Die Flucht vor den Tyrannen

 

Die mächtigen Staaten gewähren Flüchtlingen aus den armen Ländern Aufnahme, allerdings nur zu ihren Bedingungen. Das war bereits die Erfahrung einiger israelitischer Sippen, die vor der Dürre in Kanaan nach Ägypten flüchteten. Die „Wirtschaftsasylanten“ wurden mit ihren Herden aufgenommen, mussten aber Frondienst für die Ägypter leisten und lebten in Knechtschaft, wie im 2. Buch Mose berichtet wird. Dagegen lehnten sie sich auf. Der Exodus, die Flucht aus dem Reich der Unterdrücker, die etwa 1200 v. Chr. stattgefunden haben könnte, wurde zu einer prägenden Erzählung in der Geschichte des Volkes 43, hat ihm erst seine Identität und Geschlossenheit gegeben, die Jahrtausende überdauert hat.

 

Ob der Exodus wirklich so stattgefunden hat, wie in der Bibel berichtet wird, wird zunehmend angezweifelt.[1] Es gibt durchaus Hinweise darauf, dass diese Passagen der Bibel in der Zeit des Exils in Babylon verfasst wurden, um die Hoffnung der Israeliten auf eine Rückkehr in die Heimat wach zu halten und mit Moses eine Gegenkraft zu den Tyrannen an Euphrat und Tigris in das eigene Geschichtsbild einzufügen.

 

Vielleicht also ist die ganze Geschichte eine Legende, aber eine sehr lehrreiche Legende, die vermitteln kann, dass die Tyrannen nicht das letzte Wort haben, sondern es möglich ist, die Welt der Tyrannei hinter sich zu lassen und im Vertrauen auf einen Gott der Gerechtigkeit in eine bessere Zukunft aufzubrechen. Vielleicht hat die Flucht aus der ägyptischen Tyrannei stattgefunden, wenn auch in bescheidenerer Form. Nicht das ganze ägyptische Heer wäre dann im Schilfmeer versunken, sondern einige Streitwagen, die flüchtende Zwangsarbeiter oder Sklaven verfolgten, wären im Morast stecken geblieben und dies hätte den Verfolgten die Rettung ermöglicht. Wir wissen es nicht,[2] das muss konstatiert werden, wenn wir versuchen, aus biblischen Aussagen etwas für unsere heutige Zeit zu lernen.[3]

 

Martin Luther King hat die Bedeutung des Exodus-Berichts so zusammengefasst: „Die Wahrheit unseres Textes enthüllt sich auch im gegenwärtigen Kampf des Guten – in der Form der Freiheit und Gerechtigkeit – gegen das Böse – in Form der Unterdrückung und des Kolonialismus.“[4] Wer in diesem Kampf am Ende siegt, stand für Martin Luther King schon fest, und der Bericht vom Auszug der Israeliten aus Ägypten hat ihn in dieser Überzeugung bestärkt. Die eigenen Erfolge im Kampf gegen Rassismus und Unrecht haben ihm bestätigt, dass die Werte, für die Gott steht, sich am Ende durchsetzen werden.

 

Auch in Afrika hat der Exodus-Bericht eine lange Wirkungsgeschichte, vor allem im Kampf gegen den Kolonialismus. Die ghanaische Theologin Mercy Amba Oduyoye schreibt hierzu: „... haben der Schrei nach Befreiung aus der kolonialen Abhängigkeit sowie die Erfahrung der tatsächlichen Befreiung vom Kolonialismus eine wichtige Rolle bei der Entstehung jener Theologien gespielt, die sich bemühen, angesichts der Wirklichkeit Afrikas Sinnvolles und Relevantes zu sagen. Im politischen Kampf, der schließlich zur Unabhängigkeit geführt hat, war das Motiv des Auszugs Israels aus Ägypten mancherorts ein Paradigma, dem dadurch eine Schlüsselbedeutung zukam, dass man sich die charismatischen Führer und ihr Wirken wie Mose und sein Tun vorstellte.“[5]

 

Franz Segbers schreibt zum Exodus-Bericht in seinem Buch zur Tora: „Die Hebräische Bibel enthält eine ethisch gehaltvolle und politisch wirksame Erinnerung, die auf Ägypten und dortige Verhältnisse des Unrechts inmitten einer Hochkultur zurückweist. Diese Erinnerung durchzieht wie ein roter Faden die ganze Hebräische Bibel. Wirksam wurde diese Erinnerung, indem sie ein Ethos entfaltete, das die Lebensverhältnisse im Alten Israel gestaltete. Die Vergangenheit wird erinnert, um eine Rückkehr zu ägyptischen Verhältnissen abzuwehren und eine andere, eine gute Zukunft zu gewinnen. Ethisch ist nicht die Frage bedeutsam, was historisch tatsächlich gewesen ist. Das historische Argument kann zwar dem ethischen ein zusätzliches Gewicht geben, doch es begründet noch keine Normativität.“[6]

 

Dieser Teil der Bibel beruht auf sehr realen Erfahrungen von Unterdrückung und Zwangsarbeit in Weltreichen, zu denen es Parallelen in der heutigen Welt gibt.[7] Der Aufbruch aus der Unterdrückung hat in biblischer Zeit stattgefunden, und er findet heute tagtäglich statt. Der Gott, der an der Seite der Unterdrückten in ihrem Kampf um Befreiung steht, ist ein Gott, der die Tyrannen seit weit mehr als zwei Jahrtausenden das Fürchten gelehrt hat. Das hat ganz konkrete Konsequenzen für das kirchliche Handeln in der Welt. So heißt es im südafrikanischen Kairos-Dokument: „Gott ist nicht neutral. Er versucht nicht, Mose und Pharao, die hebräischen Sklaven und ihre Unterdrückern oder das jüdische Volk mit irgendeinem seiner späteren Unterdrücker zu versöhnen ... Unterdrückung ist ein Verbrechen, mit dem keine Kompromisse eingegangen werden können, es muss beseitigt werden.“[8]

„In der Kirche war es streng verboten, alttestamentliche Texte zu predigen“, berichtet Pfarrer Kyoo-Tse Sohn über die Situation in Korea während der Besetzung des Landes durch die Weltmacht Japan. Der Grund: „Denn viele Pfarrer predigten mit den alttestamentlichen Texten über die Befreiung Israels aus Ägypten und die soziale Gerechtigkeit in der damaligen Gesellschaft, in dem sie typologisch den besonderen Zusammenhang mit der gegenwärtigen Situation aufzeigten.“[9]

 

Auch andere Tyrannen haben immer wieder die verfolgt, die die Exodus-Geschichte auf ihre eigene Situation bezogen. Das brisante an dieser Geschichte ist nicht nur, dass ein Volk sicher folgreich gegen einen Tyrannen zur Wehr setzt, sondern dass dies ein Zeichen dafür ist, dass Gott den Unterdrückten und Armen zusagt, dass die Herrschaft ihrer Bedrücker überwunden werden kann. Dazu schreibt Jürgen Kegler: „Im Kontext des Exodusgeschehens wird Gott erlebt. Auf vielfältige Weise. Zunächst als der, der die Schreie der geschundenen Fronarbeiter hört, ihr Elend sieht und sich ihrer erbarmt. Mit dieser Theologie schenkt Israel der Welt eine einzigartige Gotteserfahrung. Gott sieht das Elend der leidenden Menschen, er setzt alles daran, um ihr Elend zu wenden; das tiefste Geheimnis des Gotteswillens für die Welt ist ein Leben in Freiheit. Gott optiert für die Armen, nicht die Herrschenden ... Das Exodusthema der Bibel ist also nicht bloße Geschichtsschreibung. Es ist eine tiefsinnige und vielschichtige Theologie. Es ist Befreiungserfahrung, Gotteserfahrung und Konzept für die Bewahrung der Freiheit für die Zukunft zugleich.“[10]

 

Um nicht gleich wieder geknechtet zu werden, mussten die Flüchtlinge die Küstenregionen mit ihren starken Festungen meiden und wichen in die Wüste aus, so ist aus dem biblischen Bericht zu schließen. Hier wurde ihr Glaube an eine Zukunft im „gelobten Land“ auf eine harte Probe gestellt. Manche sehnten sich zurück zu den Fleischtöpfen in Ägypten, und als Mose von ihnen ging, um Weisungen von Gott zu erhalten, da entstand jenes Goldene Kalb, um das jedenfalls sprichwörtlich auch heute noch getanzt wird. Zwar ist es durchaus plausibel, dass diese Geschichte in den Bericht über die Wanderung durch die Wüste aufgenommen wurde, um den Kult im Nordreich zu attackieren, aber die Geschichte hat trotzdem eine Bedeutung, die über die Frage der historischen Echtheit hinausreicht.

 

Das hat die brasilianische Theologin Ivone Gebara so herausgearbeitet: „Diese Geschichte ist auch unsere Geschichte. Das Goldene Kalb symbolisiert die ständige Versuchung, uns auf eine äußere Sicherheit zu verlassen, sie zu bewundern und uns ihrer Macht zu unterstellen. Es symbolisiert die Anhäufung von Gütern zugunsten einer kleinen Privilegiertengruppe. Wir sind fähig, alles herzugeben, um das Goldene Kalb über unseren Köpfen aufleuchten zu lassen, es zu vergöttlichen und seine Diener und Dienerinnen zu werden. Das Goldene Kalb wird zum Symbol unserer eigenen Macht, der Macht über uns selbst und die anderen. Es wird zur allmächtigen Gottheit, der wir uns fügen ... Doch noch stehen wir vor dem Goldenen Kalb. Mose in uns ist vom Berg noch nicht zurückgekehrt, und es scheint manchmal, als wollten einige seine Rückkehr gar nicht. Sie versuchen, Hunger und Durst vieler Menschen nach Grundnahrung und Gerechtigkeit zu beruhigen, indem sie eine baldige Lösung für alle Probleme versprechen. ... Es ist notwendig, den Mose in uns zu wecken. Wacht seine Wut in uns gemeinsam auf, so werden wir fähig, Gottes Geheimnis in jedem seiner Geschöpfe zu entdecken, und geben ihm die Möglichkeit, in Würde zu leben.“[11]

 

Carl Amery hat die aktuelle Bedeutung des Exodus im Zeitalter der Globalisierung so herausgearbeitet: „Die erstickende Umarmung eines völlig alternativlos gewordenen Despotismus, der die Existenz des Volkes, aller Völker, Schritt für Schritt untergräbt, ruft zum Widerstand auf ...“[12] Deshalb müssten die Kirchen sich heute am „Urbild des Exodus“ orientieren.

 

Nach einer langen Wanderung durch die Wüste (in der Erinnerung 40 Jahre) konnten sich die Israeliten an den Rändern Kanaans festsetzen und trafen hier, so wird vermutet, wieder auf verwandte Sippen, die nicht mit nach Ägypten gezogen waren.[13] Da historisch nachgewiesen ist, dass Hirten aus dem Gebiet von Kanaan in Dürrezeiten nach Ägypten zogen, ist es durchaus plausibel, dass darunter auch Sippen waren, die später zum Volk der Israeliten gehörten. Außerdem bestanden enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zum Land der Pharaonen.

 

Es kann also davon ausgegangen werden, dass durchaus ein Wissen über dieses Land und sein Herrschaftssystem bestand, das dann in die biblischen Schriften einfloss. Die eigene Gesellschaft sollte anders gestaltet werden als die ägyptische Sklavenhaltergesellschaft, so lautete die Weisung Gottes und die Überzeugung vieler Propheten und ihrer Anhänger. Mochte die Praxis oft anders aussehen, die Vision von einem anderen Leben wurde bewahrt, und da das Volk trotz aller Katastrophen überlebte, konnte es diese Grundüberzeugung auch und gerade angesichts der globalen Mächte in der Umgebung bewahren und weiterentwickeln.

 

Dieser Text ist der 2002 erschienenen Studie „Gott und die Götter der Globalisierung - Die Bibel als Orientierung für eine andere Globalisierung“ entnommen, die das Evangelische Missionswerk in Deutschland herausgegeben wurde.

 

© Evangelisches Missionswerk in Deutschland, Hamburg

 

Verfasser: Frank Kürschner-Pelkmann

 

 

 



[1] Der Alttestamentler Christian Frevel vertritt die Auffassung, der Exodus „war wohl die Aktion einer kleinen Gruppe von Wirtschaftsflüchtlingen“ (zitiert nach: Publik-Forum, 20/2001, S. 48); Erhard S. Gerstenberger schreibt zum Aufenthalt der Israeliten in Ägypten und den Exodus: „Das alles ist, historisch betrachtet, außerordentlich unwahrscheinlich. Israel kann sich weder in Ägypten formiert haben, noch als ausgewachsene Nation in einer Völkerwanderung überdimensionalen Ausmaßes durch die Wüste nach Palästina gezogen sein. Die biblischen Berichte sind überhöhte Glaubensdarstellungen, die Erfahrungen von Ausbeutung und Versklavung, im eigenen Land wie in Fremdländern (Babylon, vielleicht auch in Ägypten) zusammenfassen und die Macht des Gottes Israels und die Erfahrungen von Errettungen aus aussichtslosen Situationen rühmen wollen.“ Gerstenberger: Theologien des Alten Testaments, a. a O., S. 92

[2] Zu Recht stellte Professor Eckart Otto in einem Vortrag in Hamburg fest: „Es ist bitter wenig, was wir wissen.“ Nordelbische Kirchenzeitung, 19.8.2001

[3] Dorothee Sölle schreibt über diesen Text: „Die Exodus-Tradition des Judentums spricht zu uns allen in überzeugender Sprache von einem Gott, der Freiheit will für die Unterdrückten (‚historisches Projekt’), und sie bezeugt den Befreier als Schöpfer (‚ontologisches Projekt’).“ Dorothee Sölle: Leben und arbeiten, a. a O., S. 21) Im Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (Hannover und Bonn 1997) heißt es: „Die grundlegende geschichtliche Erfahrung ist die Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten. Sie zeigt: Gott ist seinem Volk gnädig und barmherzig. Er will das Leben der Menschen, und er befreit sie zur Freiheit.“ (S. 41)

[4] Martin Luther King jr.: Kraft zum Leben, Konstanz 1980, S. 102

[5] Mercy Amba Oduyoye: Wir selber haben ihn gehört, Theologische Reflexionen zum Christentum in Afrika, Freiburg/Schweiz 1988, S. 119; dass dieser Bibeltext auch in der nachkolonialen Zeit eine große Bedeutung hat, beschreibt der kongolesische Theologe Makanzu Mavumilusa in seinem Buch „Die Mission und der Blumentopf“ (Wuppertal 1988) so: „In diesem Abschnitt zeigt sich, dass Gott immer auf der Seite der Unterdrückten ist; er nimmt ihre Schreie und ihren Schmerz ernst; er steigt selbst durch seine Diener zu ihnen herab, durch die Evangelisten, die Pastoren, die Missionare, die er als Führer seines Volkes auf den Weg zur Befreiung eingesetzt hat. Christen handeln nicht biblisch, wenn sie die Politik ihres Landes ignorieren. Wenn wir dies tun, fliehen wir vor der Verantwortung, die Gott uns für unsere Politiker gegeben hat. Wenn man die vollständige Trennung von Kirche und Staat lehrt, ignoriert man, dass Jesus aus politischen Motiven gekreuzigt wurde.“ (Seite 138)

[6] Franz Segbers: Die Hausordnung der Tora – Biblische Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik, Luzern 2000, S. 21.

[7] So schreiben Marcelo de Barros Souza und José Luis Caravias in ihrem Buch „Theologie der Erde“ (Düsseldorf 1990): „Vielleicht ist der Exodus das Buch der Bibel, das in den ländlichen Gemeinden Lateinamerikas am meisten gelesen wird.“ (S. 93)

[8] Zitiert nach: Rudolf Hinz/Frank Kürschner-Pelkmann: Christen im Widerstand, Hamburg 1987, S. 34f.

[9] Zitiert nach: Jürgen Kegler: Auswege aus der Fron, in: Zeitzeichen, 12/2000, S. 22

[10] Ebenda, S. 24

[11] Ivone Gebara: Das Goldene Kalb und die Selbst-Entfremdung, in: Auftrag (Zeitschrift der Kooperation Evangelischer Missionen), 5/2000, S. 4f.

[12] Carl Amery: Global Exit – Die Kirchen und der Totale Markt, München 2002, S. 138

[13] Siegfried Herrmann: Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, in: Siegfried Herrmann/Walter Klaiber: Die Geschichte Israels, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1996, S. 26f.