Als ein Zweifler, doch nicht als Gottloser habe ich gelebt,
Voller Ungewißheit sterb‘ ich, doch keineswegs unruhig.
Unwissenheit und Irrtum sind des Menschen Los,
Wesen aller Wesen, erbarme Dich meiner!
Das sollte auf dem Grabstein von Johann Matthias Dreyer stehen. Das war sein Wunsch, aber der wurde ihm nicht erfüllt. Der Verstorbene gehörte zu den bekanntesten Spöttern im Hamburg des 18. Jahrhunderts und war gleichzeitig Diplomat. Er zählte zu den Anhängern der Aufklärung, stritt sich mit der kirchlichen Obrigkeit und blieb doch ein frommer Mensch. Er hat viel veröffentlicht und geriet trotzdem schon zu Lebzeiten allmählich in Vergessenheit. In all seiner scheinbaren Widersprüchlichkeit war Dreyer auf jeden Fall eines, ein Hamburger Original mit einem tragischen Lebensweg.
Johann Matthias Dreyer kam im Februar 1717 zur Welt. Seine Eltern gehörten zu den wohlhabenden Kaufmannsfamilien der Stadt. Das Leben von Johann Matthias wurde von Anfang an dadurch überschattet, dass er kleinwüchsig, schmächtig und – wie man es damals nannte – „verwachsen“ war. Wahrscheinlich ist er als Schüler der Gelehrtenschule Johanneum von seinen Mitschülern verspottet worden. Der Historiker Alfred Dreyer, der 1934 eine ausführliche Biografie von Johann Matthias Dreyer veröffentlichte, schrieb zu den Reaktionen des Jungen auf den Spott:
„Früh gewohnt, beiseite zu stehen, lernte er die Menschen beobachten und ihnen mißtrauen. So erkannte er leichter und zeitiger als viele Andere die Schwächen und Fehler seiner Mitmenschen, und lernte diese behandeln und verspotten. Neben einer auffallend entwickelten Neigung zu Spott und Hohn in der Brust des ‚von so Manchem Ausgestoßenen‘, wie er sich selbst einmal wehmütig charakterisiert, ein heißer Drang nach Lebensgenuß und -freude, ferner der aufstachelnde Wunsch, etwas zu gelten und sich beachtet zu sehen. Und als dieser Wunsch wenigstens in seinen jüngeren Jahren nicht oder doch nur unvollkommen in Erfüllung ging, da wurde aus ihm jener unverbesserliche und gefürchtete Spötter und Verächter, dem nichts heilig blieb, der alles mit ätzendem Hohn übergießend die Menschen, ihre Leidenschaften und Schwächen, durchschaute und sich über sie lustig machte.“
Der folgenschwere Abbruch des Jurastudiums
Nach dem Abschluss der Schule studierte Dreyer gemäß dem Wunsch seines Vaters in Leipzig Jura. Aber der vielseitig interessierte Student fühlte sich in der Welt der Paragraphen nicht wohl. Er trat der Deutschübenden Poetischen Gesellschaft bei und beschäftigte sich von nun an vor allem mit Poesie und Theater. Das Jurastudium gab er auf, was das ohnehin schwieriges Verhältnis zu seinem Vater weiter trübte. In all seinen Schriften erwähnte er seinen Vater kein einziges Mal, seine früh verstorbene Mutter übrigens auch nicht.
Für die damals berühmte Theaterprinzipalin Neuberin übersetzte Dreyer eine Oper aus dem Italienischen und hat offenbar auch andere Arbeiten als Theaterautor übernommen. Einzelheiten sind heute nicht mehr bekannt. Nach drei Jahren kehrte er 1740 nach Hamburg zurück. Dass er sein Jurastudium nicht beendet hatte, verbaute ihm viele berufliche Möglichkeiten. Er bemühte sich, ein Auskommen als Schriftsteller zu finden, damals ein fast aussichtsloser Versuch, mit dem auch bekanntere Dichter scheiterten. Einnahmen erzielte Dreyer vor allem als Gelegenheitsdichter, der gereimte Verse für Hochzeiten, Trauerfeiern und andere feierliche Anlässe lieferte. Mehr interessiert haben werden ihn die Theaterstücke, die er übersetzte oder veröffentlichte sowie Vorreden und Vorspiele für Theateraufführungen. So verfasste er zum Beispiel für die Neuberin das Vorspiel „Hamburgs Vorzüge“, das das lokale Publikum ansprechen und positiv auf das dann folgende Schauspiel einstimmen sollte. Einige Zeilen aus dem gereimten Vorspiel lassen die Absicht des Verfassers gut erkennen:
In dieser reizenden,
in dieser freien Stadt,
wo man Gesetz und Mut,
statt Zwang und Herrschaft hat …
Solche schmeichelnden Verse werden ihre Wirkung nicht verfehlt haben, aber viel Geld war nicht mit ihnen zu verdienen, arbeitete die Theatertruppe der Neuberin doch häufig am Rande des finanziellen Ruins. Zudem reichten Dreyers Verse nicht aus, das Hamburger Publikum für die Neuberin und ihre ernsthafte Theaterkunst einzunehmen, waren die Theaterbesucher doch vor allem an seichten Unterhaltungsstücken interessiert. Nachdem die Neuberin die Hamburger 1740 durch eine Publikumsbeschimpfung endgültig gegen sich aufgebracht hatte, durfte sie in der Stadt nicht mehr auftreten. Damit verlor Dreyer eine wichtige Auftraggeberin. Immerhin konnte er eines von der Neuberin aufgeführten Trauerspiels als Buch herausbringen und so der Nachwelt erhalten. Der Hamburger Kaufmann und Dichter Georg Behrmann, der das Stück verfasst hatte, nutzte es für ein flammendes Plädoyer für die Freiheit. Zwei Zeilen mögen dies belegen:
Die Freiheit ist gewiß der Bürger größter Schatz.
Ist sie einmal dahin, so ist sie stets verloren.
Dreyer teilte dieses Engagement für die Freiheit. Deshalb entschloss er sich 1741, nach Berlin überzusiedeln, die Residenzstadt des jungen preußischen Königs Friedrich II. In ihn setzten viele Anhänger von Aufklärung und Freiheit in ganz Deutschland große Hoffnungen.
Die Suche nach einer gut bezahlten Stelle
Dreyer hoffte vergeblich, durch die Vermittlung von Freunden in Berlin eine Anstellung in preußischen Diensten zu erhalten und damit endlich finanziell abgesichert zu leben. Stattdessen musste er sich mit einer schlecht bezahlten Stelle als Autor und Redakteur der Zeitschrift „Weltbürger“ begnügen. Der Tod eines Förderers, aber auch das Verfassen von bissigen Spottversen über Berliner Zeitgenossen ließen alle Hoffnungen auf eine angemessen bezahlte Stelle schwinden.
Enttäuscht kehrte Dreyer 1745 nach Hamburg zurück, nur für kurze Zeit, denn er fand Anfang des folgenden Jahres endlich ein feste Anstellung als Sekretär des Herzogs von Mecklenburg-Schwerin. Ein oder zwei Jahre später übernahm er eine Tätigkeit in England, über die sein Biograf Alfred Dreyer nichts Näheres herausfinden konnte. Wichtiger als diese Tätigkeit war, dass Dreyer in England viele Anregungen für seine weitere schriftstellerische Arbeit erhielt.
Ende der 1740er Jahre war er zurück in Hamburg und nahm den Brand der St. Michaeliskirche 1750 zum Anlass für ein langes Gedicht, das mit dem Wunsch schloss, Gott möge den Menschen „Religion, Vernunft und Menschenliebe“ geben. Von 1748 an arbeitete Dreyer als Redakteur der Wochenschrift „Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes“. Die Zeitschrift hat unter dem Kurztitel „Bremer Beiträge“ einen festen Platz in der deutschen Literaturgeschichte und war vom Geist der Aufklärung geprägt. Dreyer war bis zur Einstellung der Zeitung 1759 verantwortlicher Redakteur, eine ehrenvolle, aber schlecht bezahlte Tätigkeit. Zudem konnte er ein Absinken der Qualität nicht verhindern, nachdem die meisten bisherigen Autoren nicht bereit waren, mit ihm als neuem Redakteur zusammenzuarbeiten.
Neben seiner Redakteurstätigkeit fand er Zeit für die Mitarbeit an anderen Zeitschriften und verfasste erneut bezahlte Gedichten für Hochzeits- und Trauerfeiern. Viele Zeitgenossen wären damit mehr als ausreichend beschäftigt gewesen, aber Dreyer verfasste zusätzlich eine große Zahl von – natürlich unbezahlten – Spottgedichten. Dass er drei Gedichte des berühmten Friedrich Klopstock parodierte, obwohl er gute Beziehungen zu dem Dichter unterhielt, trübte ihr Verhältnis – und das war nur einer von vielen beleidigenden Parodien und Spottgedichte, mit denen Dreyer seinen Ruf als Sonderling und Original festigte.
Ein Spötter im diplomatischen Dienst
Anfang 1753 fand Dreyer endlich eine halbwegs gut bezahlte Stellung, dazu noch eine Stellung, die mit recht wenig Arbeit verbunden war. Der Prinz Georg Ludwig von Holstein-Gottorp machte ihn zu seinem Depeschen-Sekretär mit Dienstsitz in Hamburg. Der Prinz war preußischer Offizier und kommandierte ein Kavallerieregiment in Ostpreußen.
Dreyer vertrat ihn und seinen Bruder Friedrich August, den Bischof in Eutin und Herzog von Holstein-Gottorp, in der Hansestadt Hamburg. Er musste sich unter anderem um die zügige Weiterleitung der Korrespondenz des Prinzen und dessen Zahlungsverkehr kümmern, wofür Hamburg ein guter Standort war. Außerdem hatte Dreyer die Aufgabe, den Bischof und in Personalunion Herzog regelmäßig mit Nachrichten aus Holstein und Hamburg zu versorgen.
Das neutrale Hamburg war damals ein wichtiger Begegnungsort von Diplomaten und Geheimdienstlern aller europäischen Mächte. Sie intrigierten je nach politischer und militärischer Großwetterlage in wechselnden Koalitionen mit- und gegeneinander. Die Konflikte zwischen dem preußischen König und der Kaiserin in Wien, die bald darauf in den Siebenjährigen Krieg mündeten, waren Anlass zu vielen politischen Ränkespielen in Hamburg.
Die Hamburger Kaufleute profitierten kräftig vom neutralen Status der Stadt, und der Senat tat alles, um keine der Großmächte zu verärgern und dadurch die lukrativen Handelsverbindungen zu stören. In Krisensituationen ermahnte der Rat die Zeitungsredaktionen, ja nicht zu deutlich für eine Seite Partei zu ergreifen und damit die Diplomaten der Gegenseite gegen die Stadt aufzubringen. Es gab also für Dreyer viel zu enthüllen und zu berichten. Seine Berichte füllten schließlich drei Bände und sind für Historiker eine lohnende Quelle.
Auch viele bissige Bemerkungen finden sich in seinen Berichten. Da sie nur einen kleinen Kreis seiner Auftraggeber erreichten, lösten sie keinen Unmut in Hamburg aus. In den Berichten zeigte Dreyer eine scharfe Beobachtungsgabe und die Fähigkeit zu einer pointierten Entlarvung seiner Mitmenschen. Über eine Braut schrieb er: „Sie soll viel Geld haben und also sehr liebenswürdig sein.“
Dreyer als gut informierter Diplomat und Redakteur
Dreyer hatte den Status eines Diplomaten im Dienste des Lübecker Bischofs. Mit diesem Status war allerdings nur ein recht bescheidenes Gehalt verbunden, das nicht ausreichte, um den aufwendigen Lebensstil Dreyers zu finanzieren. Geschickt baute er sich deshalb ein Netzwerk von Korrespondenten in verschiedenen deutschen Städten sowie in ausländischen Metropolen wie London, St. Petersburg und Amsterdam auf. Seinen Informanden zahlte Dreyer geringe Honorare und verkaufte die gesammelten Erkenntnisse teuer an diverse Diplomaten und Politiker. Hamburg war ein idealer Standort für solche Nachrichtengeschäfte und beseitigten Dreyers pekuniären Probleme vorerst.
Nachdem die „Bremer Beiträge“ eingestellt werden mussten, suchte Dreyer ein neues publizistisches Organ. In Hamburg konnte der Spötter nicht auf eine Zeitungslizenz hoffen, aber der dänische König erlaubte ihm, im dänisch regierten Altona eine Staats- und Gelehrten-Zeitung herauszubringen, die dann auch in Hamburg eine Leserschaft fand. Wie zu erwarten, nutzte Dreyer seine Zeitung, um boshafte Texte und Spottgedichte zu verbreiten. Das brachte ihm zunächst viele Leser ein, aber auf die Dauer setzten sich die etablierten Zeitungen gegen das Blatt von Dreyer durch, das durch etliche Falschmeldungen allmählich die Reputation als zuverlässige Zeitung verlor.
Zudem gab es Streit zwischen Dreyer und dem Mitinhaber Schade, den die Zensoren in Altona für Gesetzesverstöße haftbar machten, während der Diplomat Dreyer unbehelligt blieb. Als Dreyer satirische Verse über den Herzog von Richelieu, einen bekannte Marschall der französischen Armee, in der Zeitung druckte, war der Protest des französischen Botschafters in Kopenhagen ein hinreichender Grund für den Altonaer Oberpräsidenten, das Blatt noch im ersten Jahr des Erscheinens zu verbieten. Dreyer verlor sein eingesetztes Kapital und verarmte.
Der Biograf Alfred Dreyer hat den Abstieg des Schriftstellers so beschrieben: „Wiederholt musste er wochenlang geradezu hungern. Langsam hob sich seine Lebenshaltung wieder, aber um welchen Preis! Um nur seinen Hunger stillen zu können, sank er zum Gelegenheitsdichter in des Wortes schlimmster Bedeutung, ja zum Possen- und Zotenreißer herab. Und als solcher nur war er in Hamburg und Umgebung bekannt, und lebt er weiter bis zum heutigen Tag.“
Spottgedichte brachten Anerkennung, schafften aber auch Feinde
Seine Immunität als Diplomat schützte Dreyer lange Zeit vor juristischen Nachstellungen aufgrund seiner weiterhin öffentlich verbreiteten Spottgedichte. Vorerst genoss er es, sich in den Kaffeehäusern über Klatsch und Tratsch, aber auch politische Entwicklungen zu informieren und darüber Berichte zu verfassen. Mit witzigen Bemerkungen und Spottgedichten trug er zu lebhaften Gesprächsrunden in den Kaffeehäusern bei.
Allerdings machte er sich mit seinen launigen und oft bissigen Gesprächsbeiträgen und Gedichten auch viele Feinde, so Professor Dusch, den damaligen Rektor der Altonaer Stadtschule. Der hatte seinerseits Dreyer und andere Zeitgenossen heftig angegriffen und Dreyer antwortete mit dem Gedicht „An den Professor J. J. Dusch“:
Du, der Du wie ein Hund, grob, tückisch und voll Neid
Stets die Gelehrten Deiner Zeit
In Deiner Zeitung gern verrissest,
Beständig bellst und wenn Du könntest, bissest.
Dir sagt man: Herr Professor Dusch,
Auf allen Deinen Lärm nur dies: Kanaille, kusch!
Man ahnt, daraus konnte keine große Freundschaft werden. Auch der theologische Kandidat Flemming wurde zum Opfer des Spötters und nahm das Dreyer sehr übel. Flemming hatte in einem Gedicht anlässlich einer Hochzeit die Braut mit einem Apfel verglichen, worauf Dreyer dichtete:
Des Gipfels Scharfsinn zu erreichen,
Weiß er Braut, Hochzeitstag und Kuß
Mit einem Apfel zu vergleichen,
Fast scheint es, sein Gehirn sei Apfelmuß.
Flemming antwortete mit einem bissigen Gedicht über den Spötter Dreyer, das diese Zeilen enthielt:
Der Priester Feind, ein Frauenjäger,
Des Teufels treuster Waffenträger,
Für Geld ein Teufel und ein Christ,
Wer weiß nicht, daß es Dreyer ist!
Dreyer hat darauf mit einem geistreichen Gedicht geantwortet, das Flemming so blamiert war, dass er die Theologie aufgab und Jurist wurde. Leider habe ich dieses Gedicht nirgend finden können.
Langjährige Konflikte mit Pastor Melchior Goeze
Neuen und gefährlichen Ärger handelte Dreyer sich ein, als er Pastor Melchior Goeze mit Spottgedichten bedachte. Goeze war ein wortgewaltiger und streitbarer Theologe. Er war Senior des Geistlichen Ministeriums der Stadt, stand also an der Spitze des Gremiums der lutherischen Geistlichen.
Goeze ist durch seine Konflikte mit Lessing in die Literaturgeschichte eingegangen. Aber seine Auseinandersetzungen mit Dreyer waren weit heftiger. Ausgangspunkt war, dass Dreyer die christliche Religion schätzte, nicht aber das, was die Kirche und besonders die orthodox lutherische Kirche aus ihr gemacht hatte. Dies hat er in dem Gedicht „Die Religion“ prägnant formuliert:
Sie war zuerst natürlich, leicht und rein,
Drauf drang die Schrift und der Gewinn hinein.
