„Lieber mag der gemeine Hauffe noch eine Weile irren, als dass ich ihn, (obwohl es ohne meine Schuld geschehen würde) mit Wahrheiten ärgern, und in einen wütenden Religions-Eiffer setzen sollte.“ So schrieb Hermann Samuel Reimarus im „Vorbericht“ zu seinem Manuskript „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“. Nur gute Freunde bekamen den Text zu lesen, an dem der Gelehrte drei Jahrzehnten gearbeitet hat. Einer der Freunde veröffentlichte später Auszüge aus dem Manuskript und löste damit einen Sturm der Entrüstung aus. Aber das geschah nach dem Tod des Philosophen.
Hermann Samuel Reimarus wurde am 22. Dezember 1694 geboren. Sein Vater unterrichtete am angesehen Hamburger Johanneum und ermöglichte dem Sohn eine umfassende Bildung, zu der nach Johanneum und Akademischen Gymnasium in Hamburg ein Studium in Jena und Wittenberg sowie Studienaufenthalte in England und Holland gehörten. Nachdem Reimarus zunächst vor allem Theologie studiert hatte, befasste er sich anschließend vor allem mit Philosophie, Philologie und orientalischen Sprachen.
Ein radikaler Umgang mit biblischen Texten
Er wurde von Professor Christian Freiherr von Wolff stark geprägt, einem der führenden Vertreter der Aufklärung in Deutschland. Unter dessen Einfluss vertrat Reimarus einen radikalen Rationalismus auch im Umgang mit biblischen Texten. Aber da er seine Auffassungen für sich behielt und auch in Unterricht und Vorträgen allenfalls sehr vorsichtig andeutete, konnte er im Gegensatz zu manchen anderen damaligen Verfechtern des Rationalismus in Ruhe seinen Studien nachgehen.
1723 berief man den Gelehrten zum Rektor der Stadtschule in Wismar, und fünf Jahre später zum Professor und Rektor am Akademischen Gymnasium in Hamburg, einer Bildungseinrichtung zur Vorbereitung auf ein Universitätsstudium. Dort unterrichtete Reimarus orientalische Sprachen, als deren hervorragender Kenner er über die Stadt hinaus bekannt war. Der Hamburger Gelehrte Brockes < S. 193 > äußerte über ihn, er sei „eine wahre Zier wie des Gymnasiums, als unserer ganzen Stadt“. Gemeinsam mit seiner Frau Johanna Friederike, die aus der Gelehrtenfamilie Fabricius stammte, bemühte Reimarus sich – wie andere Aufklärer - intensiv um eine gute Bildung für die eigenen Kinder, auch für die Mädchen. Von den sieben Kindern erreichten leider nur zwei das Erwachsenenalter. Der Tochter Elise ist ein Porträt gewidmet.
In seinem unveröffentlichten „Apologie“-Manuskript plädierte Reimarus für eine vernünftige Religion und gelangte zur Auffassung, dass das Alte Testament nur eine Bedeutung als Vorausdeutung für das Neue hätte, das mit Jesus in die Welt kam. Soweit aber diese Vorausdeutung nach einer kritischen Analyse nicht gegeben wäre, verlöre das Alte Testament für vernünftige Christen jegliche Bedeutung. Verknüpft war diese Argumentation mit antisemitischen Aussagen über die Juden seiner Zeit.
lm vernunftbestimmten Bibelverständnis des Reimarus war für vieles kein Platz mehr, was für andere Christinnen und Christen in Bibel und Tradition ein fester Bestandteil ihres Glaubens war. So wollte Reimarus als einziges Wunder die Schöpfung Gottes anerkennen. Welches Verständnis von Jesus hatte Reimarus? Klaus Wengst (emeritierter Professor für evangelische Theologie) diagnostizierte 2018 in einem Vortrag in Hamburg: „Er differenziert innerhalb des Redens und Wirkens Jesu. Alles, was davon spezifisch jüdisch ist – und das ist das meiste -, unterzieht er einer teils äußerst scharfen Kritik.“
Als Lessing Auszüge aus dem unveröffentlichten Hauptwerk von Profesor Reimarus veröffentlicht, löste das einen sturm der Kritik aus
Reimarus behielt seine Bibelkritik lieber für sich. Er erlebte, wie andere Aufklärer in Hamburg und anderswo schon mit weniger radikalen Thesen den heftigen Angriffen der orthodoxen Lutheraner ausgesetzt waren und ihre berufliche Existenzgrundlage verloren. Er bekannte sich freimütig dazu, kein Märtyrer der Aufklärung werden zu wollen: „Lieber mag der Weise sich, des Friedens halber, unter den herrschenden Meynungen und Gebräuchen schmiegen, dulden und schweigen, als daß er sich und andere, durch gar zu frühzeitige Äusserung, unglücklich machen sollte." Reimarus wusste, dass er nach der Veröffentlichung seiner Bibelkritik seine berufliche Stellung verloren hätte und aus der Stadt verwiesen worden wäre.
Zu dieser Zeit lebte auch Gottfried Ephraim Lessing in Hamburg. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit lieh ihm Elise Reimarus, die Tochter des Professors, das Manuskript der „Apologie“. Lessing stimmte zwar nicht mit dem radikalen Rationalismus des Autors überein, entschloss sich aber doch, wesentliche Teile des Manuskriptes zu veröffentlichen, um sie zur Diskussion zu stellen. Er tat das allerdings erst von 1774 an, als Reimarus schon mehr als ein Jahrzehnt tot war und er selbst in Wolfenbüttel lebte. Im Vorwort schrieb Lessing zu den Reimarus-Texten: „Sie sind mit äusserster Freymüthigkeit, zugleich aber mit dem äussersten Ernste geschrieben ... Er sagt seine Meinung gerade zu, und verschmähet alle kleinen Hülfsmittel, den Beyfall seiner Leser zu erschleichen.“
Der Beifall blieb dann auch aus, und die „Fragmente eines Wolfenbüttelschen Ungenannten“ führten sofort zu heftigen Kontroversen. Vor allem der Hamburger Hauptpastor Goeze griff Lessing heftig an, weil der Text des „Ungenannten“ die Wundergeschichten und die Auferstehung Jesu leugnete und den „Samen der Rebellion“ in sich trage. Die orthodoxen Lutheraner in Hamburg wollten die Verbreitung der Schrift nicht hinnehmen, der „Fragmentenstreit“ brach aus, und der Theologe Johann Heinrich Daniel Moldenhawer reichte im Februar 1779 dem Rat eine Schrift unter diesem Titel ein: „Ausführliche Prüfung des fünften Fragments aus der Wolfenbüttelschen Bibliothek von der Auferstehung Jesu, durch welche zugleich die Auferstehungs-Geschichte Jesu bestätigt und erläutert wird“. Die Obrigkeit dankte mit einem Honorar für den unverlangt eingereichten gegenüber dem Verfasser der „Fragmente“ kritischen Beitrag, überließ es aber dem Fürstentum Braunschweig über ein Verbot der „Fragmente“ zu entscheiden.
Der Streit um den Reimarus-Text war für Lessing der letzte Anstoß, um mit dem Schauspiel „Nathan der Weise“ zu Toleranz aufzufordern – und auch diese Publikation wurde mancherorts verboten. Elise Reimarus schrieb hingegen an Lessing: „Lange, lange muß kein Trunk Wassers in einer dürren Sandwüste so verschluckt worden sein, so gelabt haben als dieser uns.“
Reimarus sah sich als "Vernünftiger Verehrer Gottes"
Schon zweieinhalb Jahrhunderte vor dem Göttinger Theologieprofessor Gerd Lüdemann sorgte die Frage der Auferstehung Jesu für heftige Konflikte, nur dass Reimarus eben der zurückhaltende, bescheidene Gelehrte blieb. Schon Reimarus war der Auffassung, dass das Grab Jesu nicht leer gewesen war und hatte dies ausführlich begründet. Er wollte nur noch die biblischen Texte gelten lassen, die mit der Vernunft in Einklang zu bringen waren. Er hielt aber an der Existenz Gottes als Schöpfer und an der Unsterblichkeit fest, sah sich als „vernünftigen Verehrer Gottes“.
Reimarus führte das Leben eines Gelehrten und nahm sich viel Zeit zur gründlichen Forschungsarbeit und für literarisch-wissenschaftliche Gespräche, zu denen er in seinem Salon einlud. Gemeinsam mit anderen Aufklärern gründete er 1765 die „Hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe“, die sich zur wichtigsten Vereinigung der Aufklärung und Förderung von Bildung und sozialem Engagement in Hamburg entwickelte und bis heute als Patriotische Gesellschaft besteht und Vorbildliches leistet.
Reimarus veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze, zum Beispiel ein Buch zur „Vernunftslehre“, das zu einem Standardwerk der Aufklärung in Norddeutschland wurde. Im Gegensatz zu manchen anderen Gelehrten veröffentlichte er seine Werke auf Deutsch und nicht auf Latein, um sie breiteren Kreisen zugänglich zu machen. Auch war sein wissenschaftliches Interesse gekoppelt mit sozialem Engagement. Von 1743 an war er zwei Jahrzehnte lang Vorsteher einer Armenschule.
Reimarus starb am 1. März 1768 als hochangesehener Gelehrter und Verfechter der Aufklärung. Allerdings, nachdem dann bekannt geworden war, dass der Professor der Verfasser der „Fragmente“ war, errichtete man ihm kein Denkmal in Hamburg. Nur für ein Relief des Aufklärers auf dem Sockel des Lessing-Denkmals auf dem Gänsemarkt hat es gereicht, aber bei dessen Errichtung war Reimarus bereits mehr als ein Jahrhundert tot. Sein bibelkritisches Werk, aus dem Lessing nur Teile veröffentlicht hatte, erschien erst 1972 vollständig - mit einem Umfang von mehr als 1.600 Seiten.
Die Reimarusstraße in der Hamburger Neustadt hält die Erinnerung an diese Gelehrtenfamilie wach. Die Patriotische Gesellschaft an der Trostbrücke hat den Reimarus-Saal nach dem berühmten Denker der Aufklärung benannt.
Aus: Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte