„Wenn ich gewusst hätte, wie das Leben so spielt und was es noch alles mit mir vorhatte, ich hätte vieles leichter genommen. Wenn ich aber gewusst hätte, dass ich erst fünfzig Jahre auf der Bühne stehen müsste, um mich dann im Rentenalter von 68 Jahren noch zu ‚Deutschlands Fernsehopa‘ zu mausern, so weiß ich heute gar nicht, ob ich die lange Wartezeit durchgestanden hätte.“ Das schrieb Henry Vahl in seinen Lebenserinnerungen. Nach all den Jahren vor seinen großen Erfolgen hatte er sich damit abgefunden, zu den vielen Schauspielern zu gehören, die „auch kleine Rollen mit Herzblut ausfüllen und den Weg freischaufeln für diejenigen, die das Publikum anlocken“.
„Und was macht die Tante da unten?“
Henry Vahl stand bereits im Alter von vier Jahren auf einer Bühne. „Mama“ sollte der kleine Junge rufen, und dann auf seine Mutter zustürzen und sie umarmen. So hatte es Ibsen in seiner Tragödie „Nora“ für den dritten Akt vorgesehen, und so hatte es der kleine Henry mehrfach geprobt. Eigentlich konnte nichts schiefgehen, als er bei der ersten Aufführung des Stücks in seinem Matrosenanzug auf die Bühne trat. Aber was tat die Frau da in dem Kasten? Henry fasste sich ein Herz und fragte seine Schauspiel-Mutter laut: „Und was macht die Tante da unten?“
Die Schauspielerin blickte auf den Souffleusenkasten und antwortete geistesgegenwärtig: „Komm her, mein Kind, ich erkläre es dir später, jetzt sag mir erst einmal gute Nacht.“ Henry kannte die Vertröstungen der Erwachsenen und sagte leicht resigniert „Na ja, dann gute Nacht.“ Das Publikum bog sich vor Lachen, das einzige Mal während dieser Aufführung. Henry durfte auch an den kommenden Abenden ,,gute Nacht" sagen. Jeden Abend wanderten 50 Pfennig in den Spartopf, damit zu Weihnachten ein Matrosenmantel für den jungen Schauspieler gekauft werden konnte. Jetzt konnte eigentlich eine traumhafte Theaterkarriere beginnen, aber im wirklichen Leben kam alles anders.
Wie Henry den Schuss von Wilhelm Tell überlebte
Henry Vahl (geboren 1897 in Stralsund) war der Sohn eines Seemanns und verdankte seinen Namen dem besten Freund des Vaters, einem englischen Seemann. Er bekam auch die Vornamen Adolf, Emil und Otto - Henry blieb sein Rufname. Der Vater wollte aus dem Sohn gern einen Seemann machen und nahm ihn schon im Alter von fünf Jahren mit auf See.
Die Schwiegermutter sah Henry als Schauspieler. Sie setzte sich durch, und so stand Henry schon als Kind auf der Bühne, auch wenn der Vater von dem „Kasperkram“ nichts hielt. Nach Ibsens „Nora“ erhielt Henry eine gefährliche Rolle: Er spielte den Sohn, dem Wilhelm Tell den Apfel vom Kopf schießen sollte. Glücklicherweise wurde im Theater von Stralsund gemogelt. Der Apfel war bereits zerschnitten und Henry zog ihn im richtigen Augenblick mit Hilfe eines Bindfadens vom Kopf. Es klappt perfekt, und der kleine Henry wurde stürmisch gefeiert. Es folgten kleine Ballettrollen in Weihnachtsmärchen.
Der Schüler hatte nur im Betragen eine Eins
Zur Schule gehen musste Henry auch, ungern, wie er später bekannte. Er marschierte dann schon lieber mit der Großmutter auf den Friedhof, „auch kein reines Vergnügen, aber immer noch besser, als in der Schule die Stunden abzusitzen“. Henry versuchte in der Schule, möglichst wenig aufzufallen und vom Lehrer in Ruhe gelassen zu werden. Da traf es sich gut, dass er wegen seiner schlechten Leistungen meist in einer der hinteren Bankreihen saß. Vor und nach der Schule trug Henry zum Familieneinkommen bei. Was er trug, waren Pferdeäpfel, die er morgens bei Fuhrbetrieben einsammelte. Nach der Schule lieferte er die gefüllten Eimer bei einer Samenhandlung ab.
Nachdem sein Fischkutter im Sturm gesunken war, fand der Vater 1905 eine Anstellung bei der Kaiserlichen Werft in Kiel. Henry sammelte und verkaufte auch in Kiel Pferdeäpfel, um etwas dazuzuverdienen. 1901 schloss er die Schule ab, mit mäßigen Noten. Nur im Betragen hatte er eine Eins. Zur Konfirmation schenkte die Mutter ihm das Buch „Der gute Ton in allen Lebenslagen“. Schon länger hatte sie eigene Zukunftspläne für den Sohn gehegt: Er sollte herrschaftlicher Diener werden und schön gekleidet feine Leute bedienen. Deshalb sprach sie mit ihrem Sohn konsequent Hochdeutsch, während die Familie ansonsten Plattdeutsch sprach. Den Vater beeindruckte das mütterliche Bildungsprogramm für Henry nicht: „De Jung kümt no See.“
Aber der Junge wollte nicht zur See fahren, und so einigte sich die Familie auf einen Kompromiss. Henry kam als Lehrling in die Druckerei der Kaiserlichen Werft. Aber er konnte am Druck von Verordnungen keinen Gefallen finden und am Dreck in dem Betrieb auch nicht: „Nee, meinen Beruf hatte ich mir ganz anders vorgestellt.“ Er kündigte und wechselte zu einer Molkerei. Viel wichtiger als diese Arbeit waren dem jungen Mann damals die ersten zarten Liebesbande.
Als Liftboy für das Theater entdeckt
Dann brachen zwei Katastrophen über die Familie herein. Die erste betraf das ganze Land, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit der zweiten Katastrophe musste die Familie allein fertig werden: Der Vater starb durch einen Unfall. Die Witwe ergriff entschlossen die Initiative, die finanzielle Situation der Familie zu verbessern. Der Sohn erhielt einen Frack. Er sollte nun nicht mehr herrschaftlicher Diener werden, sondern einmal Hoteldirektor. Mutter und Sohn gingen zum Direktor des eleganten Hansa-Hotels in Kiel. Die guten Manieren des jungen Manns und sein exzellentes Hochdeutsch beeindruckten den Direktor. Er stellte Henry Vahl als Liftboy ein. Ein Gehalt bekam er nicht, aber es waren Trinkgelder zu erwarten. Kost und Logis stellte das Hotel.
Im Hotel begann sein Aufstieg, zunächst einmal nur in den zweiten Stock, denn dahin wollte der freundliche Herr, der ihm beim Singen zuhörte. Es war Karl Alving, der Direktor des Stadt-Theaters in Kiel. Er fragte den Liftboy: ,,Hättest Du Lust, abends Theater zu spielen?" Lust? Henry war begeistert, dass er im Kieler Schauspielhaus auf die Bühne durfte, zunächst allerdings nur in schwarzer spanischer Tracht im Gefolge von „Don Carlos“.
Der junge Mann sah die Gefahr auf sich zukommen, zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Um dem zu entgehen, zog er die Liftboy-Uniform aus und arbeitete in der Stahlschmiede der Howaldtswerft in Kiel. Der schmächtige junge Mann erwies sich als ungeeignet für die Arbeit als Schmied. Er wurde nach draußen versetzt und war nun an der Reparatur von Schiffen beteiligt. Abends spielte er weiter Theater, und da viele Schauspieler eingezogen worden waren, bekam der Komparse Vahl nun erste Sprechrollen. In den Nachmittagsvorstellungen konnte er sogar die Titelrolle in „Peterchens Mondfahrt“ spielen. Die Kritiken in den Zeitungen waren positiv, vom Direktor gab es einen Rüffel. Wie später so oft hatte Vahl den Text nicht auswendig gelernt, sondern improvisierte.
Erfolg in der Rolle eines tollpatschigen Seemanns
Als nach Kriegsende wieder herzlich gelacht werden konnte, begann Henry Vahls Karriere als Komiker. Als ein Kollege wegen einer Lebensmittelvergiftung ausfiel, übernahm Vahl die Rolle eines tollpatschigen Seemanns in einer Operette. In einer Szene sollte er feurig und verführerisch ins Publikum blicken. „Das Publikum lachte, weil mein Blick wohl mehr neckisch als verführerisch war.“ Er spielte nun komische Rollen, vor allem viel ältere Männer, etwa den Schweinefürsten Zupan im Zigeunerbaron. Er erhielt ein festes Engagement und gab seine bisherige Arbeit auf.
Mit 21 Jahren engagierte ihn das neu eröffnete Hansa-Theater in Lübeck. Henry Vahl reiste mit zwei Pappkartons in der Hansestadt und fragte ein 17-jähriges Mädchen nach dem Weg. Es war die Balletttänzerin Germaine Koch. Erst gingen sie gemeinsam zum Theater und bald auch durchs Leben. Der Heiratsantrag kam von ihr – bühnenreif. Bei einer Probe rief sie quer durch den Raum: „Schieter, hör mal, wir müssen heiraten. Sofort und ganz schnell!“ Nein, ein Kind war nicht unterwegs, aber ohne Trauschein war an eine eigene Wohnung nicht zu denken. Am 31. Januar 1925 wurde geheiratet.
Gemeinsam zogen sie anschließend von einer Provinzbühne zur nächsten. Germaine übernahm oft die Aufgabe einer Souffleuse und Henry spielte komische Rollen, im denen er öfter aus der Rolle fiel, weil er den Text vergessen hatte. Er versuchte, auch ernste Rollen zu spielen, aber das Publikum sah in ihm den Komiker. 1931 wagte das Paar auf Initiative von Germaine den Sprung nach Berlin. Henry Vahl bekam ein Engagement an Max Reinhardts berühmtem Deutschen Theater, zunächst allerdings nur als Statist für drei Reichsmark pro Abend. Aber bald bekam er auch Rollen, in denen er sprechen konnte – und wieder vor allem komische Rollen. Gern ließ er sich von älteren Kollegen Ratschläge geben, vor allem von dem Schauspieler Albert Bassermann, der ihm zum Beispiel empfahl: „Henry, um Wirkung zu erzielen, musst du mehr Pausen einlegen. Die Leute brauchen Zeit zum Lachen.“
Schwere Zeiten während der Naziherrschaft
1933 änderte sich die Lebenssituation des Paars radikal. Germaine war evangelischen Glaubens, aber in den Kategorien der Nazis „Halbjüdin“. Die Vahls durften zunächst noch spielen, standen aber unter Beobachtung. In der Theaterkantine war Gesprächsstoff, welche Schauspielerinnen und Schauspieler gerade das Land verlassen hatten, weil sie Juden waren. Vor der Machtantritt der Nazis wusste im Theater kaum jemand, wer Jude war, und hatte niemanden interessiert.
1940 wechselten die Vahls an das Theater im tschechischen Karlsbad, wo vom Krieg weniger zu spüren war als in Berlin. Aber Germaine erhielt ein Auftrittsverbot, eine Verhaftung drohte. Ohne das Wissen ihres Mannes hatte sie sich mit Unterstützung ihrer Eltern auf diese Situation vorbereitet, tauchte unter und überlebte in einer Gartenlaube in der Nähe von Ratzeburg. Nicht einmal der Ehemann erfuhr ihren Aufenthaltsort.
So konnte er bei mehreren Verhören glaubhaft versichern, dass er nicht wüsste, wo seine Frau war. Henry Vahl erhielt einen Einberufungsbefehl und den Auftrag, als Komiker an der Truppenbetreuung mitzuwirken. Als es nichts mehr zu lachen gab und die deutschen Truppen auf dem Rückzug waren, steckte man Henry Vahl in eine Wehrmachtsuniform und machte ihn zum Flaksoldaten. Er geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurde bereits nach einem halben Jahr wieder entlassen.
Engagements an mehreren Hamburger Theatern
Henry Vahl kehrte nach Berlin zurück. Die Berliner Wohnung war heil geblieben, und hier konnte der Schauspieler endlich wieder seine Frau in die Arme nehmen. Sie hatte schwere Zeiten erlebt, aber sie überlebt. Beide beschlossen, das zerstörte und geteilte Berlin zu verlassen und sich 1950 in Hamburg eine neue Existenz aufzubauen. Sie zogen in eine 2-Zimmer-Wohnung im Heußweg in Eimsbüttel.
Germaine Vahl nahm ihre künstlerische Arbeit nicht wieder auf und konzentrierte sich hinfort darauf, ihren Mann zu fördern. Aus dem Traum von der großen Karriere war bisher nichts geworden. Henry Vahl hatte sich inzwischen damit abgefunden nur „einer der vielen Schauspieler zu sein, ohne die das Theater nicht leben kann“. Aber immerhin erhielt er gleich nach seiner Ankunft in Hamburg ein Engagement im Flora-Theater und stand in jeder Inszenierung auf der Bühne. Auch im kleinen Theater im Zimmer, im Thalia-Theater und im Jungen Theater (heute Ernst-Deutsch-Theater trat er auf.
Große Erfolge als Schustergeselle im Stück „Meister Anecker“
1958 fragte das Ohnsorg-Theater Henry Vahl, ob er die Rolle des Schustergesellen Matten im Stück „Meister Anecker“ übernehmen wollte. Er sagte sofort zu, ohne zu ahnen, dass damit für ihn eine ganz neue und sehr erfolgreiche Zeit seiner Schauspielerkarriere begann. Er war bereits 60 Jahre alt, als er nun seine erste plattdeutsche Rolle spielte. Und endlich hatte er mit dem Volkstheater die Bühne gefunden, für die er wie geschaffen war. Das Stück war von Anfang an ein großer Erfolg. Vahls Sprüche wie „Was ich trinke, das bringt keinen anderen um!“ wurden legendär.
Das Fernsehen wurde auf das Stück aufmerksam und beschloss, eine Aufführung des Stücks am 13. November 1965 auszustrahlen. Die Resonanz war überwältigend. Henry Vahl erinnerte sich später: „Unser Telefon klingelte bis in den Sonntagmorgen. Kollegen, Freunde, fremde Menschen riefen mich an und gratulierten. Telegramme kamen, Blumen. Ich wusste nicht, wie mir geschah.“
Große Erfolge am Ohnsorg-Theater
Allerdings, seine Gedächtnisprobleme und Versprecher blieben bestehen. Als Schustergeselle sollte er sagen. „Meine Mutter war eine Frau, die konnte ihre Zunge nicht im Zaum halten …“ Daraus machte Henry Vahl: „Meine Mutter war eine Frau, die steckte ihre Zunge immer durch den Zaun.“ Das Publikum war begeistert über diese unfreiwillige Pointe. Aber bei anderen Hängern mussten seine Mitspieler spontan neue Texte finden, um die Handlung wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
Heidi Kabel erinnerte sich so an die Auftritte Henry Vahls: „Wenn er die Bühne betrat, applaudierte das Publikum und lachte, bevor er einen Satz gesagt hatte. Es genügte, dass er zu sehen war. Seine Mitspieler allerdings brachte er oft in Verlegenheit. Schon immer war es ihm schwergefallen, Texte zu lernen. Deshalb wiederholte er stets seinen Spruch: ‚Die Souffleusen waren immer meine besten Freundinnen.‘ Aber manchmal verließ er sich doch lieber auf die anderen Schauspieler, die mit ihm auf der Bühne standen, und schob ihnen, wenn er nicht textsicher war, den Schwarzen Peter zu. Dann hieß es improvisieren und nochmals improvisieren.“
Über Nacht war Henry Vahl zum Star und „Fernsehopa der Nation“ geworden. Nur eine schien der Durchbruch Henry Vahls nicht zu überraschen - Germaine: „Ich hab es ja immer gewusst, es kommt einmal, mein Schieter.“ An der Seite von Heidi Kabel war Henry Vahl bald in allen Wohnzimmern zu Hause. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er über diese Zusammenarbeit: „Heidi Kabel und das Ensemble des ‚Ohnsorg-Theaters‘ hatten eine so nahtlose Zusammenarbeit entwickelt, dass ich als Neuling mitgetragen wurde. Sie trugen mich zum Erfolg. So etwas hatte ich in meiner langen Bühnenlaufbahn noch niemals erlebt. Die Zuschauer nahmen Heidi Kabel einfach alles ab und bald darauf auch mir. Von ihr habe ich mehr gelernt als in den 50 Jahren meiner Laufbahn.“
Auch als Filmschauspieler gefragt
Henry Vahl musste nun nicht mehr mit Schminke zum alten Mann gemacht werden, er war inzwischen ein alter Mann: „Die Schminke macht doch meine ganze Mimik kaputt. Meine Falten sind schließlich mein Kapital.“ Stücke wie „Opa wird verkauft“ und „Tratsch im Treppenhaus“ wurden zu Klassikern des niederdeutschen Theaters und bereichern bis heute das Fernsehprogramm.
Auch Filmrollen bot man Henry Vahl an, unter anderem im Fernsehkrimi „Die Rote Geldbörse“. Von seinen ersten Filmgagen kaufte er seiner Frau einen Nerzmantel und sich ein Auto, einen Mercedes 230. Daran hatte er nur kurze Zeit Freude: „Damit fuhr ich genau 26 Kilometer. Dann kam ein Kombiwagen von rechts und knallte an die rechte Seite des neuen Wagens. Er hatte Vorfahrt.“ Danach gab er das Autofahren auf.
Zur Erholung fuhren die Vahls, die kinderlos geblieben waren, im Sommer nach Büsum und im Winter in die Berge. 1969 unternahmen Germaine und Henry endlich die immer wieder verschobene Hochzeitsreise. Sie fuhren auf einem Bananendampfer nach Honduras und zurück: „Sechs Wochen lang haben wir uns auf dem Schiff verwöhnen lassen und uns prächtig erholt.“
Ein getrübter Abschied vom Ohnsorg-Theater
1970 ging Henry Vahls Arbeit für das Ohnsorg-Theater abrupt zu Ende. Nach dem plötzlichen Tod des Intendanten Hans Mahler übernahm Günther Siegmund die Leitung des Hauses. Er wollte das Programm modernisieren und dabei gab es keinen Platz mehr für Henry Vahl. An die Zusage Mahlers, dass Vahl sich als Schustergeselle Matten vom Publikum des Theaters verabschieden könnte, sah sich der neue Intendant nicht gebunden. Da traf es sich für den Schauspieler gut, dass Kurt Collien, der Leiter des St. Pauli-Theaters, ihm anbot, dort den „Meister Anecker“ ins Programm aufzunehmen und Vahl den Schustergesellen spielen zu lassen. Das Stück kam an 93 aufeinanderfolgenden Abenden zur Aufführung – und jede Aufführung war ausverkauft.
Danach bot Collien dem beliebten Schauspieler an, die Hauptrolle in dem Stück „Zitronenjette“ zu übernehmen. Paul Möhring hatte das Stück geschrieben, um das wahre Leben des Hamburger Originals auf die Bühne zu bringen. Dieses Leben war keineswegs komisch, sondern lange Zeit tragisch. Es erwies sich als Fehler, die Rolle der Zitronenjette immer wieder mit Männern wie Henry Vahl zu besetzen, die sehr begabte Komiker, aber nicht geeignet waren, die Tragik im Leben der Zitronenjette zu verkörpern.
Henry Vahl hatte die Ehre, die Zitronenjette bei der 1.000ten Aufführung dieses Stücks im St. Pauli-Theater zu spielen. Die Aufführung wurde vom Fernsehen übertragen. Germaine Vahl versuchte ihren Mann davon abzuhalten, einen Vertrag zu unterzeichnen und weiterhin Tag für Tag als Zitronenjette auf der Bühne zu stehen, aber er wollte noch einmal große Erfolge feiern. Seine Kolleginnen und Kollegen mussten wahrnehmen, dass „Old Henry“, wie er liebevoll genannt wurde, überfordert war und nicht zu seiner alten Form zurückfand.
„Peter drei, nun komm doch endlich!“
Da seine Gedächtnisprobleme im Alter weiter zugenommen hatten, bereitete es Henry Vahl immer mehr Mühe, sich an seine Texte zu erinnern. Ein Kollege kam auf die Idee, dass sich unter seiner blonden Zitronenjette-Perücke, die auch die Ohren bedeckte, gut ein Sendegerät verstecken ließ. Man lieferte ihm nun jeweils per Funk den Text, den er gerade zu sprechen hatte. Das funktionierte gut und gab Henry Vahl eine neue Sicherheit als Schauspieler.
Einmal kam es allerdings zu einer folgenschweren Panne. Bekanntlich liegt das St. Pauli-Theater neben der Davidwache und mitten im zweiten Akt überlagerte der Polizeifunk die Ansagen für den Schauspieler. Henry Vahl hörte nun mehrfach „Peter drei bitte kommen! Peter drei bitte kommen!“ Schließlich platze dem Schauspieler die Geduld und er verkündete auf der Bühne: „Peter drei, nun komm doch endlich!“ Da er eine skurrile Person spielte, fiel das dem Publikum nicht weiter auf, aber seinen Helfern hinter der Bühne war sofort klar, was schiefgegangen war. Sie änderten daraufhin sofort die Frequenz.
Henry Vahl ignorierte die Warnsignale in seinem Körper und die Mahnungen seiner Frau. Am Neujahrstag 1975 standen gleich zwei Aufführungen der „Zitronenjette“ auf dem Programm. Henry Vahl merkte, wie geschwächt es war, verheimlichte das aber vor seiner Frau. Er wollte noch an den vier ausverkauften Aufführungen in den ersten Januartagen mitwirken, aber am Vormittag des 3. Januar erlitt er einen Schwächeanfall. Er wurde in das Israelitische Krankenhaus eingeliefert, wo er einen Kreislaufkollaps bekam.
Er musste sechs Wochen im Krankenhaus bleiben und nach der Rückkehr in die Wohnung in der Maria-Louisen-Straße seiner Frau versprechen, dass er keine Verträge über Aufführungsserien mehr unterschreiben werde. Er beschloss, nicht wieder auf einer Bühne aufzutreten, schließlich wäre er 77 Jahre alt.
Abschied von einem humorvollen, beliebten Volksschauspieler
Eine besondere Ehrung erlebte Henry Vahl 1974 zu seinem 77. Geburtstag. Die Hamburger Schuster-Innung ernannte ihn zum Ehrenmitglied. Bei der Ehrung fragte der humorvolle Vahl. „Bekomme ich nun meine Schuhsohlen künftig geschenkt?“ Viele Schuhsohlen hat er nicht mehr benötigt.
Am 13. März 1975 starb Germaine Vahl plötzlich an Herzversagen und ihr Mann stand nun allein auf der Welt da. Am Ende seiner Lebenserinnerungen schrieb er: „Über 50 Jahre unseres Lebens hatten wir zusammen verbracht. Ich weiß gar nicht, was ich ohne Germaine anfangen soll.“ Henry Vahl erlitt im Februar 1976 einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Er starb am 21. Juli 1977.
Mehr als 8.000 Menschen versammelten sich auf dem Ohlsdorfer Friedhof, um Abschied von Henry Vahl zu nehmen. Der Journalist Horst Ebert sagte in einer Traueransprache: „Du spielst nicht nur die ‚Zitronenjette‘, dieses Hamburger Original, Du bist selbst ein Hamburger Original geworden …“ Die Orgel spielte Lieder, die Henry Vahl geliebt hatte wie „La Paloma“ und „In Hamburg sagt man Tschüs“.
Seine langjährige Schauspiel-Partnerin Heidi Kabel sagte unter Tränen: „Lieber Henry, gode oole Fründ! To ‘n Lewen ‘ hört de Dod, so will ‘t de leve Gott. Fünfzehn Jahre durften wir zusammen auf unserer kleinen Bühne stehen. Du bist berühmt geworden an unserem Theater. Ach, berühmt! Dich, Henry, haben die Menschen geliebt … Du hast Ihnen das Lachen gegeben mit deinen schrulligen, kauzigen und so liebenswerten Humor … Du bist immer jung geblieben, Henry. Im Herzen jung. Un so jung büs du nu ok von uns gohn. Sloop got, min Jung.“
1992 benannte die Stadt Hamburg einen Park zwischen Heußstraße und Emilienstraße nach Henry Vahl. In der Nähe hatte sich die erste Hamburger Wohnung von Germaine und Henry Vahl befunden.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro