Cover des Buches "Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte2
Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte, 1016 Seiten ISBN 978-3-384-05017-5 38 Euro

1789 - Franz Heinrich Ziegenhagen gründet eine utopische Kolonie in Billwerder

Es war das elende Leben der Armen in Hamburg, das Franz Heinrich Ziegenhagen erschütterte und nach Alternativen zur bestehenden Gesellschaft suchen ließ. Er beschrieb das Leben der armen Mehrheit der Einwohner der Stadt im 18. Jahrhundert ausführlich, hier ein Beispiel: „In Hamburg wohnen viele tausend Menschen in Kellern, welche so tief liegen, daß bei hohem Wasser es in ihre Wohnungen dringt und zuweilen selbige bis oben an den Boden anfüllt, so daß schon bei schneller Überraschung Menschen in ihren Wohnungen ertrunken sind.“

 

Ziegenhagen war besonders erschüttert von der Situation der Kinder, die in diesen Verhältnissen aufwachsen mussten. Das veranlasste ihn, utopische Vorstellungen von einer ganz anderen Gesellschaft zu entwickeln und zu versuchen, sie in einer Musterfarm und Kinderkolonie umzusetzen. Er gehört zu den utopischen Denkern der Aufklärungszeit, die eine Gesellschaft aufbauen wollten, die die Glückseligkeit der Menschen auf Erden fördern würde.

Franz Ziegenhagen wurde am 8. Dezember 1753 als Sohn eines Wundarztes in Straßburg geboren. Sein Hauslehrer machte ihn mit utopischen Vorstellungen vertraut. Aber zunächst nahm sein Leben eine andere Richtung. Seine kaufmännische Lehre und längere Reisen bereiteten ihn gut darauf vor, sich als selbstständiger Tuchhändler zu etablieren und große geschäftliche Erfolge zu erzielen. Aber diese Berufstätigkeit gab seinem Leben keinen Sinn, und er begab sich auf eine lange geistige Reise, die ihn weg vom Protestantismus und hin zur Gedankenwelt der Freimaurer und dann zu utopischen Gesellschaftsentwürfen führte.

 

Das Ziel der Menschenbeglückung

 

1779 wurde er vorübergehend Lehrer an einer reformpädagogischen Bildungseinrichtung in Dessau, scheiterte dort aber noch in der Probezeit und ließ sich in Hamburg nieder. Hier gründete er ein Handelshaus für Tuche und Zucker, das er so erfolgreich führte, dass er 1788 ein großes Landgut in Billwerder erwerben konnte. Er hatte geheiratet und zog nun mit Frau und zwei Kindern auf das Gut.

Damals hatte er bereits sein umfangreiches Hauptwerk unter dem Titel „Lehre vom richtigen Verhältnisse zu den Schöpfungswerken, und die durch öffentliche Einführung desselben allein zu bewürkende algemeine Menschenbeglükkung“ in Arbeit. Das Buch erschien 1792 im Selbstverlag und erreichte immerhin eine Auflage von 5.000 Exemplaren. In dem Buch nehmen Religions- und Zivilisationskritik breiten Raum ein, es werden aber auch Konzepte für grundlegende Veränderungen der Landwirtschaft und der Pädagogik entwickelt. Ziegenhagen schlug vor, gemeinschaftlich in einer Kolonie zu leben und dafür ein „angenehmes, hervorstechendes Landguth“ aufzubauen. Als erster Schritt könnte eine Kinderkolonie entstehen. Hervorzuheben ist, dass Ziegenhagen sich für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzte und Jungen und Mädchen gleich erziehen wollte.

 

Ziegenhagen bemühte sich, seine in dem Buch entwickelten utopischen Vorstellungen in Billwerder exemplarisch zu verwirklichen. Er gab sein Handelsunternehmen auf und konzentrierte sich darauf, mit viel Geld ein Mustergut zu schaffen, das sich auch am englischen Konzept der „ornamented farm“ orientierte. Es war hierzulande einer der ersten Versuche, utopischen Ideen zu verwirklichen, blieb aber erfolglos. Gleiches galt auch für die Gründung einer Kinderkolonie. Aber sowohl die Landwirtschaft als auch die rudimentäre Kinderkolonie verursachten große Verluste.

 

Die Verarmung des utopischen Denkers

 

Die gescheiterten Projekte in Billwerder und die Kosten für die Verbreitung seiner Werke verschlangen sein Vermögen. Er hatte zum Beispiel Mozart dafür bezahlt, zu einem seiner Texte eine Kantate zu komponieren. Vergeblich wandte er sich nun an Fürsten, Universitäten und sogar den französischen Nationalkonvent, in der vergeblichen Hoffnung, dass sie sich seine Lehren zu eigen machen und ihn unterstützen würden.

 

 

1800 musste er sein Gut verkaufen und versuchte vergeblich, erneut ein Handelshaus in Hamburg aufzubauen. Nach dem Tod seiner Frau kehrte er 1802 in seine Heimat Elsass zurück, fand aber auch dort keine Unterstützung für seine utopischen Vorstellungen. Er nahm sich am 21. August 1806 das Leben. Seine Gesellschaftskritik bleibt eine Mahnung für tiefgreifende soziale Veränderungen: „Hier sind einige im Besitz des übermäßigsten Reichtums; dort erliegen andere unter dem drückenden Joch der Armut!“ 

 

Aus: Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte

 

 

© Frank Kürschner-Pelkmann