Leonardo Boff - an der Seite der Armen und im Konflikt mit dem Vatikan

 

Heiligabend in Berchtesgaden, mit zwei Meter hohem Schnee und 15 Grad Minus. Um elf Uhr abends versammeln sich die Bauernfamilien aus den Tälern der Umgebung zur Messe in der Kirche, wo dieses Mal ein Priester aus Brasilien am Altar steht. Nach der Messe sieht der Priester die kleinen Lichter verschwinden, die den Gläubigen den Weg zu ihren Berghöfen weisen. Er selbst kehrt in das Franziskanerkloster zurück. Um 1.30 Uhr in der Nacht klingelt es an der Pforte des Klosters. Eine alte Frau steht vor der Tür und sagt dem Mönch, der Dienst hat: „Das ist für das ausländische Paterle, das am Altar stand.“ Der brasilianische Pater wird gerufen und empfängt ein sehr schön geschmücktes Päckchen: „Sie sind so weit weg von Ihrem Land und Ihrer Familie. Nehmen Sie dieses kleine Geschenk an. Heute soll auch für Sie Weihnachten sein.“ Sie schüttelt dem Priester die Hand und verschwindet in der Nacht.

 

Als der Priester das Päckchen öffnet, findet er darin eine große rote Kerze und einen Ständer aus schwerem Metall. Er zündet die Kerze an und hat sich später an diesen Weihnachtsabend so erinnert: „Danach fühlte ich mich nicht allein. Weit weg von meiner Heimat, war das Wunder geschehen, das alle Weihnachten geschieht: das Fest der Geschwisterlichkeit. Eine unbekannte Frau aus dem Volk hatte die Botschaft des Kindes verstanden, das fröstelnd zwischen Ochs und Esel lag. Mache den Fremden zu einem Nachbarn und den Nachbarn zu einem Bruder.“ Der Priester zündet diese Kerze seither an jedem Weihnachtsabend an. Und wenn er sie anzündet, erinnert sie ihn an eine glückliche Nacht trotz Schnees, Einsamkeit und Heimweh. Die Kerze erinnert ihn daran, „dass Schenken mehr ist als Geben. Sie steht für Weihnachten in all seiner menschlichen und göttlichen Bedeutung. Diese Kerze ist mehr als nur eine Kerze wie jede andere. Sie ist zu einem Weihnachtssakrament geworden, das auch heute noch scheint und wirkt.“[1]

 

Ein Leben für die Befreiung

 

Der Beschenkte, Leonardo Boff, wurde am 14. Dezember 1938 in Concordia im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina geboren. Seine Eltern waren italienische Einwanderer. Ihr Sohn erinnerte sich Weihnachten 2011 an seine Kindheit und besonders die Weihnachtszeit: „Das waren Zeiten einfachen, tiefen Glaubens, der alle Lebensbereiche durchzog. Für uns Kinder war Weihnachten der Höhepunkt des Jahres, auf den wir uns eifrig vorbereiteten und den wir sehnsüchtig erwarteten. Schließlich würde das Christkind mit einem kleinen Esel kommen und uns Geschenke bringen.“[2]

 

Kurz vor Weihnachten wurde eine Kiefer aus dem Wald geholt und von den Kin­dern mit Selbstgebasteltem aus buntem Papier und Zellophan sowie eigenen Bil­dern geschmückt. Die Mutter stellte Lebkuchen, die Menschen und kleine Tiere darstellten, für den Weihnachtsbaum bereit. Und unter dem Baum wurde die Geburtsgeschichte in Bethlehem mit Figuren aus Papier abgebildet: „Da gab es den guten Josef, Maria, etwas im Hintergrund die Weisen aus dem Morgenland, die Hirten, das kleine Schaf, den Ochsen und dem Esel, ein paar Hunde und die singenden Engel, die wir an die niedrigsten Äste der Kiefer hängten. Und in der Mitte natürlich das Jesuskind. Als wir ihn so halbnackt sahen, stellten wir uns vor, wie er vor Kälte bibberte, und wir waren von Mitleid erfüllt.“[3] Wenn sich Leonardo Boff an die Weihnachten seiner Kindheit erinnert, bekennt er: „Wir lebten in der herrlichen Epoche der Mythen … Die Geschichten über die Geburt Jesu, die sich in den Evangelien finden, beinhalten historische Elemente, doch um ihre religiöse Bedeu­tung zu unterstreichen, sind sie in mythischer und symbolischer Sprache erzählt. Für uns Kinder war alles davon wahr, und wir nahmen es mit Begeisterung auf.“[4]

 

Als Erwachsener nahm Leonardo Boff Abschied von der Vorstellung, dass sich die Geburtsgeschichte in Bethlehem so abgespielt hatte, wie sie von den Evangelisten aufgeschrieben wurde. Aber er blieb seinem Glauben treu und auch seiner tiefen Achtung vor den Mythen. Leonardo Boff trat 1959 in den Franziskanerorden ein und studierte Theologie. Nach der Priesterweihe im Jahre 1964 setzte der junge Theologe seine Studien an verschiedenen europäischen Universitäten fort, u. a. in Würzburg und München. Einer seiner Professoren war der berühmte Theologe Karl Rah­ner. In München promovierte Leonardo Boff 1970, und interessanterweise war der zweite Gutachter seiner Arbeit Joseph Ratzinger, den späteren Papst. Nach Brasilien zurückgekehrt, wurde Leonardo Boff zum Pro­fessor für Systematische Theologie berufen. Daneben betreute er ein theologisches Verlagsprogramm und war verantwortlicher Redakteur einer theologischen Zeitschrift.

 

Aber er merkte bald, dass seine Theologie für die Menschen in den Gemeinden zu abgehoben war. Als er einige Zeit nach seiner Rückkehr ins Amazonasgebiet reiste, um Exerzitien zu halten, musste er feststellen, dass die Pastoralmitar­bei­terinnen und -mitarbeiter mit dem „hochgescheiten Zeug“, das Boff in Deutschland ge­lernt hatte, nichts anfangen konnten. Sie sahen sich in ihrer alltäglichen Arbeit in Amazonien mit Armut und der Ausrottung der Indianer konfrontiert, und der in Europa ausgebildete Theologe war angesichts dieser Alltagserfahrungen sprachlos. An seinen Schreibtisch zurückgekehrt, fing er an, das Buch „Jesus der Befreier“ zu schreiben, das zu einer Grundlage für die Theologie der Befreiung wurde.[5]

 

International bekannt wurde Leonardo Boff, als ihm der Vatikan 1985 ein Rede- und Lehrverbot, offiziell „Bußschweigen“ genannt, erteilte. Vorher war er von Kardinal Ratzinger, damals Leiter der Glaubenskongregation, in den Vatikan beordert worden, um über sein Buch „Kirche: Charisma und Macht“ zu sprechen, das bei den Kirchenoberen großes Missfallen hervorgerufen hatte. Leonardo Boff musste sich auf den Stuhl setzen, auf dem schon Galileo Galilei verhört worden war. Der danach zum Schweigen verurteilte Befreiungstheologe nutzte die verordnete Zeit des „Bußschweigens“, um weitere Bücher zu schreiben. Und auch nach dem Ende der Strafzeit schrieb er weiterhin kritische Artikel zu Zölibat und der Machtausübung durch Va­tikan und die Bischöfe der brasilianischen Kirche.

 

1992 wurde Leonardo Boff erneut mit einer Disziplinarstrafe konfrontiert. Auch musste er auf Druck von Kardinal Ratzinger und des lokalen Bischofs die Leitung der Redaktion der von ihm betreuten theologischen Zeitschrift aufgeben. Daraufhin ent­­schloss sich Leonardo Boff, aus dem Franziskanerorden auszutreten und sein Priesteramt aufzugeben. Damit verlor er auch seinen Lehrstuhl, wur­de aber an die Staatliche Universität von Rio de Janeiro berufen, um Ethik, Philosophie und Reli­gion zu unterrichten. Er hat die ehelose Lebensweise aufgegeben und lebt mit Mar­cia Maria Monteiro de Miranda zusammen: „Ich finde es gut, mit einer Frau zu leben, Marcia, die jahrelang in einer Favela gearbeitet hat und dort weiterhin ar­beitet und unter harten Bedingungen sechs Kinder großgezogen hat. Ich stehe gerne auf demselben Boden, auf dem die Leute stehen. Ich erfahre, was Liebe ist, Treue.“[6]

 

Leonardo Boff hält weiterhin viele Vorträge in der ganzen Welt und arbeitet eng mit Basisgemeinden und sozialen Organisationen zusammen. Als das deutsche Magazin „Stern“ ihn 2008 fragte, wann er sich aufs Altenteil zurückziehen werde, antwortete Leonardo Boff: „Ich bin da ein Schwabe: schaffen, schaffen, schaffen. Ich werde bis zum Jüngsten Gericht für Gerechtigkeit kämpfen.“[7] Und trotz allen Leids und aller Krisen auf der Welt sagte der Befreiungstheologe im gleichen Jahr der katholischen Schweizer Missionszeitschrift „Wendekreis“: „Ich sehe durchaus optimistisch und mit viel Hoffnung in die Zukunft. Denn ich weigere mich anzuneh­men, dass wir von Gott dazu geschaffen sind, um mit dieser oder der nächsten Generation unterzugehen.“[8]

 

Die Theologie der Befreiung lebt

 

Die Befreiungstheologie, wie sie von Leonardo Boff vertreten wird, baut auf mehreren Schritten auf. Zunächst einmal kommt es auf die Wahrnahme der Wirklichkeit an, dies ist der „Schritt des Sehens, des Fühlens und des Erlebens der Auswirkungen der menschlichen Leidensgeschichte“.[9] Beim zweiten Schritt werden die Ursachen des Leidens aufgedeckt, es geht um das analytische Urteilen, und mit dem dritten Schritt beginnt dann ein veränderndes Handeln: „Der christliche Glaube hat seinen Beitrag zu leisten für die Verwandlung von ungerechten Verhältnissen in Richtung auf Verhältnisse, die mehr Leben, mehr Lebensfreude in Teilhabe und innerhalb von vernünftigen Lebensbedingungen für alle bedeutet.“[10] Und es geht um das Feiern. „Feiern ist eine ganz entscheidende Dimen­sion des Glaubens; denn die Feier manifestiert die völlig unverdiente, verdankte und symbolische Seite der Befreiung. In der Feier anerkennt die christliche Gemein­de, dass die greifbaren Fortschritte, die sie mittels ihres Einsatzes erringt, gleich­wohl mehr sind als gesellschaftliche, kommunitäre und politische Realitäten. Selbstverständlich sind sie das alles auch; aber sie bedeuten darüber hinaus auch vorweggenommene Zeichen der Güter des Reiches Gottes, den Advent des göttlichen Heils …“[11]

 

Die Theologie der Befreiung hat für Leonardo Boff eine große gesellschaftliche Bedeutung: „Das Hauptziel der Befreiungstheologie besteht darin, soziale Gerech­tigkeit und partizipatorische Demokratie zu fördern. Es geht darum, den Schrei der Armen in Lateinamerika hörbar zu machen und darauf hinzuweisen, dass die Unterdrückung der großen Mehrheit des Volkes eine Ungerechtigkeit bedeutet und theologisch gesehen eine soziale Sünde ist.“[12] Zwar hat die Kirche Werke der Mildtätigkeit für die Armen gemacht: „Aber sie hat fast nie versucht, die Wirklichkeit mit den Augen der Armen zu sehen. Von Befreien kann man jedoch nur reden, wenn die Armen selbst Subjekte ihrer Befreiung sein können.“[13] Hierbei will die Theologie der Befreiung sie unterstützen.

 

Früher als andere Befreiungstheologen hat Leonardo Boff in diesem Zusam­men­hang auf die Bedeutung ökologischer Probleme hingewiesen. Schon 1971 vertrat er die These: „Es geht nicht nur um die Befreiung der Armen, es geht auch um die Befrei­ung der arm gemachten Erde.“[14] 1995 schrieb er in der internationalen katho­lischen Zeitschrift „Concilium“: „Die Theologie der Befreiung und der ökologische Diskurs haben etwas gemeinsam: Ihr Ausgangspunkt sind zwei blutende Wunden. Die erste, die Wunde der Armut und des Elends, zerreißt das soziale Netz für Aber­millionen von Armen auf der ganzen Welt. Die zweite, die systematische Gewaltan­wendung gegenüber der Erde, stört nachhaltig das Gleichgewicht des Planeten.“[15] Entstanden ist die Theologie der Befreiung, führt Leonardo Boff in dem Aufsatz aus, aufgrund der ethischen Empörung über das Elend der armen Massen. Aber die Theologie der Befreiung habe von Anfang an den ganzheitlichen Charakter der Befreiung betont.[16] Bei der Analyse der Ursachen der Verarmung formulierte er pointiert: „Es ist dieselbe Logik des Systems der Kapitalakkumulation und der gesellschaftlichen Organisation, die die Arbeiter ausbeutet, ganze Nationen ausplündert und schließlich Raubbau an der Natur betreibt.“[17] Die Natur dürfe nicht weiter als Supermarkt oder Selbstbedienungsladen behandelt werden, son­dern sie ist unsere gemeinsame Heimat.

 

In den letzten Jahren ist die Theologie der Befreiung – vor allem von europäischen Theologen – für tot erklärt worden. In einem Interview mit der Zeitschrift „Publik-Forum“ betonte Leonardo Boff hingegen: „Für uns hier in Lateinamerika ist die Befreiungstheologie kein Schlager der Saison, sondern gelebte Praxis. Und tot ist sie überhaupt nicht. Nach wie vor ist sie aktuell, das können Sie mir glauben. Solange es Armut, wirklich hoffnungslose Armut gibt, bleibt die Befreiungstheologie aktuell.“[18]

 

Weihnachten als Fest der Befreiung

 

„Weihnachten! An dieses Wort knüpft sich ein ganzes Universum von Symbolen: Kerzen und Sterne, die leuchtenden Kugeln am Tannenbaum, die Krippe, Ochs und Esel, die Hirten, Josef, der Gute, und die Jungfrau Maria, schließlich das auf Stroh gebettete Kind. Diese Symbole, in denen das Echo des größten Ereignisses der Geschichte – die Menschwerdung Gottes – nachklingt, wurden aus dem Glauben geboren und sprechen zum Herzen.“[19] Mit diesen Zeilen beginnt das Weihnachtsbuch „Mensch geworden“ Leonardo Boffs. Er wehrt sich dagegen, den Glauben und zumal das Feiern von Weihnachten zu einem intellektuellen Geschehen zu machen: „Feiern verlangt mehr als bloßes Wissen und Reflektieren. Das Herz muss sich öffnen, muss sich freuen.“[20]

 

„Weihnachten zeigt uns, wozu Gott fähig ist. Er kann sich wirklich zu einem ganz anderen machen, zu einem Menschen, wie wir es sind, ohne aufzuhören, Gott zu sein.“[21] Die Aussage der Synoden der frühen Kirche, dass Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott ist, hat Leonardo Boff in neue Worte gefasst und hinzugefügt: „Es ist uns erlaubt, Weihnachten zu feiern als Fest, an dem Gott warmes und sterbliches Fleisch wurde.“[22] Leonardo Boff wird nicht müde zu wiederholen: „Die Menschheit Gottes bedeutet die totale Gegenwart Gottes in der Welt; bedeutet die volle Hingabe der Liebe des Vaters zu den Menschen. Das ist der Sohn. Er bedeutet die Verwirklichung des Gottesplanes: In der Zeit wurde er zum Anderen, in der Geschichte wurde er zum Menschen, ohne aufzuhören, der immerwährende und ewige Gott zu sein.“[23] Das ist ein Grund zu Freude: „Machen wir uns Geschenke, weil Gott uns ein unvergleichliches Geschenk gemacht hat. Denn er gab sich selbst in einem Kind hin!“[24]

 

Leonardo Boff stimmt mit vielen anderen Theologen in der Bewertung der alttestamentlichen Geschichte überein. Sie führt, so diese theologische Position, in ihrer Gänze auf Jesus hin. Leonardo Boff hat dies in seinem Weihnachtsbuch so formuliert: „Seit Erschaffung der Welt bereitete Weihnachten sich vor und begann der Sohn mit den Vorstufen seiner Menschwerdung … Die Geschichte ist somit Christus-trächtig. Er wuchs heran, bis der Schleier des Unsichtbaren durchbrochen war und er in seiner ganzen Einmaligkeit erschien.“[25]

 

Im Mittelpunkt der Weihnachts-Theologie Leonardo Boffs befindet sich das Kind in der Krippe. „Gott antwortet nicht auf das Warum des Leides; er leidet mit. Gott antwortet nicht auf das Warum des Schmerzes; er wird zum Schmerzensmann. Gott antwortet nicht auf das Warum der Demütigung; er demütigt sich. Schon sind wir nicht mehr allein in unserer Einsamkeit. Er ist bei uns. Schon sind wir nicht mehr einsam, sondern solidarisch.“[26]

 

Leonardo Boff ist überzeugt, dass Weihnachten nicht auf einen einzigen Tag des Jahres begrenzt ist: „Weihnachten geschieht täglich, weil jeder Tag den menschgewordenen ewigen Sohn in sich trägt.“[27] Er ist zugegen in den einzelnen Men­schen und auch in der ganzen Welt, die sich auf die Wiederkehr Jesu Christi hinbe­wegt: „Wenn der Arme, der nur wenig besitzt, auch das noch teilt; wenn der Durstende Wasser verschenkt und der Hungrige sein Brot; wenn der Schwache den Kraftlosen stärkt, dann ‚geht Gott selbst mit uns auf unseren Wegen’ … Die Menschwerdung dauert an, das Wort pflanzt sein Wirken in der Geschichte fort, Jesus Christus wird immer wieder im Leben der Menschen geboren.“[28]

 

Der Befreiungstheologe setzt sich – nicht überraschend – äußerst kritisch mit dem kommerziellen Weihnachtsgeschäft auseinander. In einem Weihnachtsbeitrag stellte er 2006 die Frage „Santa Claus oder das Baby Jesus?“[29] Santa Claus, die US-ame­rikanische Version des Weihnachtsmanns, ist für den Befreiungstheologen „eine Fi­gur des Marktes“. Santa Claus habe im Zeitalter der Globalisierung längst alle Ecken und Enden der Erde erreicht. „Er ist ein lustiger alter Mann, der versucht, die Kinder zu verführen, damit sie ihre Eltern dazu bringen, ihnen Geschenke zu kaufen.“ Be­sonders fatal ist dies nach Leonardo Boffs Auffassung für arme Familien, deren Kinder im Fernsehen von Santa Claus eine verzauberte Welt vorgeführt bekom­men, angefüllt mit Geschenken wie Spielzeugautos, Puppen und elektronischen Spie­len.

 

Die Kinder leiden, weil sie all dies nicht haben, und üben Druck auf ihre Eltern aus, Santa Claus möge auch in ihr Zuhause kommen. „Dann sind es die Eltern, die leiden, weil sie nicht in der Lage sind, die Forderungen ihrer Kinder zu erfüllen, zu denen Santa Claus sie mit so vielen Fetischobjekten verführt hat.“ Auf einem kapitalistischen Markt, analysiert Leonardo Boff, zählen nur die, die produzieren und konsumieren. „Die Armen müssen sich mit den Brosamen zufriedengeben oder damit, unter miserablen Bedingungen an den Rändern zu leben.“ Die Fol­gen zeigen sich Weihnachten für die Ausgeschlossenen besonders deutlich. „Zur Weihnachtszeit ist Santa Claus die zentrale Figur des Konsumismus für alle, die sich innerhalb des Systems befinden und zahlen können.“

 

Dazu gibt es einen Kontrast, die Geschichte vor zweitausend Jahre in Bethlehem: „Die Geburt des Babys Jesus ist ganz anders. Er wurde in eine arme, bescheiden le­bende Familie hineingeboren. Im Moment seiner Geburt, zwischen Haustieren, san­gen die Engel einen himmlischen Gesang, Hirten standen bewegungslos vor Rüh­rung da und sogar einige weise Männer kamen von weither, um ihn zu begrüßen.“ Später wurde Jesus ein großartiger Geschichtenerzähler und Wanderprediger mit einer Heilsbotschaft, die alle einbeziehen wollte, vor allem die Armen, die er „selig“ nann­te. Das größte Geschenk Gottes ist er selbst in Gestalt eines Kindes: „Er nährt in uns die Hoffnung, dass wir ohne Santa Claus leben können, der nichts als Illu­sionen verkauft.“ Und im gleichen Text kommt Leonardo Boff zu dieser Bewertung des Kindermordes auf Anordnung von Herodes: „König Herodes ist inzwischen keine Person mehr, sondern ein System, das immer wieder Menschen opfert auf dem Altar des einsamen Konsumismus.“

 

Aber niemand kann den Geist der Geburt des Jesuskindes zerstören, hat Leo­nardo Boff 2004 in einem Weihnachtstext mit der Überschrift „Der Geist der Geburt“[30] verkündet, weder der Weihnachtsmann noch Santa Claus. „Der Geist der Geburt hat eine segensvolle Aura, die bewahrt werden muss, weil sie uns menschlicher macht.“ Dafür sieht der brasilianische Theologe drei Gründe. Der erste Grund ist, „dass Gott zunächst einmal ein Kind ist und nicht ausschließlich der Schöpfer oder strenge Richter. Und ein Kind bedroht niemanden. Ein Kind ist nur Leben, Arglosigkeit, Unschuld und Zärtlichkeit.“ Zweitens besitzen die Menschen, so schlecht sie auch sein mögen, einen großen inneren Wert, der Gott dazu bewogen hat, einer von ihnen zu werden. „Und schließlich erinnert uns das heilige Kind daran, dass wir in der Tiefe unseres Seins ein heiliges Kind sind. Wir wachsen auf und werden alt, aber wir bewahren in uns das Kind, das wir immer geblieben sind. Dieses Kind steht für den Glauben, dass eine andere Welt möglich ist, eine Welt der Unschuld, des reinen Blickes und der reinen Freude daran zu leben.“ Beendet hat Leonardo Boff diesen Weihnachtstext mit den folgenden Zeilen:

 

Heiliges Kind, verwirkliche in uns diese Bestimmung:

Lass die Hoffnung in uns nicht sterben!

Erinnere Dich daran, dass Du so winzig warst wie wir,

werde wieder in uns geboren wie ein Kind!

 

In einer weiteren Auslegung der Weihnachtsgeschichte mit dem Thema „Das göttliche Kind“[31] im Dezember 2005, vertiefte Leonardo Boff seine Gedanken zu den inneren Erfahrungen, die mit dem göttlichen Kind verbunden sind: „Es steht für ein neues Leben, das in uns geboren werden möchte. Konkreter gesagt, es steht für das Leben, das immer wieder ganz von Anfang an beginnen kann. Es ist möglich, neu geboren zu werden. Am Weihnachtstag ist es uns wegen des göttlichen Kindes erlaubt, die Fesseln zu vergessen und ebenso die Fehler, die wir gemacht ha­ben. Wir können uns frei fühlen, neu zu beginnen.“

 

Und er fügt hinzu: „Am Weihnachtstag können wir, inspiriert vom göttlichen Kind, das in uns selbst ist, ris­kieren, den ersten Schritt auf einem neuen Weg zu tun, oder den Weg, auf dem wir bereits gehen, auf neue Weise zu betrachten, um eine neue existenzielle Bedeutung in ihm zu entdecken.“ Und wenn wir an diesem Tag mit unserer Familie zusam­mensitzen, Geschenke und Freundlichkeiten austauschen, dann können wir die wahre Bedeutung des Weihnachtsfestes erkennen: „Dann treten die Werte hervor, nach denen wir uns immer gesehnt haben – Träume eines durchschaubaren, einfachen und freien Lebens, Träume, die unsere Vorstellungen so sehr geleitet haben. Wenn wir es schaffen, das heilige Kind in uns zu wecken, werden wir den wahren Geist von Weihnachten und den freudigen Advent Gottes gefunden haben.“

 

Manchmal holt Leonardo Boff die Weihnachtswelt seiner Kindheit ein, die Welt der Mythen, die für den Befreiungstheologen die tiefe Bedeutung von Ereignissen enthüllen. Wegen seines weißen Bartes sprechen ihn Kinder in der Vorweihnachtszeit häufig als Weihnachtsmann an. Er bezeichnet sich dann gern als Bruder des Weihnachtsmanns, aber wenn die Kinder seinen weißen Bart berühren, sind sie doch überzeugt, vor dem wahren Weihnachtsmann zu stehen, und diesen Mythos zertrümmert Leonardo Boff auch nicht: „Ich bin ein Mensch wie alle anderen, doch der Mythos macht aus mir einen wahren Weihnachtsmann. Wenn wir Erwach­senen, die Kinder des kritischen Denkens und der Entmythologisierung, schon nicht länger verzaubert sein können, so lasst uns doch unsere Söhne und Töchter verzaubert sein und sich am Reich der Fantasie erfreuen. Ihr Leben wird mit Sinn und Freude erfüllt sein. Was wollen wir noch mehr von Weihnachten als dieses wertvolle Geschenk, das Jesus auch in diese Welt bringen wollte?“[32]

 

© Frank Kürschner-Pelkmann

 

Weitere Beiträge der Reihe "Ökumenische Porträts" finden Sie auf der Seite "Ökumenische Porträts". 

 



[1] Vgl. hierzu den Text „The Christmas candle“ von Leonardo Boff auf der Website www.leonardoboff.com

[2] Leonardo Boff: Weihnachten von einst: alt und immer neu, auf der Website www.traductina.wordpress.com/2011/12/27

[3] Ebenda

[4] Ebenda

[5] Vgl. Gespräch mit Leonardo Boff, „Der Blick der Astronauten und die Not der Erde“, Publik-Forum, 13/2001, S. 43

[6] Ebenda

[7] Was macht eigentlich … Leonardo Boff, Stern, 27.7.2008

[8] Interview mit Leonardo Boff: „Die Finanzkrise macht eine skandalöse Lüge sichtbar“, Wendekreis, Dezember 2008/Januar 2009, S. 27

[9] Leonardo Boff: Theologie der Befreiung und Ökologie: Alternative, Gegensatz oder Ergänzung?, Concilium, 5/1995, S. 427

[10] Ebenda

[11] Leonardo Boff: Schrei der Erde, Schrei der Armen, Düsseldorf 2002, S. 178

[12] Interview mit Leonardo Boff: „Die Finanzkrise macht eine skandalöse Lüge sichtbar“, Wendekreis, Dezember 2008/Januar 2009, S. 27

[13] Gespräch mit Leonardo Boff: „Wir haben die römische Bevormundung überstanden“. Publik-Forum, 16/1998, S. 33

[14] Interview mit Leonardo Boff: „Der Viehkönig und die Armen“, Publik-Forum 21/2010, S. 39

[15] Leonardo Boff: Theologie der Befreiung und Ökologie, a.a.O., S. 423

[16] Vgl. ebenda, S. 426

[17] Ebenda, S. 428

[18] Gespräch mit Leonardo Boff: „Wir haben die römische Bevormundung überstanden“, Publik-Forum, 16/1998, S. 32

[19] Leonardo Boff: Mensch geworden, Das Evangelium von Weihnachten, Freiburg 1986, S. 7

[20] Ebenda, S. 8

[21] Ebenda, S. 14

[22] Ebenda, S. 15

[23] Ebenda, S. 19f.

[24] Ebenda, S. 25

[25] Ebenda, S. 21

[26] Ebenda, S. 54f

[27] Ebenda, S. 40

[28] Ebenda

[29] Vgl. hierzu den Text „Santa Claus or Baby Jesus“ von Leonardo Boff auf der Website www.leonardoboff.com ; diesem Text sind auch die nachfolgenden Zitate entnommen.

[30] Vgl. hierzu den Text „The Spirit of Nativity“ von Leonardo Boff auf der Website www.leonardoboff.com ; diesem Beitrag sind auch die nachfolgenden Zitate entnommen.

[31] Vgl. Leonardo Boff: The Divine Child,23.12.2005, auf www.leonardoboff.com

[32] Leonardo Boff: Weihnachten von einst, a.a.O.