„Marr ist größer als Gastwirt denn als Dichter und die Schellfische, welche man bei ihm ißt, sind bei weitem besser als seine Poesie!“ Das schrieb ein Zeitgenosse über Wilhelm Marr (geboren 1769). Heinrich Heine nahm „Marrs Tragödien“ unter die zehn „Merkwürdigkeiten Hamburgs“ auf.
Ein anonym gebliebener Zeitgenosse Marrs schrieb über den dichtenden Gastwirt: „Zu den Hamburger Originalen zählte damals auch der alte Marr, der Gastwirt und Volksdramendichter par exellence. Ich habe freilich die Dichtungen Marr’s, trotz ihrer unleugbaren Originalität und Kühnheit der Konzeption, nie einen besonderen Geschmack abgewinnen können, desto besser ließ ich mir die Beefsteaks, die Mockturtle-Ragouts, Oxtail-, Krebs- und Aal-Suppe im ‚Alten König von England‘ schmecken.“
Der erfolgreiche Hotelier und Gastronom
Hätte Marr sich auf die Leitung seiner beiden Hotels beschränkt, auf das Hotel zum Russischen Kaiser und das Hotel König von England, so wäre er allenfalls wegen seiner viel gerühmten Küche in Erinnerung geblieben. Auch dass Lord Nelson und Lady Hamilton im Jahr 1800 im König von England logierten, ist weitgehend in Vergessenheit geraten. So aber zählt Marr noch immer zu den originellsten Originalen der Stadt.
Der Theaterhistoriker Paul Möhring hat über das Hotel König von England und seinen Besitzer geschrieben: „Es war ihm gelungen, dies Hotel zum Verkehrsmittelpunkt der Hamburger Theaterleute sowie auch der auswärtigen bedeutenden Schauspieler zu machen, die auf Hamburger Brettern gastierten. Man stieg bei Marr ab, weil man hier vortrefflich wohnte, ausgezeichnet speiste, vorbildlich bedient wurde und der Wirt sich alle erdenkliche Mühe gab, seinen Gästen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Schauspielern gegenüber war Marr großzügig; manchen Minderbemittelten unter ihnen unterstütze er finanziell oder ließ ihn unentgeltlich an seiner Mittagstafel teilnehmen.“
Ein freigiebiger Hotelier fördert Schauspieler
Wilhelm Marr gebührt also ein ehrenvoller Platz unter den Hamburger Originalen, dem ein trauriges Alter erspart blieb, sondern dessen Leben mit einem furiosen Theatererfolg dem Ende entgegenging. Oft saß Wilhelm Marr an der Spitze der langen Mittagstafel und unterhielt die Gäste mit Geschichten, meist die immer gleichen Geschichten. Der großzügige Hotelier und Gastwirt lud auch arme Mitbürger zum Mittagessen ein. Er erwartete von ihnen kluge Beiträge zum Tischgespräch sowie am Ende jeder seiner eigenen Geschichten die Bestätigung dieser Gäste mit dem Satz: „Jo, so weer dat.“ Wenn ein Freigast eine Geschichte zum Besten gab, kommentierte der Wirt dies seinerseits mit dem Satz: „Jo, so weer dat.“
Gern begrüßte Marr auswärtige und hiesige Schauspieler und Musiker in seinem Hotel König von England und in seiner Gaststube. Er bewirtete sie besonders zuvorkommend, sodass sein Hotel rasch zum Treffpunkt der Schauspieler der Stadt wurde. Auswärtige Schauspieler mussten allerdings über „eine gefüllte Börse disponieren“, erfahren wir von einem Zeitgenossen, der in diesem Zusammenhang über den Hotelbesitzer schrieb, „gute Rechnungen verstand er zu schreiben“.
Diese Auffassung teilte der englische Dichter Coleridge, der kurz vor Lord Nelson nach Hamburg kam und einem Freund, der ebenfalls die Stadt besuchen wollte, riet: „Willst Du aber in einen englischen Gasthof gehen, so meide um Gottes willen das Haus ‚Shakespeare‘ in Altona und den ‚König von England‘ in Hamburg. Ich gebe ihnen eher den Namen Neppbuden als den Namen anständiger Häuser.“
Lord Nelson und seine Gesellschaft wohnten also nicht erstklassig, aber teuer im Hotel König von England. Es muss aber hinzugefügt werden, dass Coleridge große Vorbehalte gegen deutsche Hotels hatte und dass nicht überliefert ist, dass Lord Nelson und Lady Hamilton sich über ihre Hotelunterkunft beschwert haben, aber teuer, das war sie schon.
Der dichtende Hotelbesitzer
Marr hatte eigene Ambitionen und wollte selbst in der Theaterwelt reüssieren. Da er seine berufliche Laufbahn als Schlachter begonnen hatte, nutzte er seine Kenntnisse in diesem Milieu und verfasste das Theaterstück „Der Schlachter auf Reisen oder das totgeglaubte Kind“. In das Stück nahm er eigne Erlebnisse als Geselle auf der Wanderschaft und Geschichten aus seiner Fantasie auf und soll das Ergebnis als überaus gelungen empfunden haben. Deshalb war er hoch erfreut, dass die Uraufführung des Stücks im Juni 1808 im Steinstraßen-Theater stattfand. Das Publikum war begeistert und die Hamburger strömten in Scharen in die Aufführungen.
Das bewahrte Marr nicht davor, dass Theaterkritiker heftig über sein Stück herfielen, allein schon deshalb, weil er nicht vom Fach war. Johannes Sass hat diese Kritik in seinem Buch „Hamburger Originale und originelle Hamburger“ so zusammengefasst: „Die Schauspieler mögen dem Stück zu einigem Erfolg verholfen haben, aber der Dichter erntete keine Lorbeeren. In Broschüren und Flugblättern, in Zeitschriften und Zeitungen fielen die Kritiker über ihn her und suchten, den Schlachterpoeten lächerlich zu machen Witzbolde dichteten in ‚Schlachtermanier‘ und verhöhnten den Verfasser des reisenden Schlachters.“
Ein großzügiges Angebot an die Kritiker
Wie Marr auf diese heftige Kritik reagiert hat, wird von Chronisten unterschiedlich dargestellt. Sicher ist, dass er in einer Zeitungsanzeige den Kritikern seinen Dank aussprach. Zukünftigen Kritikern machte er in der Ausgabe vom 30. Juli 1808 in den „Gemeinnützigen Unterhaltungsblättern“ folgendes Angebot:
„Jeder der künftig etwas gegen mich schreibt, bringe mir den ersten Abdruck seiner Schrift und legitimiere sich bei mir als der wirkliche Verfasser. Er soll dann drei Tage hintereinander in meinem Gasthof zum Russischen Kaiser in der Dammtorstraße Nr. 30 mit den ausgesuchtesten Speisen und den feinsten Weinen unentgeltlich bewirtet werden, zum Beweise, dass ich erkenntlich gegen diejenigen sein kann, die zu meinem Vergnügen etwas beigetragen haben.“
Zunächst wagte kein Kritiker, dieses Angebot anzunehmen, stand der ehemalig Schlachter doch im Ruf, sehr schlagkräftig zu sein. Es war nicht sicher, ob die Kritiker nicht doch seine Fäuste zu spüren bekommen würden. Nach einer Weile war es ein gewisser J. John, der den Mut fand, das Angebot anzunehmen und ein Gedicht über Marr zu veröffentlichen. Das Gedicht zeugte mehr vom Mut des Verfassers als von seinen Fähigkeiten als Poet. Es sollen hier drei Verse als Beispiel für Schmähgedichte zu dieser Zeit widergegeben werden:
Schweig, schweig Herr Marr! Wenn dir noch ist zu raten
Und meid doch Komödi
Treib‘ was du kannst, so hast du keinen Schaden
Und wirst bezahlt für deine Müh!
Du kannst doch nur für nied’re Geister denken,
Wirst stets den aufgeklärten Mann
Mit dem Geschmier und schlechten Stücken kränken,
Die er durchaus nicht leiden kann.
Die kluge Welt wird Dich dafür verfluchen,
Die Deine Schrift mit Ekel sieht,
Wer hieß dich, sie mit Schauspiele heimzusuchen
Für die der Teufel selber flieht?
Wonach stand Wilhelm Marr nach solchen Versen der Sinn, nach festlichen Essen oder Faustschlägen? Wir werden es nie erfahren. Zwar lud Marr den Schreiber des Schmähgedichts zu sich ein. Albert Borcherdt hat die Antwort in seinem Buch „Das lustige alte Hamburg“ so zusammengefasst: „Als Marr dieses Machwerk zu Gesicht bekam, verfehlte er nicht, ein ironisches Dankesschreiben an Herrn John zu erlassen, in welchem er den genialen Dichter über das gelieferte Meisterwerk seine höchste Bewunderung aussprach, die Kraft und Reinheit seiner Poesie, sowie die originelle Rechtschreibung pries und innig wünschte, die Bekanntschaft seines gelehrten Gegners zu machen.“
Es kam trotzdem nicht zu der Begegnung. Denn vorher meldete sich der Schneider und Dichter Erbshäuser bei Marr und wies ihn darauf hin, dass das Gedicht von ihm stammte. Es wäre in einem seiner Bücher erschienen. Erbshäuser schrieb daraufhin ein Schmähgedicht gegen John. Ob Marr danach Erbshäuser eingeladen hat, lässt sich nicht mehr feststellen. In jedem Fall ging Marr als Sieger aus der Auseinandersetzung mit John hervor.
Ein folgenreicher Scherz von Vetter Kirchhoff
Marr focht die Kritik an seinem Stück nicht an. Nachdem es einer Weile im eher volkstümlichen Steinstraßen-Theater gespielt worden war, strebte er nun an, dass es auch im prestigeträchtigen Stadttheater in der Innenstadt zur Aufführung kommen sollte. Er muss dieses Anliegen wohl zu oft bei seinen Gästen angesprochen haben, jedenfalls erlaubten sich einige Schauspieler und andere Freunde einen Scherz mit Marr. Darunter war Vetter Kirchhoff, der bereits in diesem Buch vorgestellt wurde und der die exzellente Küche im König von England und die munteren Tischgespräche sehr schätzte.
Zu dieser Zeit spielte gerade der bekannte Schauspieler Wagner von der Dresdner Hofbühne in Altona. Er konnte von Kirchhoff dafür gewonnen werden, Marr aufzusuchen und ihm zu übermitteln, die Dresdner Hofbühne wollte sein Stück aufführen. Er bat um eine Abschrift des Textes, die Marr eilfertig anfertigen und in Leder binden ließ. Zum Dank lud er den Schauspieler ein, für den Rest seines Aufenthalts kostenlos im feinsten Zimmer seines Hotels zu wohnen und fürstlich zu dinieren, was der Schauspieler dann auch genoss.
Marr war mächtig stolz und dies noch mehr, als ihm eine Weile später ein gefälschter Brief der Hofbühne zugesandt wurde, in dem von einem ungeheuren Beifall bei der Aufführung des Stücks die Rede war. Dem Brief lag ein ebenfalls gefälschter Theaterzettel bei, aus dem zu entnehmen war, dass bekannte Schauspieler an der Aufführung mitgewirkt hatten.
Marr war glückselig und ließ den Theaterzettel in einen wertvollen Rahmen fassen. Die Freude währte allerdings nur kurze Zeit. Denn bald darauf kam der Schauspieler Devrient, der angeblich die Hauptrolle gespielt haben sollte, nach Hamburg und logierte wie viele auswärtige Schauspieler im König von England. Nach einer anderen Überlieferung war es der Schauspieler Ludwig Ferdinand Pauli, aber der Name tut nicht viel zur Sache.
Jedenfalls wusste der Dresdner Schauspieler nichts von dem Scherz und war total überrumpelt, als Marr ihn begeistert begrüßte, um den Hals fiel und ihm den gerahmten Theaterzettel präsentierte. Der Schauspieler war so überrascht, dass er die Sache nicht durchschaute, sondern statt mitzuspielen dem Hotelier sagte, es müsse ein Irrtum vorliegen und der Theaterzettel wäre eine Fälschung. Der Schauspieler Wagner soll nach diesem Eklat bei Gastspielen in Hamburg nie wieder im König von England gewohnt oder auch nur gespeist haben.
Erfolg mit dem Stück „Der Sieg der Tugend“
Der Gastwirt Marr erfuhr nie, dass Vetter Kirchhoff hinter dem Scherz gesteckt hatte. Tief enttäuscht ließ er längere von seinen Theaterambitionen ab. Aber dann schrieb er doch ein neues Stück mit dem Titel „Die Vorfälle beim Fallissement oder die Tugend siegt“. Das Stück kam im April 1837 im Steinstraßen-Theater zur Aufführung. Die Freunde, die ihm den üblen Scherz gespielt hatten, waren offenbar zum Ergebnis gekommen, dass Marr eine Wiedergutmachung verdient hatte und feierten ihn nach der Uraufführung des neuen Stücks begeistert. Albert Borcherdt hat dies so beschrieben: „Nachdem das Stück unter großem Beifall zu Ende gespielt war, ist Marr von seinen Freunden hervorgerufen worden, und, als er strahlend vor innerer Genugtuung auf der Bühne erschien, hat man ihn mit Lorbeerkränzen, Lobgedichten, Hurrahs und Tuschblasen überaus gefeiert.“
Das hat auch Paul Möhring in seinem Theaterbuch „Bühne frei“ bestätigt, allerdings hinzugefügt: „Das Stück erwies sich als recht belanglose Angelegenheit ohne dichterische Tiefe, dafür aber mit vielen Phrasen und moralischen Gemeinplätzen. Dem Publikum jedoch gefiel es, und die Darsteller waren mit Liebe und Eifer bei der Sache.“ Paul Möhring berichtet davon, wie sich nach Schluss der Veranstaltung eine unübersehbare Menschenmenge vor dem Theater versammelte und Marr hoch leben ließ. Anschließend gab es eine große Feier im König von England. Marr erklärte an diesem Abend wiederholt: „Das war der schönste Tag meines Lebens!“
Der Erfolg seines Stückes soll Marr seinen inneren Frieden und seinen Humor zurückgegeben haben. Er wird mit großer Freude erlebt haben, dass sein Sohn Heinrich große Erfolge als Schauspieler feiern konnte. Paul Möhring schrieb über ihn, dass er „einer der ganz Großen des deutschen Schauspiels“ im 19. Jahrhundert war, der „erste Mephisto der deutschen Bühne“.
Drei Jahre nach der Uraufführung seines zweiten Stücks starb Wilhelm Marr im Alter von 71 Jahren. Sein letzter Wille war, dass ihm alle Schlachter der Stadt ein letztes Geleit geben sollten. Und tatsächlich waren unter der Trauergesellschaft für dieses Hamburger Original zahlreiche Hamburger Schlachter.
Aus:
Frank Kürschner-Pelkmann
Entdeckungsreise in die Welt der Hamburger Originale
ISBN 978-3-98885-248-9
336 Seiten, 15,95 Euro