Die gaben ihr Geheimnis und Gebräuche,
Dem Volke Furcht, den Priestern dicke Bäuche.“
Dreyer outete sich in seinen Gedichten als Anhänger der Aufklärung, zwar als gläubiger Christ, aber eben auch als Aufklärer. Goeze beschwerte sich beim Senat über Dreyer und seine Gedichte. Darauf reagierte Dreyer, indem er nun Goeze direkt attackierte. Im Jahr 1760 erschien das Gedicht „Der Hamburger Aaron“:
Da steht er! Seine fette Wange
Färbt keine Scham mehr rot;
Und Hamburg, abergläubisch bange,
Horcht fromm auf sein Gebot;
Verehrt mit knechtischem Entsetzen
Den von ihm selbst erhöhten Mann.
So schuf sich Juda seinen „Goezen“,
Ein goldnes Kalb, und betet’s an!
Goeze seinerseits attackierte Dreyer von der Kanzel herab, ohne den Namen seines Widersachers in den Mund zu nehmen. Alle wussten trotzdem, wen er meinte, als er von Dreyers Gedichten als von „Teufelselaboraten“ sprach und vor dem Umgang mit den Verfasser warnte. Das zeigte Wirkung, und die Zahl der Einladungen an Dreyer zu Mittags- und Abendessen nahm drastisch ab. Das veranlasste Dreyer, den Senior mit noch böseren Schmähgedichten zu attackieren. Und einige in der Stadt kursierenden anonyme gotteslästerliche Texte schrieben Dreyers Widersacher auch gleich diesem Spötter zu.
Der Senat hatte bisher das getan, was er in solchen Situationen häufig tat, er ignorierte die Konflikte und stellte sich taub. Aber im Oktober 1761 sah der Senat angesichts der Unruhe in der Öffentlichkeit keinen anderen Weg mehr, als sich der Sache anzunehmen. Man wollte Dreyer, der diplomatischen Schutz genoss, nicht direkt angreifen, sondern erließ ein „Mandat wider ausgestreute geschriebene gotteslästerliche Schriften“. Wer solche Schriften verfasste, wurde mit einer hohen Geldstrafe bedroht. Es gelang Dreyers Gegnern allerdings zunächst nicht, ihn solcher Vergehen zu überführen.
Ein Buch mit Reimen löste heftige Reaktionen aus
Aber Dreyer hätte gewarnt sein müssen und sich, so sein Biograf Alfred Dreyer, „tunlichst Zurückhaltung“ auferlegen sollen: „Aber das Gegenteil trat ein, unser Dichter schien das Schicksal geradezu herausfordern zu wollen.“ Hatte er bisher seine kurzen Spottgedichte mündlich vorgetragen oder einzeln in unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, so gab er im Frühjahr 1763 eine Sammlung dieser Epigramme heraus. Immerhin verzichtete er auf eine Autorenangabe und gab dem Buch den unverfänglichen Titel „Schöne Spielwerke“. Deshalb dauerte es drei Monate, bis Senior Goeze auf den schmalen Band aufmerksam wurde. Auch der Rat der Stadt unternahm zunächst nichts, sei es, dass er das Buch übersah, sei es, dass er es bewusst ignorierte, um keinen neuen Ärger mit Dreyer zu haben.
Denn dass Dreyer die Sammlung von 216 Reimen herausgegeben hatte, daran hegte nicht nur Senior Goeze keinen Zweifel. Manche Verse waren so anstößig, dass der Biograf Alfred Dreyer sie nicht in seinem Buch wiedergeben mochte, sondern empfahl, sie selbst im Buch nachzulesen. Nachdem Goeze das Buch gelesen hatte, ging er umgehend zum Angriff über. Er forderte den Senat auf, das Werk sofort zu verbieten, was am 16. Juni 1763 auch geschah.
Das genügte Goeze allerdings nicht. Er verfasste für das Geistliche Ministerium eine Eingabe an den Senat, die mit diesen Worten begann: „Es ist abermals, und zwar, Gott sei es geklagt, in Hamburg eine Schrift verfertigt, verlegt und gedruckt worden, vor welche der Himmel schwarz werden und die Erde erbeben mögte, eine Schrift, welche mit solchen Gotteslästerlichkeiten, die auch die Frechheit des Teufels übersteigen …“ Goeze zitierte einige der Verse, die uns auch der Dreyer-Biograf überliefert hat, von denen hier dieser wiedergegeben werden soll:
Trinkt, als ein Deutscher trinkt,
Lacht, als ein Weiser lacht.
Ahmt Gott als Christen nach,
Indem ihr Menschen macht.
Nicht ganz so anstößig mag für heutige Ohren klingen:
Trinkt hier, so viel ihr könnt,
Thut, was das Fleisch euch heißt;
Dort habt ihr keinen Durst,
dort seyd ihr lauter Geist.
Mit diesem Vers bewies Dreyer, dass er die theologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit kannte und in seine Dichtung thematisierte. Während orthodoxe Lutheraner wie Goeze überzeugt waren, dass am Jüngsten Tag der Mensch in seiner ganzen Körperlichkeit auferstehen würde, bis hin zum letzten Härchen, erwarteten die von den Gedanken der Aufklärung beeinflussten Theologen und Gläubigen eine geistige Auferstehung. Sie stellten den Glauben an die Auferstehung also nicht infrage, interpretierten die biblische Verheißung aber anders.
Darüber ließ sich debattieren, und das taten orthodoxe Prediger wie Goeze auch, wenn es sein musste mit harten Bandagen. Aber es war etwas ganz Anderes und vollkommen Verwerfliches für die orthodoxen Theologen, diese Glaubensfrage zum Gegenstand eines Spottgedichtes zu machen.
Die Ahndung für die „Schmähschrift“ scheiterte zunächst einmal
Goeze bemühte sich, die Obrigkeit gegen Dreyer und sein Buch zu mobilisieren und bezog sich dabei auf das Ratsmandat gegen Schmähgedichte. Goeze verkündete: „Nicht nur die Ehre Gottes, zugleich die Ehre der Obrigkeit ist frech mit Füßen getreten worden.“ Der Senat wurde aktiv und zwar zur Überraschung Goezes nicht nur gegen Verfasser, Verleger und Drucker der Schmähgedichte, sondern auch gegen den Senior, der aufgefordert wurde, hinfort „eine gemäßigtere Ausdrückung“ zu verwenden, „so wie es wahren Dienern unseres Heilandes anständig ist“.
Die juristische Verfolgung der Verantwortlichen des heftig attackierten Buches erwies sich als langwierig und schwierig. Dreyer konnte nachweisen, dass nicht alle abgedruckten Epigramme von ihm stammten, sondern dass er der Herausgeber des Werkes war, in dem er neben eigenen auch fremde Texte veröffentlicht hatte. Gerade die am Heftigsten kritisierten Epigramme stammten gar nicht von ihm, behauptete Dreyer, und das Gegenteil war ihm nicht zu beweisen. Hinzu kam, dass er als Diplomat Immunität genoss.
Der als Verleger Angeklagte, konnte erfolgreich argumentieren, dass er gar nicht der Verleger war, sondern sich nur um den Vertrieb des Buches gekümmert hatte und daher keine Verantwortung für die Inhalte trüge. Der Drucker kam mit einer milden Bestrafung davon, weil er ins Feld führte, Dreyer hätte ihm das Manuskript mit etlichen kleineren Lieferungen zur Verfügung gestellt und er hätte keinen Überblick über die Inhalte des Werkes gehabt. Der Senat nahm die Schutzbehauptung hin, wollte er doch die Angelegenheit rasch zu den Akten legen, wo man den Hauptverantwortlichen ohnehin nicht belangen konnte.
Der Senat ließ die wenigen Exemplare des Buches, deren er noch habhaft werden konnte, beschlagnahmen. Nach dem Verbot des Buches waren viele Exemplare unter der Hand verkauft oder nach Altona geschafft worden. Von dort aus kehrte so manches Exemplar heimlich nach Hamburg zurück. Verständlicherweise war Goeze enttäuscht und wütend angesichts des Vorgehens des Senats. Er griff nun mit heftigen Worten nicht nur Dreyer, sondern auch die städtische Obrigkeit an. Dass er die Gläubigen gegen den Senat aufhetzte, war eine Sache, aber Goeze ging so weit, zu fragen, was der Kaiser in Wien wohl von dem Verhalten des Senats halten würde, wenn ihm dieses bekannt würde.
Der Senat sah sich unter diesem Druck gezwungen, gegen Dreyer vorzugehen. Der war inzwischen nicht nur mit Goeze und seinen Amtsbrüdern konfrontiert, sondern ebenso mit den von dem Senior in Predigten aufgehetzten Gläubigen. Der Senat, stets an Ruhe und Ordnung interessiert, wollte den Spötter so rasch wie möglich aus der Stadt vertreiben.
Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als habe Dreyer sein Unglück selbst heraufbeschworen, und so ist er auch in die Hamburger Geschichte eingegangen. Aber: Irgendeine Bedeutung besaß er in der Stadt nur als dichtendes Original. Ohne seine Verse war er lediglich eine kleinwüchsige, „verwachsene“ alternde verkrachte Existenz.
Er besaß zwar einen diplomatischen Status, der ihm als Spötter nützlich, aber nur mit einem geringen Status als Sekretär eines vergleichsweise kleinen Herzogtums verbunden war. Zudem wurde er nur schlecht bezahlt. Dreyer konnte keinen Berufsabschluss vorweisen, war als Zeitungsherausgeber gescheitert und als Journalist ob seiner Reputation als Aufrührer nicht gefragt. Umso entschlossener verfasste er spöttische Gedichte, die ihm zumindest eine gewisse Anerkennung in Teilen der Bevölkerung und eine beachtliche öffentliche Aufmerksamkeit einbrachten. Er schrieb sich allerdings, so wissen wir im Nachhinein, gradlinig in sein Unglück.
Der Spötter wurde aus der Stadt vertrieben
Nachdem ihn Goeze in einer Predigt als „frechen Seelenmörder“ gebrandmarkt hatte, gefährlicher als Mörder und Räuber, bedrohten aufgebrachte Menschen wiederholt den Poeten auf der Straße. Parallel dazu entschloss sich der Senat, Schritte zu unternehmen, um Dreyer aus der Stadt zu vertreiben. Die Sache musste vorsichtig angegangen werden, denn die fürstlichen Herrscher in Holstein waren eng mit der russischen Zarenfamilie verwandt, und die wollte der Senat nicht verärgern.
Anfang September 1763 nutzte der Senatssyndikus Schuback einen Besuch von Herzog Georg Ludwig in Hamburg, um zu versuchen, den Arbeitgeber Dreyers davon zu überzeugen, den Sekretär aus Hamburg abzuziehen. Aber das lehnte der Herzog kategorisch ab. Dreyer wäre bereit, auf weitere Entgleisungen zu verzichten, erklärte sein Arbeitgeber, aber angesichts seiner Verdienste beharrte der Herzog darauf, ihn in Hamburg zu belassen.
Zwei Tage nach der Unterredung starb der Herzog am 7. September 1763 in Hamburg nach einem Schlaganfall. Die Situation nutzte der Senat, um gegen Dreyer vorzugehen. Die konfiszierten kaum mehr als zwei Dutzend Exemplare seines Buches wurden im Beisein einer größeren Menschenmenge spektakulär auf dem „ehrlosen Block“ zerrissen und die Reste verbrannt.
Dreyer sollte eine Strafe von 500 Reichstalern für seine Vergehen zahlen, eine so hohe Summe, dass er sie auf keinen Fall aufbringen konnte. Auch forderte der Rat Dreyer auf, die Stadt in Zukunft zu meiden. Dreyer, der nun ohne den Schutz des Herzogs dastand, verließ am Tag der Verbrennung seines Buches die Stadt.
Die Rückkehr des bei der Obrigkeit unbeliebten Dichters
Dreyer bemühe sich mehrfach, nach Hamburg zurückzukehren, aber das verhinderte der Senat. Der Bischof von Eutin und Herzog von Holstein teilte diese Haltung und selbst aus St. Petersburg war zu hören, Dreyer sollte nicht versuchen, nach Hamburg zurückzukehren. Dreyer übernahm nun drei Jahre lang Aufgaben für den Herzog und Bischof in Eutin und Kiel.
Immerhin besaß Dreyer noch einen Förderer, den holsteinischen Minister Caspar von Saldern. Und der reiste 1766 in einer für Hamburg wichtigen Mission in der Hansestadt. Er war beauftragt worden, die dänischen und die russischen Interessen in Holstein auf diplomatische Wege zu klären. In diesem Zusammenhang hoffte der Senat auf eine Anerkennung des Status der Hansestadt Hamburg als selbstständiger Reichsstadt. Der Senat war also auf das Wohlwollen des Unterhändlers von Saldern angewiesen, und der beharrte darauf, dass der erfahrene Diplomat Dreyer als Teil seiner Delegation mit nach Hamburg kam.
Von Saldern konnte erreichen, dass der Senat anschließend hinnahm, dass Dreyer auf Dauer in Hamburg blieb. Von Saldern sagte zu, dass Dreyer sich verpflichten würde, „literarisch zu schweigen“. Der Senat nahm die Rückkehr Dreyers notgedrungen hin, wollte ihn aber umgehend ausweisen, wenn er „seine vorigen Wege gehen“ sollte.
Dreyer genoss als herzoglicher Sekretär erneut diplomatische Immunität. Er hätte friedlich in seiner Heimatstadt leben können, zumal Goeze bei erneuten Attacken auf Dreyer keinerlei Unterstützung seiner Amtsbrüder fand. Aber Dreyer war entschlossen, seine publizistische Arbeit wieder aufzunehmen. Kurz nach seiner Rückkehr erschien die erste Ausgabe einer neuen Wochenzeitschrift mit dem langen, programmatischen Titel „Beytrag zum Nachttische, für muntere und ernsthafte Gesellschaften, bestehend in einer Sammlung von Marimen, Gedanken, Erzählungen, witzigen Einfällen, poetischen Kleinigkeiten und Rätseln; eine Wochenschrift, Hamburg, zu bekommen bey Gottfried Dalencon“. Dass Dreyer an diesem Projekt beteiligt war, blieb nicht lange verborgen, und nach einer Weile übernahm er auch offiziell die Aufgabe eines Herausgebers.
Die Zeitschrift verzichtete zunächst auf jede Polemik und fand mit Texten und Gedichten zu Lebens- und Liebesthemen viele Leserinnen und Leser. Überliefert ist dieses auch heute noch lesenswerte Epigramm Dreyers mit dem Titel „Die Wahrheit“:
Die Wahrheit mag man niemals hören,
Und hält die Schmeichelei an ihrer Statt in Ehren,
Die täuscht den Sinn durch eine süße List.
Wie kömmt es denn, daß man die Wahrheit scheuet,
Und ihr fast nie das schuldge Recht verleihe?
Man schämet sich für sie, weil sie stets nackend ist!
Hätte sich Dreyer auf solche Verse beschränkt, er wäre vielleicht doch noch als angesehener Poet in die Hamburger Kulturgeschichte eingegangen. Er veröffentlichte bald aber wieder satirische Texte, allerdings weniger aggressiv als in der Vergangenheit. Das hielt Senior Goeze nicht von weiteren heftigen Angriffen auf Dreyer ab. Gleichzeitig erschienen in der Zeitschrift immer wieder Texte, die von der tiefen Gläubigkeit Dreyers zeugen.
Sein Biograf Alfred Dreyer hat das so gedeutet: „Tiefe Religiosität und starke Neigung zur Satire, also Gottesfurcht und Menschenverachtung, Demut vor dem Höchsten, und ein loser Spott für die Mitmenschen, vermögen wohl nahe beieinander zu wohnen; auch schließt die Gegnerschaft zur herrschenden Kirche, die doch immerhin eine menschliche Einrichtung bleibt, ein starkes Empfinden für das Göttliche keineswegs aus.“
Die Reputation Dreyers in der Stadt war eine solche, dass man seine Altersmilde kaum wahrnahm und er erneut zum Ziel polemischer Attacken wurde, angeführt von Pastor Goeze. Im April 1767 muss Dreyer resigniert haben und gab die Herausgeberschaft der Zeitschrift auf. Auch schrieb er nur noch selten Beiträge für diese oder andere Publikationen. Er lebte nun, von Krankheit gezeichnet, zurückgezogen mit seiner Frau und seiner 16-jährigen Tochter. Über beide haben wir von ihm nichts erfahren, aber einige Gedichte zeugen von seiner tiefen Liebe zu seiner Frau.
Am 20. Juni 1769 ist Johann Matthias Dreyer gestorben im Alter von kaum 53 Jahren. In seinem Nachlass fand sich dieser resignative Satz: „Unser Leben ist eine Ebbe und Flut von lauter Fehlern.“ Das Hamburger Original hatte einen hohen Preis für seine Originalität bezahlt, und diesen Preis musste nach seinem Tod auch noch seine Familie bezahlen. Er hinterließ seiner Witwe und seiner Tochter nur Schulden, sodass sie in tiefe Armut gerieten. Der Schauspieler Brandes, der zu denen gehört hatte, die an Dreyer Publikationen mitgewirkt hatte, besuchte sie um das Jahr 1775: „Endlich fand ich sie, die Witwe meines Wohltäters, in einem versteckten, schmutzigen Winkel, in einer armseligen Hütte. Hier lebte sie, von ihren und seinen ehemaligen Freunden längst vergessen, in der bittersten Armut. Zur Vergrößerung des Elends ist sie fast gänzlich blind!“
Das letzte Wort in diesem Kapitel soll Johann Matthias Dreyer selbst haben. Bereits 1849 hatte er in einem Gedicht sein Gottvertrauen in diese Worte gefasst:
In Deiner Hand stehn meine Tage,
Ich halt‘ und küsse diese Hand;
Wenn ich der Welt den Abschied sage,
So führt sie mich ins Vaterland,
Wo, eh‘ Du diese Welt gemacht,
Du schon an mich, Dein Kind gedacht.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro