhunderte behalten.

 

Die Negativdarstellungen Babylons taten auch in der Zeit der Neuzeit ihre Wirkung, bis hin zu einem so klugen Geist wie Johann Gottfried Herder, der 1820 in seinen „Ideen zur Philosophie der Menschheit“ ein ausgesprochen negatives Bild von Babylon (und seiner Nachbarreiche) zeichnete: „Aus kleinen Anfängen nomadischer Völker waren sie entstanden, der Charakter erobernder Horden blieb ihnen auch immer eigen. Selbst der Despotismus, der in ihnen aufkam, und die mancherlei Kunstweisheit, die insonderheit Babylon berühmt gemacht hat, sind völlig im Geist des Erdstrichs und des Nationalcharakters seiner Bewohner.“[1]

 

Zwar erwähnt Herder die architektonischen Leistungen der Babylonier und die ungeheuren Mauern und Türme Babylons, aber er fügt dann hinzu: „… und da nach Nomadenart die Anlagen einmal gemacht waren, so konnten nach ebendieser Art sie leicht auch bereichert und verschönt werden, wenn nämlich die Horde auszog und raubte.“[2] Der Philosoph vertrat die These, dass es sich bei den „Verschönerungen“ Babylons um Nachahmungen ägyptischer Kunstwerke gehandelt habe. Und die babylonische Wissenschaft, die von den Verbindungen zu vielen anderen Ländern profitiert habe, sei „einer abgeschlossenen gelehrten Zunft anvertraut, die bei dem Verfall der Nation zuletzt eine hässliche Betrügerin wurde.“[3]

 

Auch im 20. Jahrhundert sind Zerrbilder des Niedergangs Babylons zu finden. Wieder werden wir bei Werner Keller und seinem Buch „Und die Bibel hat doch recht“ fündig. Er inszeniert in seinem Buch sogar den Niedergang einer ganzen Weltregion, um seine theologische Botschaft plakativ zu verkünden: „Die Zeiger der Weltuhr nähern sich dem Jahr 500 v. Chr. Der Alte Orient hat über drei Jahrtausende auf dem Buckel. Die Völker im ‚Fruchtbaren Halbmond‘ sind vergreist, ihre schöpferische Substanz ist erschöpft, sie haben ihre Aufgabe erfüllt, und die Zeit reift heran, da sie vom Schauplatz der Geschichte abtreten.“[4]

 

Als Beleg führt der Autor unter anderem an, dass König Nebukadnezar sich mit der Sehnsucht nach längst Vergangenem „plagt“ und man Texte auf Sumerisch und Altbabylonisch schreibt. Diese Beweisführung ist wissenschaftlich betrachtet als unsinnig zu bezeichnen. Wer käme auf den Gedanken, aus der Tatsache, dass heute an Gymnasien Latein gelernt wird, abzuleiten, Europa sei „vergreist“ und werde bald aus der Geschichte abtreten? Hier sei daran erinnert, dass der Rückgriff auf die Geschichte im antiken Babylon einen spezifischen religiösen Hintergrund hatte, den man nicht teilen muss, den man aber auch nicht verschweigen darf, um den Eindruck zu erwecken, eine zum Untergang verurteilte Gesellschaft „plage“ sich nur noch mit dem Vergangenen und habe jede schöpferische Kraft verloren.

 

Um die These vom Abtreten aus der Geschichte überhaupt begründen zu können, trennt der Autor willkürlich die Region des „Fruchtbaren Halbmonds“ vom damaligen Persien und heutigen Iran, obwohl diese Trennung damals nicht bestand und zum Beispiel die Elamiter, die im heutigen Südiran siedelten, über Jahrtausende die Geschichte Mesopotamiens entscheidend mitgeprägt haben. Es geht Werner Keller offenbar vor allem darum, diese Aussage zu machen: „Nur ein Volk – in viele Teile aufgelöst und zu jener Zeit weit über den ‚Fruchtbaren Halbmond‘ verstreut – erliegt nicht der Sattheit, der Erschlaffung: die Söhne Israels …“[5]

 

Nein, so einfach ist die Weltgeschichte nicht verlaufen, und es ist meines Erachtens gefährlich, einer ganzen Weltregion zu unterstellen, über sie „senkt sich das Dunkel unmerklich aber unaufhaltsam“.[6] Um so bedauerlicher, dass dieses Werk weiterhin als Taschenbuch verkauft wird, ohne es um eine kritische Analyse ergänzt zu haben.

 

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 



[1] Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Menschheit, Dritter Teil, Zwölftes Buch, Sämtliche Werke, Band 31, Tübingen 1806, S. 65.

[2] Ebenda, S. 65f.

[3] Ebenda, S. 72f.

[4] Werner Keller: Und die Bibel hat doch recht, a. a. O., S. 328.

[5] Ebenda, S. 330.

[6] Ebenda.