Religiöse Toleranz im alten Babylon?
Babylon, das war eine antike Großstadt, in der viele Götter angebetet wurden, sehr viele Götter. Konnte das gut gehen oder gab es permanent religiöse Konflikte? Wie in vielen damaligen und späteren Reichen, wurde in Babylonien die Religion in den Dienst der Wahrung der politischen Stabilität gestellt. Vor allem in der Hauptstadt Babylon kam dabei dem Stadtgott Marduk eine zentrale Rolle zu. Der Glaube an ihn bildete das Fundament für die gemeinsame Identität der Menschen in Babylon und im babylonischen Reich.
Mit der herausragenden Stellung von Marduk in der Welt der Götter korrespondierte die herausragende Stellung Babylons auf der Erde. Und Marduk sorgte dafür, dass Babylon trotz feindlicher Eroberungen der Stadt und ökonomischer Rückschläge immer wieder in neuem Glanz erstrahlte. Der Mythos von Babylon als Zentrum der Erde war unlösbar mit dem Stadtgott verbunden, und diese Symbiose von Glaube und politischem Machtanspruch hat entscheidend dazu beigetragen, dass Babylon Jahrhunderte lang eine herausragende Position in Mesopotamien wahren konnte.
Marduk vom Sockel stoßen zu wollen, war identisch damit, gegen das politische System der Babylonier zu rebellieren. Wenn eine Stadt im babylonischen Reich ihrer Verpflichtung nicht nachkam, Lebensmittel für den Marduk-Tempel in Babylon zu liefern, wurde das als offene Rebellion gegen Marduk und seine irdischen Vertreter verstanden. Die betreffende Stadt musste damit rechnen, dass bald eine babylonische Armee vor ihren Mauern auftauchte. Denn alle Menschen im Reich, waren die babylonischen Könige und Priester überzeugt, hatten die religiöse Pflicht, für eine üppige Ernährung der Götter und natürlich besonders Marduks zu sorgen. Wer sich dem entzog, wurde hart bestraft.
Aber das geschah nur sehr selten, jedenfalls in den Blütezeiten des babylonischen Reiches. Marduk besaß damals unangefochten eine führende Stellung unter den Göttern. Ihm und den anderen Göttern wurden Ehrerbietung und Dienstbarkeit entgegengebracht. Dass viele Götter in den babylonischen Städten oder Regionen angebetet werden konnten, war Ausdruck einer klugen Religionspolitik. Babylon bildete das politische und auch das religiöse Zentrum des babylonischen Reiches, aber daneben gab es viele selbstbewusste Städte und Volksgruppen mit langer Geschichte und alten religiösen Traditionen. Da wäre eine religiöse Konfrontationspolitik unklug gewesen.
Auch die Bewohnerinnen und Bewohner von Babylon verehrten neben Marduk eine große Zahl von Göttern. Viele Babylonier empfanden ihr Leben als unsicher und die eigene Zukunft als ungewiss. Sie suchten in der Religion nach Erklärung, Trost, Abhilfe oder Milderung angesichts unerklärlicher gesundheitlicher, familiärer oder wirtschaftlicher Gefahren und Katastrophen. Religiöse Tonplaketten und kleine Tonfiguren galten als unverzichtbar, um sich vor Unbill zu schützen. Es war äußerst wichtig, sich mit den allmächtigen Göttern und Geistern gut zu stellen.
Keine religiöse Konfrontation, sondern die Absicherung von politischer Loyalität
Babylonische Herrscher waren immer wieder bereit, den Bau oder die Restaurierung von Tempelanlagen für unterschiedliche Götter in den Städten ihres Reiches finanziell zu fördern. Das war auch ein Instrument, um die lokale Bevölkerung an Babylon zu binden und die Menschen zu loyalen Untertanen zu machen. Aber sie zeigten damit gleichzeitig eine offenere Haltung gegenüber anderen Göttern als die Herrscher vielen anderer Reiche ihrer Zeit. Das erlebten zum Beispiel die Juden einige Jahrhunderte später, als ihre griechischen Beherrscher ihnen verboten, zu ihrem Gott zu beten. Die griechischen Besatzer machten den Tempel in Jerusalem und andere religiöse Stätten gewaltsam zu Orten der Anbetung griechischer Götter und Göttinnen. Diese rigorose Religionspolitik führte immer wieder zu Aufständen der jüdischen Bevölkerung und schließlich zur Vertreibung der griechischen Besatzungstruppen.
Die babylonischen Herrscher gingen klüger vor. Statt andere Götter konfrontativ durch Marduk zu ersetzen, räumten sie diesen Göttern einen Platz im Götterhimmel ein, solange nicht infrage gestellt wurde, dass Marduk an der Spitze der Götter stand. Sehr konsequent gingen die babylonischen Herrscher auch dabei nicht vor, sodass die kleinen jüdischen Exilgemeinschaften ihren Gott anbeten konnten, der ihrem Glauben nach keineswegs Marduk untergeordnet war.
Das Neujahrsfest – ein Fest für den Stadtgott
Die wichtigste Möglichkeit für die babylonische Bevölkerung, am öffentlichen religiösen Leben teilzunehmen, war das alljährliche zwölftägige Neujahrsfest. Bei diesem ausgelassenen Fest wurde die enge Verbindung zwischen der Glaubenswelt der Babylonier und dem politischen und gesellschaftlichen System der Stadt und des Reiches bekräftigt und für alle Gläubigen erfahrbar. Die tiefere Bedeutung des Festes bestand darin, die dominierende Rolle von Marduk in der Götterwelt und unlösbar damit verbunden die hervorgehobene Rolle Babylons und seines Königs auf der Erde ausgiebig zu feiern.
Jedes Jahr neu wurde die babylonische Schöpfungsgeschichte mit dem Sieg Marduks über seine Feinde nachgespielt und zelebriert. Dafür brachte man zunächst die Bilder aller Stadtgötter Babyloniens in Prozessionen in die Stadt Babylon. All diese Götter wurden nun in das religiöse Fest einbezogen. Die Götter, symbolisiert durch ihre Bilder, wurden zu ihrem gemeinsamen Zuhause, dem Tempel Esagila, getragen und versammelten sich vor dem Tempel auf dem „Sockel der Schicksalsentscheidungen“ um das Bildnis des Gottes Marduk. Ihm übergaben sie – wie im babylonischen Schöpfungsepos beschrieben – ihre Macht und ordneten sich ihm unter.
Es folgte eine große Prozession zum Neujahrsfesthaus außerhalb der Stadtmauern, bei der alle Götter und der König von Babylonien den Gott Marduk begleiteten. Dort besiegte Marduk jedes Jahr aufs Neue die Göttin Tiamat und ihre Ungeheuer. Nach diesem Sieg des babylonischen Stadtgottes kehrte die Prozession feierlich durch das prächtige Ischtar-Tor und die Prozessionsstraße zurück zum Tempel Egasila in das Stadtzentrum. Auf dem „Sockel der Schicksalsentscheidungen“ wurde nun Marduk erneut zum König der Götter proklamiert, und auch der babylonische König wurde in seinem Amt bestätigt.
Der Verzicht auf einen Monotheismus durch die babylonischen Autoritäten
Im babylonischen Reich hat sich nie ein strenger Monotheismus herausgebildet. Zwar wollten einige theologische Denker unter den Marduk-Priestern alle Götter zu einem einzigen Gott verschmelzen. Aber durchgesetzt haben sie sich mit diesen Vorstellungen nicht. Vermutlich spielten machtpolitische Gesichtspunkte bei der Ablehnung solcher theologischer Überlegungen eine große Rolle, denn der Versuch eines „Einschmelzens“ aller Stadtgötter und all der anderen Götter in Babylonien zu einem einzigen Gott hätte sicher massiven Widerstand ausgelöst.
Im Volksglauben war ohnehin kein Platz für solche theologischen Überlegungen, sondern man verehrte eine Vielzahl von Göttern. Es ist also kein Zufall, dass im Vielvölkerreich Babylonien kein monotheistischer Glaube entstand, sondern viele Götter angebeteten werden konnten, solange die dominierende Rolle von Marduk und seines irdischen Vertreters, des Königs, nicht infrage gestellt wurde.
Babylonische und jüdische Glaubensvorstellungen
Die Exiljuden waren in einer gänzlich anderen Situation als die herrschenden Babylonier. Nicht nur die Identität als Volk, auch der eigene Glaube war aufs Höchste gefährdet. Hatte sich der Gott der Babylonier als mächtiger als der eigene Gott erwiesen, als Jerusalem erobert wurde? Waren die Verheißungen des Gottes der Juden für sein Volk obsolet geworden? Das waren nur zwei von vielen Fragen, auf die die verschleppten Menschen nach Antworten suchten.
Viele Völker und Religionsgemeinschaften sind in einer vergleichbaren Situation für immer aus der Geschichte der Menschheit verschwunden. Warum das dem Gott der Juden und seinem Volk nicht passiert ist, gehört zu den spannendsten Entwicklungen in biblischen Zeiten. Ein entscheidender Faktor für das Überleben der Juden als Volk und als Religionsgemeinschaft im babylonischen Exil und den folgenden politisch turbulenten Zeiten war der Glaube an den einen Gott und nur diesen Gott. Er war es gewesen, der die Bestrafung seines unbotmäßigen Volkes durch militärische Niederlage und Exil bestimmt hatte. Die Babylonier waren dabei lediglich seine Instrumente. Und dieser Gott würde dafür sorgen, verkündeten Priester und Propheten, dass die Menschen aus der Verbannung in ihre Heimat zurückkehren könnten.
Die Babylonier glaubten an einen Gott, Marduk, der andere Götter nicht ausschloss, sondern sich an ihre Spitze gestellt hatte. Demgegenüber wurde der jüdische Glaube im babylonischen Exil stärker als vorher von einem exklusiven Monotheismus bestimmt, von einem „eifersüchtigen“ Gott, der keine anderen Götter an seiner Seite duldete. Der Unterschied im Gottesverständnis ist religionsgeschichtlich erklärbar. Während die Babylonier ihren Vielvölkerstaat zusammenhalten und alle einbeziehen wollten, kam es den Juden darauf an, als Volk zu überleben und die eigene religiöse und soziale Identität zu wahren.
Die Konkurrenz des Sonnengottes schafft Konflikte
Schwierig wurde die religiöse Situation in Babylonien, als König Nabonid Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. versuchte, den Sonnengott Sin zulasten von Marduk eine führende Rolle im babylonischen Reich zu verschaffen. Das war nicht nur ein Glaubenskonflikt im engeren Sinne, sondern bedeutete auch eine akute Gefährdung der gesellschaftlichen und ökonomischen Stellung der Marduk-Priester und ihrer ausgedehnten Tempelökonomie. Sie waren derart zornig über die Religionspolitik Nabonids, dass sie ihn so stark bedrängten, dass er für ein Jahrzehnt Babylon verließ und in die Wüstenstadt Tayma im heutigen Saudi-Arabien auswich und dort am Rande seines Reiches lebte.
Bald nach seiner Rückkehr belagerten persische Truppen die Stadt Babylon. Und vermutlich war es der Einfluss der Marduk-Priester, der die babylonischen Truppen veranlasste, die Stadttore zu öffnen und den Persern den kampflosen Einzug in die Stadt zu ermöglichen. Damit endete die Herrschaft der babylonischen Könige. Die persischen Herrscher zeigten sich gegenüber den Priestern erkenntlich, indem sie die Marduk-Tempel förderten und den ungehinderten Glauben an diesen Gott ermöglichten.
Die persischen Herrscher akzeptieren die religiöse Vielfalt in Babylon
Mit der Übernahme der Herrschaft in Babylon und ganz Babylonien durch die Perser sahen sich die Exiljuden plötzlich mit ganz neuen religiösen Vorstellungen konfrontiert. In der Zarathustra-Religion der Perser kam dem Gott Ahura Mazda eine zentrale Rolle zu. Der „Gott der Weisheit“ stand unangefochten als „der“ Gott über allen anderen Göttern.
Deshalb konnten die Perser auch gelassen auf andere religiöse Vorstellungen reagieren: Die herausragende religiöse Position von Ahura Mazda blieb für sie stets garantiert. Der Archäologe Professor Frantz Grenet schrieb 2011 in der katholischen Zeitschrift „Welt und Umwelt der Bibel“ über den Umgang der persischen Herrscher mit Fremdreligionen: „Die Religionen aus der Zeit vor der persischen Eroberung konnten sich in ihrer Vielfalt weiter entfalten.“ Verfolgt wurden lediglich abweichende Kulte innerhalb der eigenen persischen religiösen Gemeinschaft.
Ähnlichkeiten der persischen Glaubensvorstellungen mit dem jüdischen Monotheismus sind deutlich erkennbar. Es wäre aber unsinnig, anzunehmen, dass die jüdischen Theologen das Gottesverständnis der Perser übernommen hätten, aber dass es vor allem den gelehrten Juden der babylonischen Diaspora bekannt war, ist unstrittig. Sowohl die persische als auch die jüdische Religion gehören zu den ersten „Buchreligionen“, in denen heilige Männer – Zarathustra und Mose – göttliche Botschaften und Weisungen erhielten, die zu den Grundlagen der Religionen wurden. Und in beiden Religionen kommt der Unterscheidung von Gut und Böse sowie von Rein und Unrein eine große Bedeutung zu. Dass in beiden Religionen ein bildloser Gott verehrt wird, fällt ebenfalls auf.
Babylon bildet die Brücke zwischen den beiden Religionen und ihren zum Teil recht ähnlichen Antworten auf die grundlegenden religiösen Fragen der Menschen des Mittleren Ostens im 5. und 4. Jh. v. Chr. Rainer Albertz hat in seinem Standardwerk „Die Exilszeit“ die Bedeutung des jüdischen Exils für die drei monotheistischen Weltreligionen so zusammengefasst: „Ohne die Exilserfahrung hätte es in Israel nie die Entdeckung des Monotheismus im strengen Sinne des Wortes gegeben, ohne sie wäre von Israel nie die Grenze der Nationalreligion überschritten und ohne sie wäre aus seiner Mitte nie die Idee einer weltweiten Mission geboren. Das heißt: Ohne das Exil Israels gäbe es das Judentum, das Christentum und auch den Islam nicht in ihrer unverwechselbaren Form, in der wir diese drei Weltreligionen kennen.“
Babylon – Vorbild für ein Miteinander der Religionen
Judentum, Christentum und Islam haben andere Antworten als die Babylonier auf die Frage nach dem Verhältnis der Religionen zueinander gefunden. Leider gibt es nicht selten Konflikte und manchmal gewaltsam ausgetragene Auseinandersetzungen innerhalb dieser drei monotheistischen Religionsgemeinschaften, zwischen ihnen und in ihrem Verhältnis zu anderen religiösen Gemeinschaften.
Die babylonische Religionspolitik kann kein Vorbild für die heutige Zeit sein, weil sie Religion zur Festigung eines autoritären politischen Herrschaftssystems einsetzte und weil sie alle anderen Glaubensvorstellungen dem Glauben an den Stadtgott Marduk unterordnete. Aber es war trotzdem bemerkenswert, dass die babylonischen Herrscher den Menschen der vielen Völker ihres Reiches die Möglichkeit ließen, ihren eigenen Glauben zu praktizieren. Und diese Tradition wurde auch von den persischen Herrschern fortgeführt. Der Gedanke der Toleranz war noch nicht entstanden. Aber die Babylonier waren auf dem Weg zu einem friedlichen Neben- und Miteinander der Religionen bereits sehr viel weiter vorangekommen als viele andere Reiche ihrer Zeit – und als manch heutige religiöse Fundamentalisten und Fanatiker.
Ausführlichere Informationen zu Religion und Politik in Babylon finden Sie in meinem Buch „Babylon – Mythos und Wirklichkeit“.