Unter ihrem Namen Hermine Brutschin-Hansen kannte sie kaum jemand. Ihre Freunde und die Gäste ihres Lokals nannten sie respektvoll „Tante Hermine“. Mehr als vier Jahrzehnte lang saß sie neben dem Tresen der Hafenkneipe Zur Kuhwerder Fähre in der Hafenstraße 108 gleich gegenüber den Landungsbrücken, wo die Fähre VII tägliche viele Hundert Hafenarbeiter, Werftarbeiter und Seeleute an Bord nahm und abends wieder ablieferte. Es war ein idealer Standort für eine Hafenkneipe. Das Lokal hatten ihre Eltern bereits seit 1923 betrieben.
Die Tochter, die 1905 geboren wurde, übernahm die Herrschaft über den Tresen, ihre „Kommandobrücke“, schon als junge Frau und übte sie viele Jahre aus. 1931 heiratete sie den Steuermann Martin Brutschin, der zunächst weiter zur See fuhr. 1939 unternahm das Ehepaar eine gemeinsame Schiffsreise in die Karibik, die beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs abrupt endete. Hermine konnte über Norwegen in die Heimat und in ihre Kneipe zurückkehren, ihr Mann wurde auf Jamaika interniert. Er stand später in der Kombüse des Lokals.
Zu Gast bei der „Mutter der Seeleute“
Einen Blick auf die Speisekarte der Kneipe konnten die Gäste sich sparen, denn es gab jeden Tag nur ein Gericht, und das bestellte man, wenn man sich keinen Ärger einhandeln wollte. Es gab häufig Labskaus, aber auch schon Mal exotische Gerichte wie Nasi Goreng, die der Koch in seiner Fahrenszeit kennengelernt hatte. War für ihn nichts zu tun, saß der Koch unauffällig im Lokal und las die Zeitung. Für die Unterhaltung der Gäste und die Stimmung im Lokal war seine Ehefrau, die „Mutter der Seeleute“, zuständig.
Kapitän Jochen Pahl erinnerte sich an die originelle Art der Bezahlung der Zeche in dieser Hafenkneipe: „Tante Hermine begrüßte auch an diesem Abend ‚ihre Jungs‘ direkt an der Eingangstür hinter einem kleinen Holztisch sitzend. Den Bierausschank besorgten derweil Besucher ihres Vertrauens. Die Buchführung wiederum war Sache jedes einzelnen Gastes selber – und die Abrechnung erfolgte auf Treu und Glauben bei der Verabschiedung am besagten kleinen Tisch. Ich glaube nicht, dass auch nur einer ihrer Seelords ohne Bezahlung je verlassen hat.“
Hermine – ein bekanntes Hamburger Original
Es kann nicht überraschen, dass Hermine zu den beliebtesten Gästen des Hamburger Hafenkonzerts und der Weihnachtssendung Gruß an Bord zählte. Der NDR-Redakteur Kurt Grobecker hat 2019 in einem Deutschlandfunk-Beitrag daran erinnert, „dass sich die Seeleute zu Weihnachten über keine andere Stimme so sehr gefreut haben wie über die von Hermine Hansen. Sie war ein Original, eines der wenigen weiblichen in der Schifffahrt und keineswegs nur in der ‚Branche‘ bekannt. Als Seeleute im südamerikanischen Santos einmal auf die Idee kamen, ihrer Hamburger Wirtin einen Gruß zu schicken, schrieben sie auf einem Bierdeckel nicht weiter als ‚Hermine Hamburg‘ und klebten eine Briefmarke darauf. Für die Post war das kein Problem.“ Grobecker bezeichnete Tante Hermine als „eines der ganz großen Originale“.
Ihr Lokal war, wie der St. Pauli-Pastor Sieghard Wilm es in einer Gedenkfeier für die Wirtin formulierte, „für viele Paulianer und Seeleute ein feucht-fröhlicher Heimatort“. Hier trafen sich Seeleute und Studenten, Hafenarbeiter, Prominente aus Politik und Wirtschaft. Auch der berühmte Musiker Louis Armstrong war hier einmal zu Gast. Sonntags kamen auch viele Fischmarkt-Besucher und natürlich die Mannschaft vom Hafenkonzert. Die kam gewissermaßen dienstlich. Der Redakteur Kurt Grobecker erinnerte sich: „Man kam schnell miteinander ins Gespräch, und wenn wir die Ohren spitzten, was da so alles am Tresen gesprochen wurde, hatten wir schnell Stoff für ein paar Sendungen ‚im Sack‘.“ Nur Prostituierte und ihre Zuhälter waren bei Hermine unerwünscht. Die setze die resolute Wirtin binnen kürzester Zeit vor die Tür.
Wie in ähnliche Seemannskneipen hingen an den Wänden die Mitbringsel von Seeleuten, die sie Hermine geschenkt hatten. Berühmt war ein 1,5 Meter langer Walpenis, der auf dem Klavier lag, wenn er nicht gerade herumgereicht wurde. Er gehörte später zu den Attraktionen der Övelgönner Seekiste. Im Mai 2022, als dieses Museum aufgelöst werden musste, erzielte der Auktionator für den Walpenis die stattliche Summe von 3.000 Euro.
Der Kiez-Schriftsteller Konrad Lorenz hat sich so an die Wirtin erinnert: „Hermine war sehr beleibt und etwas asthmatisch. Von ihrem Platz aus hatte sie sowohl die Fähre VII wie auch die Hafenstraße im Blick. Deshalb konnte sie jeden, der reinkam, gleich mit Namen begrüßen.“ Die Wirtin hatte ein beeindruckendes Personengedächtnis, und wer neu im Lokal war, bekam zu hören: „Wo kommst Du denn her, di kenn ick noch nicht?“ Stammgäste begrüßte sie mit „Wo geiht?“ und erwartete erst einmal die Antwort „Muss ja“, worauf sie begann, den Gast gründlich auszufragen. Sie war stets bestens informiert und genoss den Ruf als „Tageblatt des Hamburger Hafens“.
Als aus dem Seemannslokal eine Szenekneipe wurde
Wer am Tresen stand, hat sich Lorenz erinnert, musste damit rechnen, von Hermine mehr oder weniger herrisch zum Gläserspülen rekrutiert zu werden. Einer ihrer Sprüche lautete: „Hassu nix zu tun? Komm rüber und trockne ab!“ Genug zu tun gab es in der Kneipe bis in die 1950er Jahre, als noch Tausende Männer im Hafen arbeiteten. Mit dem Werftensterben und der stark abnehmenden Zahl der Seeleute folgte eine Flaute, die Hermine tapfer durchstand. Aber dann mutierte die Seemannskneipe Zur Kuhwerder Fähre zur Szenekneipe.
Der Schriftsteller Bern Hardy hat diesen Wandel miterlebt: „Sie wurde bei Jungakademikern immer beliebter, während die Seeleute allmählich wegblieben. Denen wurde es zu laut, seit Hermine einen Plattenspieler angeschafft hatte.“ An guten Abenden und Nächten flossen mehr als 700 Liter Bier durch die Zapfhähne. Und die bedienten nun ohne Bezahlung junge Männer, die sich geschmeichelt fühlten, von Hermine für würdig befunden zu werden, hinter dem Tresen zu stehen.
Hermine starb am 20. August 1971. Sie fand ihren letzten Liegeplatz auf dem Ohlsdorfer Friedhof. An der Hauswand in der Hafenstraße erinnert eine Gedenktafel an das Seemannslokal und seine Wirtin Hermine. Der Text lautet: „Zur Kuhwerder Fähre". Bis 1971 legendäre Seemannskneipe, Filmkulisse, Ankerplatz für Matrosen und Künstler. Hinter der Theke stand 40 Jahre lang Hermine Brutschin-Hansen. Hamburgs Original ‚Tante Hermine‘ wurde wegen ihrer Redlichkeit, ihrer Fürsorge und ihres Witzes von Teerjacken aller Nationen geschätzt.“ Der Schriftsteller Bern Hardy hat ihr das Gedicht „Epilog für eine Seemannswirtin“ gewidmet, das diese Zeilen enthält:
Du bist ein echtes Kind der Zeit gewesen
als es an Bord noch Segelmacher gab,
doch viel zu früh verholtest Du vom Tresen
an Deinen letzten Liegeplatz im Grab.
Trauert mit mir auch dieser oder jener
Seemann um Dich, den Du bemuttert hast,
die Zeit der Supertanker und Container
hat einfach nicht mehr recht zu Dir gepaßt.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro
© Frank Kürschner-Pelkmann