Titelseite des Buches "Babylon - Mythos und Wirklichkeit"
Dieser Beitrag ist dem Buch "Babylon - Mythos und Wirklichkeit" von Frank Kürschner-Pelkmann entnommen, das im Steinmann Verlag, Rosengarten, erschienen ist. Das Buch ist im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Recht und Gerechtigkeit in Babylonien

 

Zu den wichtigen Aufgaben der Könige in Mesopotamien gehörte es schon lange vor der Entstehung des babylonischen Reiches, für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Das ist bereits auf sumerischen Keilschrifttafeln nachzulesen, die um das Jahr 2000 v. Chr. Gesetze und Gesetzessammlungen festhielten. Berühmt ist der „Codex     Hammurapi“, der auf einer babylonischen Stele erhalten geblieben ist, die sich heute im Louvre in Paris befindet. Diese und weitere Gesetzessammlungen lassen erkennen, dass es damals detaillierte juristische Regelungen für eine Vielzahl von straf- und zivilrechtlichen Fragen gab.

 

Die Gesetzesbestimmungen im „Codex Hammurapi“ sind jeweils nach dem Ursache-Konsequenz-Schema aufgebaut. Wer eines Vergehens überführt wurde, dem drohten Konsequenzen genau festgelegter Art. Es existierte in Babylon also bereits ein modern wirkendes Rechtsverständnis. Bei einer großen Zahl von Vergehen drohte in Mesopotamien die Todesstrafe, zum Beispiel auch bei Insolvenz. Auch die Verstümmelung des Täters gehörte zu den Strafandrohungen. Bei minderschweren Vergehen beschränkte man sich auf Geldstrafen.

 

Im Strafrecht wurde die Bestrafung in ein Verhältnis zum Vergehen gestellt. Das biblische Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ finden wir im Codex von König Hammurapi in dieser Formulierung: „Wenn ein Vornehmer ein Auge eines Angehörigen einer Vornehmenklasse geblendet hat, soll man ein Auge von ihm blenden.“[1] Das gleiche Prinzip galt für einen ausgeschlagenen Zahn. Was geschah, wenn das Opfer nicht der „Vornehmenklasse“ angehörte? Auch das war in dem Codex bis ins Detail geregelt. Wer einem Kleinbürger ein Auge geblendet hatte, musste einen beträchtlichen Silberbetrag zahlen, und auch wenn das Opfer ein Sklave war, kam der Täter nicht ungestraft davon. Man kann nicht übersehen, dass diese Abstufungen Ausdruck einer Klassenjustiz waren, aber die gab es auch Jahrtausende später noch. Das jüdische Rechtsprinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ kannte solche Einschränkungen je nach sozialer Zugehörigkeit allerdings nicht.

 

Eine wachsende soziale Kluft zerstört eine Gesellschaft

 

Wahrscheinlich waren sich babylonische Könige bewusst, dass zu krasse soziale Unterschiede massive gesellschaftliche Spannungen und eine schwindende Loyalität derer auslösten, die sich stark benachteiligt sahen. Der Zusammenhalt des Gemeinwesens war also gefährdet, wenn die Situation der Armen sich immer weiter verschlechterte. Dem Abbau von zu krassen sozialen Unterschieden und der Herstellung von Gerechtigkeit diente eine Politik, die die Situation der Armen erträglicher machen sollte. So war es üblich, dass Könige aus Anlass des Beginns ihrer Herrschaft und von Zeit zu Zeit auch aus anderen Anlässen eine Befreiung der Bürger von Steuerrückständen, Schulden und Schuldsklaverei verkündeten.

 

Auch im Alten Testament wird von solchen Maßnahmen zur Beseitigung von Überschuldung und Schuldknechtschaft berichtet, und es dürfte viele Christinnen und Christen überraschen, dass diese Form der Entlastung der Armen von ihren Schulden auch in Babylon üblich war. Ein Unterschied bestand allerdings: Der Schuldenerlass nach göttlichem Gebot in der Bibel sollte alle sieben Jahre stattfinden, war also kein Gnadenakt eines Königs. Einschränkend muss aber erwähnt werden, dass erhebliche Zweifel daran bestehen, dass im alten Israel tatsächlich so regelmäßig ein solcher Schuldenerlass praktiziert wurde.

 

Spätestens seit der Zeit von König Hammurapi gab es in Babylonien ein differenziertes Gerichtswesen, zu dem lokale Gerichte mit Richterkollegien und königliche Gerichte gehörten. Daneben existierte eine Tempelgerichtsbarkeit. Prozesse verliefen bereits recht ähnlich wie heute, es wurden also Zeugen gehört, Urkunden und andere Beweismittel bewertet, Eide abgelegt etc. Auch Gottesurteile hatten in den Prozessen (wie bei uns im Mittelalter) ihren Platz in der Rechtsprechung. Folter hat, wenn überhaupt, nur eine geringe Rolle bei der Wahrheitsfindung gespielt. Nachgewiesene Falschaussagen wurden drakonisch bestraft. In einem Mordprozess drohte dem falsch aussagenden Zeugen die Todesstrafe. Auch Richter, die das Recht beugten, wurden schwer bestraft. Von Hammurapi ist überliefert, dass er Gesetze verkünden ließ und Gerichte einsetzte, „damit der Starke dem Schwachen kein Unrecht tue“.[2]

 

Frauen hatten viele Rechte – waren aber trotzdem benachteiligt

 

In Babylonien besaßen Frauen eine weitgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, sodass sie auch selbstständig im Wirtschaftsleben auftreten und vor Gericht als Klägerinnen erscheinen konnten, auch gegen den eigenen Mann. Benachteiligungen entstanden durch das patriarchal geprägte Eherecht. Ehen wurden dadurch vorbereitet, dass der zukünftige Ehemann einen Ehevertrag mit den Eltern der Braut schloss. Darin wurden Rechte und Pflichten festgelegt, und es wurde auch geregelt, welcher Brautpreis zu zahlen war. Zur materiellen Absicherung der Ehefrau musste der Ehemann für den Fall seines Todes eine urkundlich abgesicherte Schenkung an seine Frau vornehmen. Die Mitgift der Frau stand im Falle ihres Todes ihren Kindern zu, sodass diese eine gewisse materielle Absicherung besaßen. Verstarb der Ehemann, bekam die Frau die Mitgift.[3]

 

Ehescheidungen gingen in der Regel vom Mann aus, während die Frau nur dann eine Scheidung beantragen konnte, wenn sie ihrem Gatten ein ehewidriges Verhalten nachwies. Auch dann konnte sie vor Gericht faktisch eine Scheidung oft nur durchsetzen, wenn sie auf die Mitgift verzichtete und zusätzlich noch ein Scheidegeld an ihren Mann zahlte. Auch das Erbrecht benachteiligte Frauen und Töchter stark, sodass sie in sehr vielen Fällen vom Erbe ausgeschlossen waren. Immerhin war geregelt, dass Witwen von ihren Kindern nicht schikaniert und aus dem Haus vertrieben werden durften. Andernfalls drohte den Kindern eine Bestrafung. Insgesamt betrachtet besaßen Frauen in Babylonien eine bessere rechtliche Stellung als in vielen anderen Gesellschaften der Region.

 

Es gab bereits Mindestlöhne

 

Versklavung entstand in Babylonien durch Kriegsgefangenschaft, als Folge von Überschuldung und als Ergebnis von Gerichtsprozessen. Der Besitzer hatte die vollständige rechtliche Verfügung über die Sklaven. Diese konnten also zum Beispiel verkauft oder verpfändet werden. Die Sklaven besaßen aber eine eingeschränkte Rechtsfähigkeit. So konnten sie Ehen mit frei geborenen Menschen eingehen und durften auch Vermögenswerte besitzen, sie konnten Verträge abschließen und sogar eigene Sklaven erwerben. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass nur eine kleine Minderheit der Sklaven tatsächlich solche Rechte nutzen konnte und die meisten Sklaven mittellos und der Willkür ihrer Herren ausgesetzt waren.[4]

 

Babylonien besaß ein umfangreiches Wirtschaftsrecht, sodass zum Beispiel Fragen in Zusammenhang mit Darlehen, Bürgschaften, Pfändern und Pacht bis ins Detail geregelt waren. Wirtschaftsvergehen konnten drakonisch bestraft werden, Manipulationen an Gewichten sogar mit dem Tode durch Ertränken. Bemerkenswert ist, was der Altorientalist Hans Neumann in einem Aufsatz über das Recht in Babylonien schreibt: „Für die zu zahlenden Löhne waren gesetzliche Mindesttarife festgelegt.“[5]

 

Recht im alten Orient

 

Es gab Ähnlichkeiten zwischen dem babylonischen und dem jüdischen Recht, aber das muss nicht bedeuten, dass jemand abgeschrieben hat. Es gab in den altorientalischen Gesellschaften große Ähnlichkeiten im Verständnis von Recht und Gerechtigkeit, und das spiegelte sich auch in den Gesetzen und anderen rechtlichen Regelungen wider. Michael Jursa schreibt in seinem Standardwerk „Die Babylonier“ hierzu: „Der gesamte alte Orient hatte an grundsätzlich derselben Gewohnheitsrechtstradition Anteil, die in jeweils durch lokale bzw. zeitgebundene Umstände beeinflussten unterschiedlichen, aber immer strukturell ähnlichen Ausprägungen zum Ausdruck kam.“[6]

 

Die jüdische Gesellschaft war genauso wie die babylonische von diesen Traditionen geprägt, und deshalb wäre es falsch, sie einander gegenüberzustellen. Es gibt Unterschiede zwischen den „typischen“ altorientalischen Rechtsbestimmungen und den jüdischen Rechtsordnungen – nur, solche Spezifika gab es auch für jede andere der altorientalischen Gesellschaften. Es ist legitim, dass Christen (und mehr noch Juden) ein besonderes Interesse an der jüdischen Geschichte und deren gesellschaftlichen Verhältnissen haben, aber es führt in die Irre, diese Gesellschaft ständig allen anderen Gesellschaften der Region gegenüberzustellen und zu ignorieren, dass sie Teil einer altorientalischen Welt war.

 

Insgesamt betrachtet schufen der „Codex Hammurapi“ und ähnliche Sammlungen von Gesetzen und Bestimmungen einen erheblich Grad von Rechtssicherheit in Babylon. Mit Professor Michael Streck, Altorientalist an der Universität Leipzig, lässt sich sagen: „So dürfen wir davon ausgehen, dass der Codex Hammurapi und die anderen babylonischen und sumerischen Gesetze tatsächlich großartige Beispiele für das Recht im Alten Orient sind.“[7]

 

© Steinmann Verlag, Rosengarten

Autor: Frank Kürschner-Pelkmann



[1] Zitiert nach: Michael Streck: Ein Monument früher Rechtsgeschichte, in: Damals 7/2008, S. 24.

[2] Zitiert nach: Michael Jursa: Die Babylonier, a. a. O., S. 65.

[3] Vgl. Hans Neumann: Das Recht in Babylonien, in: Babylon Wahrheit, a. a. O., S. 215ff.

[4] Vgl. zur rechtlichen Situation der Sklaven: Ebenda, S. 214f.

[5] Ebenda, S. 222.

[6] Michael Jursa: Die Babylonier, a. a. O., S. 65.

[7] Michael Streck: Ein Monument früher Rechtsgeschichte, in: Damals 7/2008, S. 25.