Städte: Keine Zukunft ohne ausreichend sauberes Wasser

 

Die Menschheit zieht in die Städte, so kann man einen Trend der letzten 200 Jahre zusammenfassen. Insgesamt leben weltweit deutlich mehr als vier Milliarden Menschen in Städten, 2030 werden es etwa 5,2 Milliarden sein. Der Anteil der Städter an der Weltbevölkerung wird dann auf 60 % angewachsen sein. Parallel dazu werden die einzelnen Städte immer größer. Um 1800 hatte jede der 100 größten Städte der Welt durchschnittlich 200.000 Einwohner, im Jahre 1900 waren es 700.000 und im Jahre 2000 bereits 2,6 Millionen. Die Zahl der Megastädte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern ist inzwischen auf 33 gestiegen. 2018 war Tokio mit 37,5 Millionen Einwohnern die größte Stadt der Welt, 2030 wird sich nach Berechnungen der Vereinten Nationen Delhi mit dann 38,9 Millionen den Spitzenplatz einnehmen. Und die Zahl der Megastädte wird um 10 gewachsen sein.

 

Besonders im Süden der Welt leiden Megastädte und Millionenstädte bereits heute unter „Wasserstress“: Es gibt dort nicht genug sauberes Trinkwasser und keine angemessene Abwasserentsorgung. Bei der Gründung der meisten Städte der Welt war das Vorhandensein von ausreichend Trinkwasser einer der entscheidenden Faktoren für die Standortwahl. Babylon (Link) ist dafür ein „klassisches“ Beispiel. Anscheinend gehört die mitten in Wüstengebieten und kahlen Felsen gelegene antike Stadt Petra im heutigen Jordanien zu den Ausnahmen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass mit aufwendigen Wasserbaumaßnahmen dieser Nachteil ausgeglichen werden konnte. Deshalb ist Petra ein eigener Beitrag gewidmet (Link).

 

Aber vor einigen Jahrhunderten waren die heutigen Großstädte in Afrika, Asien und Lateinamerika klein und die Flüsse und Seen noch relativ sauber. Die Einwohnerzahl stieg vielerorts aber weitgehend unabhängig von der Frage, für wie viele Menschen die erneuerbaren Trinkwasserreserven reichten. Auch stieg der Wasserbedarf der Industrie in manchen Wirtschaftsmetropolen dramatisch. Auch wurden viele stadtnahe Flüsse und Seen in Kloaken verwandelt. Hinzu kommt, dass die Verwaltungen vieler Städte im Süden der Welt bei weitem nicht genug Finanzmittel haben, um die Ver- und Entsorgungssysteme im gleichen Tempo auszuweiten, wie die Einwohnerzahl steigt.

 

Nicht selten wandert zudem ein beträchtlicher Teil der Inves­titionsmittel in private Taschen, und die Wasserbetriebe werden heruntergewirtschaftet. In manchen Städten fehlt der politische Wille, die Slumgebiete überhaupt in die Versorgung aufzunehmen. Je besser das Leben dort sei, desto mehr zusätzliche Menschen vom Lande kämen in die Stadt, lautet das Argument. In Ländern wie Nigeria ist sogar versucht worden, das Prob­lem der Slums durch den Einsatz von Bulldozern zu lösen. Aber die Menschen gehen nicht zurück in ihre Dörfer, wo sie keine Überlebensmöglichkeiten haben, und zusätzlich machen sich jedes Jahr viele Millionen Landbewohner auf den Weg in die Städte, wo sie wenigstens die vage Hoffnung haben, einen Job zu finden und zu etwas Wohlstand zu kommen.

 

Man muss sich bewusst sein, dass viele Städte in Europa und Nordamerika auch erst vor ein- oder eineinhalb Jahrhunderten die Verantwortung übernahmen, alle Einwohner an ein Trinkwasser- und ein Abwassersystem anzuschließen. Vorher war es privater Initiative überlassen, eine Versorgung für die zu schaffen, die es sich leisten konnten. Die anderen waren gezwungen, das Wasser aus Flüssen zu holen, die aber mit zunehmender Verstädterung und Industrialisierung eine immer schlechtere Qualität hatten. Deshalb war die Schaffung kommunaler Ver- und Entsorgungsbetriebe gerade für die ärmere Bevölkerung ein großer Fortschritt, so zum Beispiel in Hamburg (Link).

 

Im Süden der Welt wuchsen die Städte während der Kolonialzeit rapide, waren in Afrika zum Teil sogar Gründungen der Kolonialherren. Die Wasserversorgung spiegelte die koloniale Gesellschaft wider. In den Wohngebieten der Weißen und den Verwaltungsbezirken wurden Versorgungs- und Entsorgungssysteme aufgebaut, die in etwa dem europäischen Niveau der damaligen Zeit entsprachen. Für die einheimischen Staatsangestellten und die einheimischen (in Ostafrika indischstämmigen) Händler wurde ebenfalls eine gewisse Versorgung sichergestellt, während der Rest der städtischen Bevölkerung höchstens auf einige Gemeinschaftswasserhähne hoffen konnte.

 

Das Problem ist, dass in vielen afrikanischen Städten dieses Versorgungssystem bis heute seine Spuren hinterlassen hat. Die Stadtviertel der inzwischen meist schwarzen Oberschicht werden bevorzugt mit Trinkwasser aus der Leitung versorgt, die Wohnviertel der Mittelschicht im alten Zentrum der Städte können darauf hoffen, zumindest einige Stunden pro Tag, manchmal auch nur pro Woche mit Leitungswasser versorgt zu werden und für die übrige Bevölkerung gibt es viel zu wenige Gemeinschaftswasserhähne. Diese Menschen sind darauf angewiesen, ihr Wasser von privaten Wasserversorgern zu kaufen, die es per Tankwagen oder Karre anliefern. Dieses Wasser ist um ein Vielfaches teurer als das Wasser aus der Leitung.

 

Der desolate Zustand vieler städtischer Versorgungssysteme

 

Da viele Leitungsnetze in wirtschaftlich armen Ländern seit der Kolonialzeit nicht erneuert worden sind und nur unzureichend gewartet werden, belaufen sich die Wasserverluste zwischen Wasserwerk und Wasserhahn auf bis zu 50 oder 60 Prozent. Es kommt also nicht einmal die Hälfte des ­Wassers bei den Kunden an. Zu diesem niedrigen Wert, muss hinzugefügt werden, trägt auch bei, dass viele Familien, die keinen Wasseranschluss erhalten haben, illegal Wasser aus den Leitungen zapfen. Aber der größte Teil des Wassers, das nicht bei den Kunden ankommt, versickert ungenutzt im Erd­boden.

 

Wenn sich ein Gemeinschaftswasseranschluss in der Nähe befindet, sind die Probleme der Familien nicht unbedingt gelöst. Denn oft verbringen Frauen und Mädchen mehrere Stunden am Tag damit, darauf zu warten, dass die Schlange am Wasserhahn vorankommt und sie endlich ihren Kanister oder Eimer füllen können. Das bedeutet nicht nur eine persönliche Belas­tung, sondern hat auch zur Folge, dass Frauen in dieser Zeit keiner produktiven Tätigkeit nachgehen und Mädchen nicht zur Schule gehen können. Eine solche Versorgungsmisere hat also gravierende wirtschaftliche und soziale Folgen.

 

Angesichts der immer stärker mit Schadstoffen belasteten Flüsse, Seen und Grundwasservorräte, aus denen das Trinkwasser für die großen Städte gewonnen wird, muss immer mehr Chemie eingesetzt werden, um Gesundheitsrisiken zu vermindern. Dabei ist es schon ein Vorteil, dass sie überhaupt eingesetzt werden. Als ich 2002 eine kenianische Stadt nahe dem Viktoriasee besuchte, versicherten mir Vertreter einer Entwicklungsorganisation, dass es in der Stadt ein wundersames System der Chemievermehrung gab. Die chemischen Stoffe wurden tagsüber im Wasserwerk angeliefert, nachts wieder abgeholt und nach einiger Zeit erneut geliefert. Die Kosten wurden jedes Mal dem städtischen Wasserbetrieb in Rechnung gestellt. Den Gewinn teilten sich Manager der Lieferfirma und des Wasserwerkes. Der Effekt war, dass das Trinkwasser nur selten gechlort wurde, ein höchst gefährlicher Effekt eines Korruptionsfalls.

 

Ungeklärte Abwasserverhältnisse

 

Fast noch katastrophaler ist in vielen Städten in wirtschaftlich armen Ländern die Abwasser­entsorgung. So haben die Slumbewohner vieler großer Städte in Afrika, Asien und Lateinamerika keinen Anschluss an ein Abwassersystem. Die Folge ist, dass viele Haushaltsabwässer und Fäkalien in den Straßen landen. Auch die Millionen kleiner Gewerbebetriebe des informellen Sektors tragen zur starken Belastung der Umwelt bei. Auch schadstoffreiche große Industriebetriebe wie Gerbereien verursachen katastrophale Abwasserprobleme. Jedes Jahr sterben viele Tausend Kinder, die in diesen Straßen spielen, an Krankheiten, die durch die Abwasserverhältnisse verursacht werden.

 

Besonders dramatisch wird die Situation, wenn Überschwemmungen die Abwässer und auch den Hausmüll durch die Straßen und Häuser schwimmen lassen. Das trägt entscheidend dazu bei, dass die Menschen, denen das Wasser oft bis zum Hals steht, kein Wasser zu trinken haben. Die Cholera, die in vielen Städten immer präsent ist, fordert in solchen Situationen zahlreiche Opfer, besonders unter Kindern. Es ist berechnet worden, dass die Kindersterblichkeit in Städten ohne angemessene Wasserversorgung und Abwasserentsorgung 10 bis 20 Mal so hoch ist wie in anderen Städten.

 

Nicht einmal dann, wenn das Abwasser in Leitungen oder offenen Abwassergräben gesammelt wird, sind die Probleme gelöst, denn in vielen Städten fehlen Kläranlagen. So werden nur 20 bis 30 % der Abwässer lateinamerikanischer Städte behandelt, der große Rest wird ungeklärt in Flüsse, Seen oder ins Meer gepumpt. Es kann nicht überraschen, dass es nur unter großen Gesundheitsrisiken noch möglich ist, im weiten Umkreis dieser Städte in Seen oder im Meer zu baden. In Mexiko wird so viel ungeklärtes Abwasser in die Ozeane gepumpt, dass selbst berühmte Ferienorte wie Acapulco nicht mehr unbedenklich für Badeurlaube geeignet sind. Gleiches gilt für die Strände verschiedener Karibikinseln.

 

Angesichts der gravierenden Trinkwasser- und Abwasserprobleme in vielen Städten wirtschaftlich armer Länder stellt sich sogar die Frage, ob in Zukunft manche Städte wieder schrumpfen werden, weil die Lebensgrundlagen der Menschen zerstört sind. Darum geht es in dem Beitrag „Städte werden wegen Wassermangels schrumpfen“ (Link).

 

Gefragt sind bezahlbare Wasser- und Abwassersysteme

 

Was tun? Es gibt viele positive Beispiele dafür, wie Städte versuchen, die Trinkwasser- und Abwasserprobleme zu lösen. Ein wichtiger Schritt ist das Wassersparen. Die brasilianische Metropole São Paulo bietet den Kunden einen Gebührennachlass an, wenn sie ihren Wasserverbrauch um mindes­tens 20 Prozent vermindern. Auch WC-Spartasten, die zunächst vor allem in umweltbewussten Haushalten im Norden der Welt eingebaut wurden, sind inzwischen von den Wasserfachleuten in Städten wie São Paulo als Instrument zur Verminderung des Verbrauchs anerkannt worden. Weitere Reduzierungen des Trinkwasserbedarfs sollen dadurch erzielt werden, dass gereinigtes Brauchwasser in der Industrie und der Landwirtschaft eingesetzt wird. Große Erfolge wurden bei der Wasserversorgung und Wasserentsorgung in Porto Alegre (Link) erzielt, weil die Bevölkerung im Rahmen eines partizipatorischen Haushalts in die Planungen und Finanzentscheidungen des Wasserbetriebes einbezogen worden ist und sich auf dieser Grundlage sehr viel stärker mit ihrem Wasserversorger identifiziert hat.

 

Bei der Suche nach Lösungen für die städtischen Wasserprobleme muss man sich bewusst sein, dass weltweit ein Drittel der Einwohner heutiger Städte in Slums lebt. Lösungsvorschläge, die ihre Probleme nicht beseitigen, sind verfehlt. Das hat Konsequenzen für die Wahl der technischen Lösungen. Teure Hightech-Konzepte sind für die Armen nicht bezahlbar. Zugleich stoßen die Modelle des privaten Betriebs von Wasserwerken hier an ihre Grenzen. Wo keine ausreichende Kaufkraft vorhanden ist, da hat der Markt seine Funktion des Ausgleichs von Angebot und Nachfrage verloren. Auch private Wasserkonzerne haben dieses Problem inzwischen erkannt und nehmen solche Vorhaben nur noch in Angriff, wenn in großem Umfang Entwicklungshilfegelder zur Verfügung gestellt werden.

 

Deshalb spricht viel dafür, die kommunalen Versorgungsbetriebe auch im Süden der Welt zu effektiven Dienstleistern für die ganze Bevölkerung zu machen. Das sind sie heute vielerorts nicht, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass in vielen afrikanischen Städten bis zu 80 Prozent der Einwohner ihr Wasser von privaten Wasserverkäufern erwerben müssen, die mit Karren oder Tankwagen in die Armenviertel kommen. Es gibt viele marode öffentliche Wasserbetriebe in den Städten des Südens der Welt. Aber es gibt auch effizient arbeitende kommunale Wasserwerke. Und es gibt kostengünstige Lösungen für die Wasser- und Abwasserprobleme, die auf einfache Techniken und viel Selbsthilfe der Bevölkerung setzen.

 

Wie wichtig die aktive Mitwirkung der Armen an Entscheidungen und konkreten Maßnahmen zur Lösung der städtischen Trinkwasser- und Abwasserprobleme ist, wurde im zweiten UN-Weltwasserbericht „Water – a shared responsibility“ (2006) herausgestellt. In dem Bericht heißt es: „Den städtischen Armen fehlt in der Regel jeder Einfluss auf die staatlichen Einrichtungen und die Wasserversorgungsbetriebe. Einfluss auf den Staat zu nehmen erfordert typischerweise andere Maßnahmen als die Einflussnahme auf Wasserversorgungsbetriebe – sich an Wahlen zu beteiligen und nicht Zahlungen zu leisten zum Beispiel. Nichtsdestoweniger können viele Veränderungen, die den Menschen helfen, ihre Armut zu überwinden, zum Beispiel eine gute Bildung oder Einkommensmöglichkeiten, ihnen auch gleichzeitig helfen, Regierungen zu beeinflussen und auf wirksame Weise Forderungen an Wasserbetriebe zu stellen, seien diese nun öffentlich oder privat. Vier wichtige Veränderungen sind:

 

- höhere Einkommen, die es den Menschen erlauben, mehr für die Wasserversorgung zu bezahlen, in besser versorgten Gebieten zu wohnen und oft auch größeren politischen Einfluss auszuüben;

 

- bessere rechtliche Absicherung der Wohnansprüche, die eine größere politische Legitimität verleihen (und eine rechtlich anerkannte Adresse kann die Voraussetzung dafür sein, wählen zu können), auf diese Weise werden auch die Möglichkeiten der Bewohner verbessert, mit Wasserversorgungsbetrieben zu verhandeln und diese dazu zu bewegen, Zeit und Ressourcen für den Ausbau der Wasser-Infrastruktur zu verwenden (dies gilt sowohl für gegenwärtige Besitzer/Mieter als auch für diejenigen, die dies anstreben);

 

- bessere Information, die die Bewohnerinnen und Bewohner besser in die Lage versetzt, ihre eigenen Wasser- und Abwasserziele zu formulieren und mit anderen darüber zu verhandeln, wie diese Ziele verwirklicht werden können;

 

- besser organisierte lokale Gemeinschaften, die in einer stärkeren Position sind, mit Regierungsstellen und Wasserversorgungsbetrieben zu verhandeln (und in manchen Fällen auch besser in der Lage sind, lokale Investitionen in die Wasser-Infrastruktur vorzunehmen).“

 

© Frank Kürschner-Pelkmann