Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Im babylonischen Exil

 

Archäologen bestätigen, dass es tatsächlich eine Verschleppung von Israeliten nach Babylon gab. Es hat also tatsächlich entwurzelte Menschen gegeben, die am Ufer der Flüsse Babyloniens gesessen und geweint haben. Neben der Verschleppung vor allem der jüdischen Oberschicht von 597 v. Chr. hat es vermutlich 586/587 v. Chr. eine erneute Eroberung der Stadt und einen weiteren Zug von Gefangenen nach Babylon gegeben. Es ist zudem wahrscheinlich, dass es zu einer neuen Deportation kam, nachdem der babylonische Statthalter Gedalja in Juda ermordet worden war. Die drohende Rache der Babylonier war der Anlass für den Propheten Jeremia, nach    Ägypten zu flüchten.

 

Die Frage, wie viele Menschen insgesamt deportiert wurden, war von Anfang an keine Frage der Statistik. Wenn das ganze Volk durch seinen Abfall von Gott für die Katastrophe verantwortlich war, war es auch angemessen, dass das ganze Volk zur Strafe ins Exil gehen musste. Nach der zweiten Deportation berichtet Jeremia, dass „alle miteinander gefangen nach Babel“ geführt wurden (Jeremia 39,9). Es gab einen weiteren gewichtigen Grund für die anscheinend komplette Deportation ins Exil, und die wird erst am Ende des Exils erkennbar: Diejenigen, die aus dem Exil zurückkehrten, verstanden sich als das Volk Gottes und nicht etwa die Zurückgebliebenen in Juda, noch weniger diejenigen Juden, die nach Ägypten ausgewandert waren, und die „Mischbevölkerung“ im früheren Nordreich schon gar nicht. Es ging um die Frage, wer religiös und politisch das Sagen haben sollte im nachexilischen Israel.

 

Und in diesem Konflikt war es für die aus Babylonien zurückgekehrten Juden naheliegend, in ihren Schriften zu verkünden, dass alle oder doch fast alle Menschen in Jerusalem und im übrigen Juda nach Babylonien verschleppt worden waren. „Wir sind das Volk“, war ihr Anspruch. Diejenigen, die das Exil durchlitten hatten, sahen sich als das wahre Israel. Das vereinte alle Gruppierungen im babylonischen Exil, während zum Beispiel die Frage, ob das Königtum zu einem endgültigen Ende gekommen war oder wiederbelebt werden sollte, unter ihnen umstritten blieb.[1]

 

Tatsächlich dürften lediglich einige Tausend Menschen nach Babylonien verschleppt worden sein, vor allem jene Mitglieder der Oberschicht, die den babylonischen Herrschern unzuverlässig erschienen. So sollte Aufständen vorgebeugt werden. Mitglieder der Elite, die bereit waren, für stabile Verhältnisse im Sinne der Besatzer zu sorgen, konnten im Land bleiben und bekamen ein gewisses Maß von Selbstverwaltung zugestanden. An Euphrat und Tigris geholt wurden auch Handwerker und Soldaten, denn der Personalbedarf für Bauvorhaben und für die Armee war unter Nebukadnezar II. enorm hoch. In beiden Bereichen wurde eine große Zahl von Männern aus eroberten Ländern eingesetzt.

 

Die Mehrheit der Bevölkerung blieb in Juda, denn die babylonischen Herrscher hatten kein Interesse an entvölkerten Regionen in ihrem Reich und dies schon gar nicht im Grenzgebiet zum verfeindeten Ägypten. Vor allem aber war eine größere Bevölkerung in den eroberten Gebieten unverzichtbar, wenn man hohe Steuern und Abgaben eintreiben wollte. Die in der Heimat Gebliebenen waren also der ökonomischen Ausbeutung durch die Babylonier ausgesetzt, aber schon vor der babylonischen Besetzung hatte sich die Bevölkerung an eine hohe Steuer- und Abgabenlast zur Finanzierung des Königshofes und des Staates gewöhnen müssen.

 

Manche Familien profitierten nun davon, dass sie die verlassenen Güter wohlhabender Familien übernehmen konnten, die nach Babylonien verschleppt worden waren. Dies blieb bei den Familien im Exil nicht unbekannt und verschärfte am Ende der Exilszeit noch die Spannungen zwischen Zurückkehrenden und Daheimgebliebenen. Unter denen, die die Herrschaft Nebukadnezars II. und seiner Nachfolger in Juda erlebten, gab es nach den vorliegenden biblischen Berichten Kontroversen darüber, ob man die babylonische Herrschaft hinnehmen oder den Aufstand wagen sollte. Aufstandsversuche wurden allerdings mehrfach brutal unterdrückt und verschlechterten die Lebenssituation der Menschen in Juda noch weiter.

 

In Babylon und im übrigen Babylonien waren die Lebensumstände der verschleppten Juden vermutlich besser, als dies nach den biblischen Berichten erscheinen könnte. Während die Assyrer die verschleppte Bevölkerung aus dem jüdischen Nordreich im Exil verstreut ansiedelte, um koordinierte Aufstände zu verhindern, verfolgten die Babylonier eine andere Strategie. Die jüdischen Verschleppten wurden in größeren Gruppen in mehreren Orten angesiedelt und konnten hier Landwirtschaft und Handel betreiben. Das antike Tel Aviv, der „Hügel des Frühlings“, war solch ein Ort.

 

Es gab für die neu Angesiedelten gewisse Rechte, solange sie keinen Aufstandsversuch unternahmen, und es war ihnen sogar erlaubt, Sklaven zu halten. Auch bestand ein kleiner Grad lokaler Selbstverwaltung, was aber nicht überbewertet werden sollte, denn alle wichtigen Entscheidungen wurden in Babylon getroffen.

 

Detaillierte Berichte fehlen bisher, aber es kann angenommen werden, dass viele Deportierte aus Juda ebenso wie andere Deportiertengruppen auf staatlichen Domänen eingesetzt wurden. Francis Joannès, Professorin für Alte Geschichte in Paris, schreibt über diese Deportierten: „Sie unterstanden der königlichen Verwaltung, waren aber im Allgemeinen von den Autoritätspersonen aus der Heimat angeführt, die als Verbindungsleute zu den babylonischen Verwaltern fungierten. So waren Exilierte zunächst nichts anderes als Knechte auf den Ländereien der Krone.“[2]

 

2015 zeigte das „Museum der Länder der Bibel“ in Jerusalem eine Ausstellung mit babylonischen Keilschrifttafeln aus der Zeit des jüdischen Exils. Die Ausstellung löste in der Fachwelt heftige Debatten aus, weil der Vorwurf erhoben wurde, die Tafeln würden aus illegalen Grabungen und illegalem Handel mit archäologischen Objekten aus dem Irak stammen. In unserem Zusammenhang ist aber vor allem hervorzuheben, dass die Texte eindrucksvoll belegen, dass die Exiljuden sich sehr viel rascher in die babylonische Gesellschaft integriert haben, als man früher angenommen hatte.

 

Der Kurator der Ausstellung, Filip Vukosavovic, äußerte über die Tafeln zum Leben der Juden im Exil in der Stadt Al-Yahudu: „Sie lehren uns, dass sie keine Sklaven waren wie die Sklaven in Ägypten. Sie lehren uns, dass sie einfach freie Menschen in  Babylon waren, die nicht nur in Al-Yahudu lebten, sondern auch in einem Dutzend anderer Städte. Dort lebten die Juden und gingen ihren Geschäften nach.“ Der Kurator ist nach der Auswertung von etwa 100 Keilschrifttafeln zu diesem Ergebnis über die Situation der Exiljuden gekommen: „Sie wurden als vom Staat abhängige Menschen betrachtet, sie zahlten Steuern und befolgten die babylonischen Gesetze. Es war eine multikulturelle Gesellschaft, in der es neben den Juden auch andere Exilgruppen aus anderen Nationen gab.“

 

Psalm 137 – Trauer und Zorn

 

„An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“ Mit diesem berühmten und berührenden Vers beginnt der 137. Psalm, der die Erfahrungen der Juden im babylonischen Exil zum Thema hat. Den Verschleppten war nicht nach religiösen Gesängen zumute: „Wie könnten wir des HERRN Lied singen in fremdem Lande?“ (Psalm 137,4). Aber sie wollten die Erinnerung an die Heimat wach halten. Und so verkündet der Psalmist, dass seine Rechte verdorren sollte, wenn er Jerusalem vergessen würde. Die Treuebekenntnisse zur Heimat werden im Psalm verbunden mit Verwünschungen gegen das Nachbarland Edom, das die Eroberung Jerusalems für Plünderungen genutzt hatte, und natürlich besonders gegen Babylon, „du Verwüsterin“.

 

Der Psalmist hofft auf Vergeltung: Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!“ (Psalm 137,9). Ob dieser Satz noch in der Zeit des Exils oder erst später, eventuell Jahrhunderte später, geschrieben wurde, lässt sich bisher nicht eindeutig feststellen. In jedem Fall muss der Hass, der in diesem Vers zum Ausdruck kommt, zutiefst erschrecken. Und mit diesem Erschrecken bleiben wir etwas ratlos zurück, denn hier endet der Psalm abrupt.

 

Dieser Hassausbruch lässt ahnen, wie tief gehend das Trauma der Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Tempels, des Endes der Monarchie und Eigenstaatlichkeit und der Verschleppung nach Babylonien war. Nicht nur die Identität als Volk, auch der Glaube der Juden war aufs Höchste gefährdet. Viele Völker und Religionen in einer vergleichbaren Situation sind für immer aus der Geschichte der Menschheit verschwunden. Warum das dem Gott der Juden und seinem Volk nicht passiert ist, gehört zu den spannendsten Entwicklungen in biblischen Zeiten und wird uns in diesem Buch noch eine Weile beschäftigen.

 

Aber mich ließ die Frage nach den zerschmetterten jungen Kindern nicht in Ruhe, und bei der Frage, wie wir diesen Hassausbruch heute deuten können, stieß ich auf den Buchaufsatz „An den Strömen Babels …“ von Ruth Scoralick, Professorin für Altes Testament an der Universität Tübingen.[3] Für sie geht es in den Versen 7-9 zentral um die Gottesbeziehung. „JHWH wird angerufen. Er soll des ‚Tages Jerusalems‘ eingedenk sein, der ganzen katastrophalen Ereignisse im Zusammenhang mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels.“[4]

 

Gott wird in Vers 8 aufgefordert, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Im Vers 9 geht es nach Auffassung von Ruth Scoralick nicht nur um die Babylonier, „sondern es geht um Nachkommenschaft im Blick auf das, was die Tochter Babel verkörpert. Babel steht im Text für die brutale, zerstörerische Weltmacht schlechthin – es ist schon im Kern zerstört, dem Untergang geweiht (V.8). Es gibt aber Nachfolgebewegungen, ähnliche Gebilde, Nachwuchs an ähnlichen Herrschaftssystemen. Das Prinzip pflanzt sich fort. Diese Nachkommenschaft soll gnadenlos zerstört werden.“[5]

 

Ist dies also ein Psalm gegen alle brutalen Unrechtsregime der Welt? Sollen die Kleinkinder doch nicht an Felsen zerschmettert werden? Mir bleiben Zweifel, und die werden durch die Ausführungen der Autorin einige Seiten weiter in dem Aufsatz vertieft. Denn das hebräische Verb, das im Deutschen mit „zerschmettern“ übersetzt wird, wird in den Psalmen nur in diesem einen Vers verwendet.

 

Wir finden dieses Verb allerdings in Jeremia 51 wieder, in dem in den Versen 20-24 die Verbrechen  Babylons und die Bestrafung für diese Taten benannt werden. Im Bibelabschnitt Jeremia 50 und 51, auf den ich noch ausführlicher eingehen werde, wird der Hass  gegen Babel wie nirgends anderswo in der Bibel immer und immer wieder herausgeschrien. Hier geht es nicht um alle brutalen Reiche der Welt, sondern um ein ganz konkretes Reich, dem mit unverhohlenem Hass der Untergang gewünscht und prophezeit wird. Man kann mit der Autorin des Aufsatzes davon sprechen, dass das Zusammenspiel der Stellen Psalm 137,9 und Jeremia 51,20-24 „den Gedanken der gerechten Vergeltung für begangene Taten“ verstärkt,[6] man kann allerdings auch die Auffassung vertreten, dass dieses Zusammenspiel das Bild vom Zerschmettern der Kinder nur noch brutaler erscheinen lässt, weil nun der kurze Vers in Psalm 137 in einen Zusammenhang gestellt wird mit einem viel ausführlicheren Text des Hasses und der Vernichtungsfantasien.

 

Wenn man annimmt, dass sich die Verse 8 und 9 in Psalm 137 gegen alle Unrechtssysteme richten, bleibt das Problem, dass die Herrscher des persischen Weltreiches, vor allem König Kyros, in mehreren Bibeltexten, gepriesen werden, obwohl ihre Herrschaft nicht minder brutal war als die der Babylonier. Aber auch wenn man sich der Relativierung der brutalen Verwünschungen anschließt, bleibt immer noch das Problem, dass der allergrößte Teil der Leserinnen und Leser des biblischen Psalms den Text so versteht, wie er geschrieben steht, und das war sicher schon in antiken Zeiten so. Die Wirkungsgeschichte solch brutaler biblischer Aussagen kann gar nicht überschätzt werden und dies jenseits der Verwünschungen gegen die Stadt Babylon und ihre Bewohner.

 

Dass von Gott erwartet/erhofft wird, dass er die Bestrafung der Babylonier vornimmt, wird von manchen Interpreten so ausgelegt, dass die Menschen die Rache nicht selbst in die Hand nehmen, was sie entlaste. Aber kann dies der Gott, zu dem wir beten, sein, von dem erwartet wird, dass er dafür sorgt, dass kleine Kinder gegen Felsen geschleudert werden? Gewiss, er hat die Freiheit, diesen Rachegelüsten von gedemütigten Menschen zu widerstehen, aber schon die Erwartung, er könnte diesem Wunsch entsprechen, zeugt aus heutiger Perspektive von einem problematischen Gottesverständnis.

 

Kann man heute noch beten, dass Kinder an Felsen zerschmettert werden sollen?

 

Kann man diese Psalmverse heute noch beten? Die römisch-katholische Kirche hat das Ende des Psalms 137 aus der verbindlichen Auflistung der Stundengebete herausgenommen und mit Klammern versehen. Dies geschah auf Initiative von Papst Paul VI. anlässlich des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dadurch, dass das Konzil die Gläubigen dazu ermutigt hat, die Psalmen als Stundengebete in der jeweils eigenen Sprache zu beten, hatte sich die Problematik von Gewaltfantasien in diesen biblischen Texten zugespitzt. 1971 wurde deshalb in einem vatikanischen Erlass festgelegt, dass drei Psalmen, in denen der „Fluchcharakter“ überwiegt, nicht in der Liste der Psalmen für das Stundengebet berücksichtigt werden, in weiteren 19 Psalmen werden einzelne Verse ausgelassen, so auch das Ende von Psalm 137.

 

Die Debatte, wie mit den Gewaltfantasien in der Bibel und besonders in den Psalmen umgegangen werden sollte, geht in den Kirchen weiter. Die katholische Diplomtheologin Ursula Silber vertritt die Auffassung: „Die Psalmen, gerade die ‚Feindpsalmen‘, halten in unserer Mitte das Bewusstsein für Unrecht, Bedrohung und Gewalt wach. Sie bestehen darauf, dass die Gerechtigkeit ein unaufgebbares Postulat ist. Und sie nähren die Hoffnung, dass es nicht so bleiben muss, wie es ist – auch gegen den Augenschein der Realität. Die Psalmen sind in diesem Sinne realistisch und widerständig, auch und gerade in den lauten und schrillen Tönen mancher Verse.“[7]

 

Sie verweist darauf, dass auch für die „Feinde“ immer ein Rest Hoffnung bleibt, wenn sie den Weg der Umkehr einschlagen. Das lässt sich an mehreren Psalmen zeigen, aber in Psalm 137 fehlt ein solcher Hinweis auf eine mögliche Umkehr. Das macht ihn als Gebetstext besonders problematisch. Der Psalm endet mit Rachewünschen und weist keinen Weg zur Versöhnung auf. Gewiss stehen viele Christinnen und Christen in der Gefahr, im Namen der Versöhnung eine klare Benennung und Beendigung von Unrecht hintanzustellen. Aber wo am Ende nur der Wunsch nach einer brutalen Rache bleibt, besteht die Gefahr einer Fortsetzung der Spirale von Gewalt und Unrecht.

 

Auf die Gefahr einer vorschnellen Distanzierung vom biblischen Erbe ist mit Karl Waldeck, den Direktor der Evangelischen Akademie Hofgeismar, hinzuweisen: „Mit Blick auf den 137. Psalm ist es gewiss ein Fortschritt protestantischer Theologie, Gewaltphantasien nicht abzuspalten und allein Israel, dem Volk des Alten Bundes zuzuschreiben, auf dass der Neue umso glänzender dastehen möge! Psalm 137, vom Anfang bis zum Ende – wir mögen es gerne hören oder nicht – ist, um es mit einem schillernden Begriff dieser Tage zu sagen, Teil unseres christlich-jüdischen Erbes.“[8]

 

Tilgen können und sollen wir die Verse aus dem 137. Psalm nicht, aber beten sollten wir sie auch nicht, meine ich. Ursprünglich war dies ein Aufschrei gegen traumatisch erlebte Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Ein solcher Aufschrei hat seinen Platz in einer Religion, die Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit verheißt. Aber die meisten von uns, gerade in diesem Land, leben nicht in einer vergleichbaren Situation, und das kann und soll sich auch in unseren Gebeten widerspiegeln. Wir müssen uns fragen, was Menschen dazu bringt, zu solchen Hassausbrüchen zu kommen, aber wir müssen uns diesen Hass nicht zueigen machen und beten, dass die jungen Kinder von Feinden brutal ermordet werden. Auch sollten wir unser Bild von Babylon nicht einseitig von diesem Bild des Hasses prägen lassen.

 

Mit einer Reggeaband an den Ufern von Babylon

 

Weltweite Beachtung fand der Psalm 137 durch den Song „Rivers of Babylon“. Der Titel wurde 1970 von der jamaikanischen Reggaeband „The Melodians“ produziert. Das Gesangstrio war 1963 gegründet worden und konnte von 1967 an mit Hits wie „Sweet Sensation“ in Jamaika und auch international beachtliche Erfolge feiern. Aber der Durchbruch der „Melodians“ kam mit „Rivers of Babylon“. Als Textgrundlage für ihren Song wählten die Musiker den Psalm 137, wobei aber das Ende des Psalms unberücksichtigt blieb.

 

Unter dem Einfluss der Rastafari-Bewegung von Schwarzen in der Karibik wurde die Verschleppung der Juden nach Babylon zur Metapher für die Verschleppung der afrikanischen Sklaven in die Karibik, unter deren Folgen die Nachfahren dieser Sklaven bis heute leiden. Für die Rastafari-Bewegung ist Babylon das Synonym für alle repressiven und unterdrückerischen Regierungssysteme, das kapitalistische Wirtschaftssystem und auch die christlichen Kirchen. Die westliche Zivilisation wird als „Hure Babylon“ verstanden.

 

Bob Marley, der berühmteste Rastafari-Musiker aus Jamaika, hat mit Songs wie „Chant down Babylon“ (Singt Babylon nieder) und „Babylon System“ das negative Bild von Babylon unter den Rastafari-Gläubigen und auch unter vielen anderen Liebhabern seiner Musik gefestigt. Babylon steht in diesem Weltverständnis für das Böse und Rastafari für das Gute, die sich so schroff gegenüberstehen, wie Johannes in seiner biblischen Offenbarung den endgültigen Kampf von Gut und Böse beschrieben hat. Diese Offenbarung des Johannes hat einen zentralen Platz im Rastafari-Glauben, und die Verheißungen für einen siegreichen Kampf gegen  Babylon werden auf die eigene Situation übertragen. Die Rastafari-Gläubigen werden, so sind sie überzeugt, den Untergang Babylons überleben und ihr „Neues Jerusalem“ in Afrika finden.[9]

 

In „Rivers of Babylon“ wird die biblische Geschichte neu interpretiert, ohne sie grundsätzlich umzuschreiben. Mit der Reggaeversion von Psalm 137 können sich viele Menschen identifizieren, die fern der Heimat im Exil leben, um ihre Identität ringen und eines Tages nach Hause zurückkehren möchten. Und wie vor Jahrtausenden manche Juden im babylonischen Exil wollen keineswegs alle Rastafari-Anhänger in der Karibik tatsächlich in die frühere Heimat zurückkehren, aber zumindest geistig gilt es, die Brücken nach Afrika und besonders nach Äthiopien nicht abbrechen zu lassen.

 

Eine noch größere Popularität erlangte der Song „Rivers of Babylon“ 1978 in der Discoversion der Gruppe Boney M. unter Leitung des Produzenten Frank Farian. Die Musiker stammten aus der Karibik und waren als Kinder oder Jugendliche nach Europa gekommen. Der Weg des Exils hatte also von Afrika über die Karibik nach    Europa geführt. Hier sang die Gruppe nun:

 

Bei den Flüssen von Babylon, da setzten wir uns hin,

Ja wir weinten, als wir uns an Zion erinnerten.

Bei den Flüssen von Babylon, da setzten wir uns hin,

Ja wir weinten, als wir uns an Zion erinnerten.

 

In der „Boney M.“-Version des Songs wurden gegenüber der jamaikanischen Fassung zwei signifikante Änderungen vorgenommen. In der Rastafari-Version wird im zweiten Vers der „Song of King Alpha“ gesungen. Das nimmt auf, dass Kaiser Haile Selassie von Äthiopien im Glauben der Rastafari Göttlichkeit besitzt und in Anlehnung an Offenbarung 1,8 („Ich bin das A und O“) als „King Alpha“ tituliert wird. Der Begriff Rastafari leitet sich von „Ras“ ab, im Amharischen ein Ehrentitel des äthiopischen Kaisers. In der Version von „Boney M.“ ist statt vom Lied des „King Alpha“ von „the Lord’s song“ die Rede, was auf einem europäischen kulturellen und religiösen Hintergrund als Verweis auf den Gott der Christenheit und des Judentums verstanden werden könnte. Aus der Aufforderung im dritten Vers, den „song of freedom“ zu singen, wird ein „song of love“, was dem Song natürlich seine politische Botschaft in erheblichem Umfang raubt.

 

In dieser politisch und religiös „entschärften“ Version eroberte „Rivers of Babylon“ europaweit die Hitparaden und konnte in Deutschland 17 Wochen lang den ersten Platz verteidigen. Weltweit ist der Song mehr als vier Millionen Mal verkauft worden. Er gehört zu den erfolgreichsten jemals produzierten Songs mit einem biblischen Thema. Diese Version von „Rivers of Babylon“ wurde nie von mehr Menschen gemeinsam gesungen als 1979 im katholisch geprägten Irland. Etwa 280.000 Gläubige sangen das Lied beim Papstbesuch in der irischen Stadt Galway, bemerkenswert für einen Titel, der Rastafari-Wurzeln hat und in seiner ursprünglichen Form als gemeinsame Hymne der Rastafari-Bewegung bekannt wurde, und in dieser Bewegung gilt die römisch-katholische Kirche nicht selten als Teil von „Babylon“.

 

Das Blut floss in Strömen

 

Nicht nur in Songs, sondern auch im Theater lebt die Verbindung von Babylon und Unterdrückung weiter. Elfriede Jelinek hat 2004 ihrem Theatertext über die historische und gegenwärtige Verflechtung von Gewalt, Sexualität und Religion den Titel „Babel“ gegeben. Aktueller Anstoß für das Stück der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin war die Fernsehberichterstattung über die Misshandlungen und Demütigungen irakischer Gefangener im Gefängnis Abu Ghraib durch US-Soldaten im Jahre 2004.

 

Mit dem Titel „Babel“ nimmt Elfriede Jelinek Bezug auf eine irakische Sportzeitschrift gleichen Namens, die von einem Sohn Saddam Husseins herausgegeben wurde, ebenso auf die biblische Geschichte vom gescheiterten Turmbau. Die Flut der Worte und Bilder in der heutigen Mediengesellschaft spiegelt sich in „Babel“ wider. Dabei spannt die Autorin einen weiten Bogen. In einem Interview äußerte sie: „Dieser Krieg ist so sehr als Live-Übertragung dahergekommen, dass ein Abstraktionsvorgang durch vielfältige Assoziationen, von der Antike bis zu anderen Mythen, von der Psychoanalyse bis zu Aischylos, von politischer Analyse bis zur Philosophie Nietzsches, vielleicht die Wahrheit eher herausbringt als dieses so genannte ‚in Echtzeit dabei sein‘, denn natürlich wird auch den ‚embedded journalists‘ nur gezielt gezeigt, was sie sehen dürfen. Die Aufgabe eines Autors ist das Entmythologisieren, die Wahrheit hinter diesen Lügen, die sich für Wahrheit ausgeben, bloß weil sie das erste Wort gehabt haben.“[10]

 

Der Text des Theaterstücks enthält drei lange Monologe, und der Redefluss der Akteure zur Medienberichterstattung über den Irakkrieg, zu religiösen Themen, Psychoanalyse, Medizin und weiteren Themen – gepaart mit einer Vielfalt von Bildern – ist fast so erdrückend wie die Text- und Bilderflut in den Medien. Die heutige Sprachverwirrung besteht, zeigt dieses Theaterstück, nicht in dem Aufeinandertreffen verschiedener Sprachen, sondern in einem so großen Überangebot an Informationen, dass Verwirrung zurückbleibt.

 

Den längsten Monolog spricht Peter. Es ist, so Elfriede Jelinek in einem Interview, „einer der halb verbrannten, verstümmelten, an das Brückengeländer von Falludscha gebundenen Körper der US-Söldner, Angehöriger eines privaten Sicherheitsdienstes. Diese Privatisierung des Krieges hat mich sehr beschäftigt.“[11] Peter sagt in seinem Monolog über seinen Tod: „Mich haben sie hier hingehängt. Ohne jede Scham und ohne inhaltlichen Gesamtzusammenhang mit mir.“[12] Im Monolog Peters bildet die Misshandlung irakischer Gefangener im Gefängnis Abu Ghraib durch amerikanische Soldatinnen und Soldaten ein zweites wichtiges Thema, nicht zuletzt die Tatsache, dass die Täter ihre Verbrechen fotografierten. Peter sagt: „… wenn Sie mich fragen, was mir gefällt: das Springen auf einen Berg nackter Häftlinge und das Drauftreten mit Stiefeln auf Hände und Füße von Inhaftierten“.[13]

 

Veröffentlicht wurde „Babel“ von Elfriede Jelinek ohne Regieanweisungen, was dem Regisseur die Freiheit und Last überträgt, aus den drei Monologen eine Bühnenaufführung zu gestalten. Der „Deutschlandfunk“ gab seiner Besprechung der Urauf-führung den Titel „Das Wiener Abu-Ghraib-Spektakel“.[14] Manche Szenen des Stücks, das Nicolas Stemann 2005 auf der Grundlage des Theatertextes am Wiener Akademietheater inszenierte, waren geeignet, die Vorstellungen vom sündigen Babel zu festigen, etwa, als drei Männer die Größe ihrer Penisse verglichen, Stripperinnen auftraten und zum Schluss Blut in Strömen floss. Die Mischung von Pornografie, Gewalt und Krieg hat viele Zuschauerinnen und Zuschauer irritiert und aufgewühlt, hat Debatten ausgelöst.

 

Wer die komplexen Sprachbilder von Elfriede Jelinek schwierig findet, dem sei   gesagt, dass es noch eine Steigerung gibt. Das beweist Bärbel Lücke in weiten Teilen ihres Essays am Ende der Buchfassung der Stücke „Bambiland“ und „Babel“.[15] Ohne Philosophie- und Psychologiestudium gehört man offenkundig nicht zur angedachten Leserschaft des Essays, und die Erwartung oder Hoffnung, eine Autorin hätte ein Interesse an einer guten Verständlichkeit ihres Textes, sollte man auch nicht hegen. Etwas bissig könnte man weite Teile dieses Essays als neue Form der babylonischen „Sprachverwirrung“ bezeichnen, bei der Sprache nur noch eine kleine elitäre Gruppe erreicht, während alle anderen verwirrt zurückgelassen werden.

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann

 


[1] Vgl. hierzu u. a.: Rainer Albertz: Die Exilszeit, a. a. O., S. 16ff.

[2] Francis Joannès: Von der Verzweiflung zum Neuanfang, Das Leben der Deportierten in

Babylon, in: Welt und Umwelt der Bibel, 3/2005, S. 28.

[3] Ruch Scoralick: „An den Strömen Babels …“ (Ps 137,1), in: Forum Mission, Band 5/2009, S. 68ff.

[4] Ebenda, S. 75.

[5] Ebenda, S. 79.

[6] Ebenda, S. 82.

[7] Ursula Silber: „Das Eingeklammerte beten wir nicht mit“!?, Zur Problematik der „Feindpsalmen“ in der christlichen Rezeption, Vortrag bei der 42. Internationalen Christlich-Jüdischen Bibelwoche, 2010, Manuskript, S. 9.

[8] Karl Waldeck: Predigt anlässlich der Einführung als Akademiedirektor am 6. März 2011, Manuskript, S. 5f.

[9] Vgl. u. a. Dieter Scholz. Das Babylon-System, in: Babylon Mythos, München 2008, S. 187f.

[10] „Bis ich am Boden aufschlage“, Interview mit Elfriede Jelinek, Profil, 5. 3. 2005.

[11] Ebenda.

[12] Elfriede Jelinek: Bambiland, Reinbek 2004, S. 188.

[13] Ebenda, S. 147.

[14] Hartmut Krug: Das Wiener Abu-Ghraib-Spektakel, Deutschlandfunk, 19. 3. 2005.

[15] Elfriede Jelinek: Bambiland, a. a. O., S. 229ff.