Unter ihrem Namen Lydia Adelheid Hellenbrecht kennt sie kaum noch jemand, aber als Vogeljette zählt sie zu den bekannteren Hamburger Originalen. Sie bot sogar den Stoff für ein Theaterstück, das 1961 im Ohnsorg-Theater seine Uraufführung erlebte. Lange Zeit hatte nichts darauf hingedeutet, dass sie einmal eine bekannte Person in St. Georg werden würde. Geboren wurde sie 13. Dezember 1844 als Lydia Adelheid Köbner. Ihr Vater, ein Steuermann, starb bereits in ihrer Kindheit beim Untergang seines Schiffes. Im Alter von 30 Jahren heiratete die Tochter den 20 Jahre älteren Schreiber und Boten Johann Hellenbrecht. Ihr geliebter Mann starb bereits nach neun Jahren Ehe 1883 an der Cholera.
Jeden Tag gab es Brotstückchen für die Vögel
Ihre Trauer war so groß, dass sie von da an stets Trauerkleidung trug. Bald kannte jeder in St. Georg die Frau mit dem schwarzen Kleid, dem weißen gehäkelten Umschlagtuch, dem Häubchen und dem weißen Schleier. Stets war sie mit einem Körbchen mit Brotstückchen und einem kleinen Emaileimer mit Wasser unterwegs. Da ihre Rente klein war, konnte sie nicht jeden Tag frisches Brot kaufen, sondern profitierte davon, dass die Bäcker ihr kostenlos altes Brot überließen. Den Spitznamen Vogeljette erhielt sie in Anlehnung an Zitronenjette. Manche Leute in St. Georg hielten sie für verrückt, aber sie war geistig völlig normal. Ihre einzige Auffälligkeit bestand darin, jeden Tag in Trauerkleidung die Vögel zu füttern. Sie wohnte im Haus Rostocker Straße 9 zur Untermiete.
Nicht nur die Bewohner, sondern auch die Vögel der Vorstadt St. Georg kannten bald die Frau in Schwarz und flogen herbei, sobald sie sie kommen sahen. Sie tunkte die Brotstückchen in das Wasser und verfütterte sie an die Vögel, vorzugsweise an Spatzen. Damals gab es noch keinen Hauptbahnhof, und in diesem Bereich der früheren Wallanlagen, zwischen den heutigen Straßen Glockengießerwall und Kirchenallee, befand sich eine Parkanlage. Ein tiefes Tal ließ noch ahnen, dass hier ein Festungsgraben zu der gewaltigen Wallanlage Hamburgs gehört hatte. Die Parkanlage mit ihren Baumgruppen, Büschen und Rasenflächen wurde sowohl von den Vögeln als auch von Vogeljette geschätzt. Sie war nicht die einzige, die hier Vögel fütterte, aber sie fiel durch ihre schwarze Kleidung und dadurch auf, dass sie jeden Tag hier erschien.
Hans Ross hat sie als Kind erlebt und seine Erinnerungen 1978 in der Zeitschrift „Blätter aus St. Georg“ veröffentlicht: „Dass wir Jungs von damals, wenn die Vogeljette ihrem Körbchen die sorgfältig geschnittenen Brotwürfel entnommen hatte, sie dann mit einigen Spritzern aus dem kleinen Eimer angefeuchtet hatte, alles jedenfalls meistens in Ruhe betrachteten, lag wohl an dem stillen Respekt, den die alte Frau genoss. Wenn es mal nicht so artig verlief und die Jungens die Spatzen verjagten, ging ein großes Donnerwetter über die Jugend los.“ Ansonsten war Vogeljette meistens wenig gesprächig.
Warum die Vögel gefüttert wurden
Die Vorübergehenden fragten sich, warum die Frau im schwarzen Kleid sommers wie winters jeden Tag unterwegs war, um Vögel zu füttern und sogar mit ihnen sprach. Manche waren überzeugt, dass sie glaubte, ihr Mann wäre als Vogel wiedergeboren worden. Damit er immer genug zu essen hätte, machte sie sich jeden Tag mit den Brotstückchen auf den Weg. Da sie aber nicht wissen konnte, welcher von den Vögeln ihr früherer Mann war, würde sie alle Vögel füttern.
Aber Menschen, die sie näher kannten, wussten, dass ihr Füttern der Vögel einen anderen Grund hatte. Ihr verstorbener Mann war tierlieb gewesen und hatte häufig Vögel gefüttert. In Erinnerung an ihn machte sich seine Witwe jeden Tag auf den Weg zu den Vögeln von St. Georg. Das war ihre Form der Trauerarbeit und des Andenkens. Dass sie mit den Vögeln sprach, war kein Zeichen geistiger Verwirrung, sondern Ausdruck ihrer Tierliebe. Vielleicht wusste die fromme Frau auch, dass schon Franz von Assisi mit den Tieren gesprochen hatte.
Es war ihr natürlich bekannt, dass ihr Füttern der Vögel von vielen belächelt wurde. Sie setzte es trotzdem mehrere Jahrzehnte lang fort. Hans Ross hat zu dieser Hartnäckigkeit geschrieben: „Sie kannte die Nachrede und Erzählungen der Leute genau, hat sich aber, auch gestützt auf eine schlichte Frömmigkeit, nicht beirren lassen und bei sparsamster Lebenshaltung, da sie nur sehr geringe Einkünfte hatte, ihre vielbespöttelte Tätigkeit zum Segen der gefiederten Natur durch Jahrzehnte ausgeübt.“ 1915 musste sie das Füttern der Vögel einstellen, weil im Krieg das Brot knapp geworden war und nur noch gegen Brotmarken abgegeben wurde. Sie starb am 30. Januar 1920.
Johannes Sass schrieb in seinem Buch „Hamburger Originale und originelle Hamburger“ über sie: „Jedermann war der Spitzname ‚Vogeljette‘ bekannt. Es muss aber in ihrer Persönlichkeit eine gewisse Würde gelegen haben, denn niemals haben Straßenjungen es gewagt, ihr diesen Namen nachzurufen.“ Im Garten der Frauen auf dem Ohlsdorfer Friedhof erinnert ein gemeinsamer „Stein der Erinnerung“ an sie und an Zitronenjette.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro