Cover des Buches Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte,
Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte, 1016 Seiten ISBN 978-3-384-05017-5 38 Euro

1777 – Ernestine und Johann Heinrich Voß heiraten in Wandsbek und führen eine harmonische Ehe

Es hatte gelegentlich auch Vorteile, wenn man im 18. Jahrhundert nicht reich war. Während in reichen Hamburger Kaufmannfamilien bei Heiratsfragen eine entscheidende Rolle spielte, ob die geplante Ehe den eigenen Reichtum mehren und die Verbindungen zu Geschäftspartnern festigen konnte, entfielen bei armen Familien solche Überlegungen. Davon profitierten auch Ernestine Boie und Johann Heinrich Voß. Sie hatten sich ineinander verliebt und wollten von sich aus heiraten. Allerdings, ganz ohne Schwierigkeiten ging das nicht, denn Mutter Boie beharrte darauf, dass erst geheiratet werden durfte, wenn der Bräutigam eine Familie ernähren konnte – und danach sah es zunächst nicht aus.

Johann Heinrich Voß stammte aus armen Verhältnissen. Er wurde am 20. Februar 1751 in Sommerstorf bei Waren an der Müritz geboren. Sein Großvater väterlicherseits war noch Leibeigener gewesen, und auch der Vater hatte große Mühe, aus der Armut herauszukommen, zumal er im Siebenjährigen Krieg fast alles Erarbeitete wieder verlor. Die Mutter stammte aus einer Organistenfamilie und konnte nur wenig in die Ehe einbringen.

Johann Heinrich war das älteste von fünf Kindern des Paares. Er konnte nur dank der finanziellen Unterstützung von Freunden die Gelehrtenschule in Neubrandenburg besuchen. An ein Studium war nicht zu denken. Deshalb nahm Voß die Stelle eines Hauslehrers in Ankershagen an. Die Gutsbesitzerfamilie behandelte ihn ständig herablassend und demütigend als Domestiken, was dazu beitrug, dass Voß zeitlebens negativ gegenüber dem Adel eingestellt war.

Als großer Glücksfall erwies sich, dass der Ortspastor den intelligenten jungen Mann fördern wollte. Er brachte ihn in Kontakt mit Heinrich Christian Boie, dem Herausgeber des „Göttinger Musen­-almanachs“, einer hoch angesehenen literarischen Zeitschrift. Nicht nur publizierte Boie dort Gedichte von Voß, er ermöglichte ihm auch, von 1772 an in Göttingen zu studieren, zunächst Evangelische Theologie und dann Philologie. Voß gründete während des Studiums den „Göttinger Hainbund“, eine der ersten deutschen Dichtervereinigungen.

1774 übergab Boie dem jungen Dichter die Redaktion des „Musenalmanachs“, eine Aufgabe, die Voß bis zum Jahre 1800 erfüllte. Ebenfalls 1774 lernte er Ernestine Boie kennen, die jüngste Schwester seines großzügigen Förderers. Sie wurde am 31. Januar 1756 geboren und wuchs in einer Oberschichtfamilie mit 11 Geschwistern in Meldorf auf. Die beiden jungen Leute verliebten sich rasch ineinander und verlobten sich.

Als Redakteur des Almanachs bezog Voß ein kleines Gehalt, das aber nicht ausreichte, um eine Familie zu ernähren. So musste der Heiratswunsch der beiden jungen Leute zurückgestellt werden. Voß zog 1775 nach Wandsbek, wo er den Austausch mit Claudius, Klopstock, Lessing und anderen Dichtern und Gelehrten im Hamburger Raum schätzte. Die Zeit in Wandsbek hat wesentlich dazu beigetragen, dass er zu einem angesehenen Vertreter der Aufklärung in Deutschland aufstieg. Dazu passte sein Engagement gegen die Leibeigenschaft.

Am 15. Juli 1777 konnte angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs des „Musenalmanachs“ in Wandsbek geheiratet werden. Ernestine Boies Vater war Pastor in Meldorf und später Propst in Flensburg. Ernestine besaß im Gegensatz zu ihrem Ehemann ein ausgleichendes Temperament und war stets bemüht, die Harmonie in Gesprächsrunden wiederherzustellen, wenn das aufbrausende Auftreten ihres Mannes zu Unstimmigkeiten geführt hatte. Sie war es auch, die durch eine umfangreiche Korrespondenz die Verbindung zu Freunden wie Goethe aufrechterhielt.

Ihre eigenen literarischen, biografischen, autobiografischen und pädagogischen Arbeiten fanden zu ihren Lebzeiten wenig Beachtung und wurden nur selten publiziert. Vieles wurde erst posthum bekannt. Wie viele Frauen von Schriftstellern stand sie immer im Schatten ihres Mannes, und das blieb auch nach ihrem Tod so. Auch typisch: Lange Zeit publizierte man nur die Beiträge von ihr, in denen es um ihren Ehemann ging. Erst 2016 veröffentlichte Professor Axel E. Walter eine umfangreiche Arbeit mit dem Titel „Ernestine Voß – eine Dichterfrau und Schriftstellerin der Spätaufklärung“.

Die Ehe wird übereinstimmend als harmonisch und geradezu idyllisch beschrieben. Schon in einem Brief vom 1. Januar 1775 hatte Voß seiner zukünftigen Frau geschrieben: „Unaussprechlich lieb ich Dich, meine Theure! Mein ganzes Leben sei Dein! Und wenn ich sterbe, so sei mein letztes Stammeln zu Gott der Dank, daß er mir Dich geschenkt hat!“ Später sprach man von einer „Vossschen Hausidylle“. Zur Familie gehörten bald fünf Söhne. Neben ihrer häuslichen Arbeit, der Korrespondenz und der Beratung ihres Mannes bei dessen literarischen Arbeiten fand Ernestine Voß immer wieder Zeit, sehr schöne Gärten anzulegen.

Zur Rolle der Hausfrau und der Beziehung der Ehepartner schrieb sie in einem posthum veröffentlichten Aufsatz: „Die Hausfrau sei heiter und thätig, und liebe den Putz nicht mehr als nöthig ist, um ihrem Manne zu gefallen. Sie verstehe die Kunst, angenehme und nützliche Thätigkeit miteinander zu verbinden. Unter beiden entstehe nie ein Zank, als darüber, ob er sie oder sie ihn mehr erfreue.“

1778 nutzte Johann Heinrich Voß die Möglichkeit, endlich ein höheres Einkommen zu erzielen und zog mit seiner Familie als Rektor der Lateinschule nach Otterndorf an der Unterelbe. Aber bereits 1782 gab Voß die Stelle wieder auf, nachdem er und seine Familie wegen der schlechten Trinkwasserqualität erkrankt waren. Auf Vermittlung eines Freundes konnte er die Leitung des Gymnasiums in Eutin übernehmen, eine Aufgabe, die ihm Zeit ließ, daneben literarisch tätig zu bleiben. Berühmt wurden seine Übersetzungen der antiken Schriften „Ilias“ und „Odyssee“.

Neben weiteren Übersetzungen antiker Texte und neuerer literarischer Texte aus dem Englischen (u. a. Shakespeare-Stücke) und Französischen veröffentlichte Voß auch zahlreiche eigene Gedichte und einige wissenschaftliche Werke. Seine rastlose literarische Arbeit beeindruckte und beunruhigte seine Frau und seine Freunde. Der befreundete Komponist Johann Abraham Peter Schulz schrieb Voß im Mai 1800: „Deine Arbeitsamkeit ist mir unbegreiflich … Ich weiß nicht, wie du es machst, und wie du es aushältst.“

Voß pflegte weiterhin intensiven Kontakt zu anderen Dichtern und Gelehrten und gründete mit Freunden zusammen den „Eutiner Kreis“, eine Gesprächskreis zu kulturellen Themen. Ernestine Voß trug durch ihre Gastfreundschaft und ihr Interesse am Austausch zum Erfolg bei. Die kleine Residenzstadt Eutin entwickelte sich in dieser Zeit zum „Weimar des Nordens“. 1802 beendete Voß nach zwei Jahrzehnten seine Tätigkeit als Rektor und zog mit seiner Frau nach Jena. Goethe schätzte den Austausch mit dem Dichter Voß und bedauerte, dass dieser 1805 die Berufung zum Professor an der Universität Heidelberg annahm. Die gut dotierte Stelle war mit keinen Lehrverpflichtungen verbunden, sodass der Dichter viel Zeit für Übersetzungen und eigene literarische Arbeiten fand. Auch nutzte er den Ruhestand dazu, sich mit polemischen Beiträgen gegen die politische Restauration nach 1815 und ebenso gegen die literarische Romantik zu positionieren.

Johann Heinrich Voß starb am 29. März 1826. Mit Unterstützung eines Sohns ordnete die Witwe den literarischen Nachlass und veröffentlichte seine Briefwechsel. Sie starb am 10. März 1834. Ihre Korrespondenz mit ihrem Mann und ihren Söhnen wurden erst in den letzten Jahren restauriert und wissenschaftlich ausgewertet. Sie gilt inzwischen als eine der wichtigsten Privatkorrespondenzen des frühen 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum und gibt einen guten Einblick in den Alltag und die Gesellschaft der damaligen Zeit.

 

Am Gebäude Hinterm Stern 20 in Wandsbek hält eine Informationstafel die Erinnerung daran wach, dass hier das Haus stand, in dem Johann Heinrich und Ernestine Voß in Wandsbek wohnten. Der Voßweg in Uhlenhorst erinnerte zunächst nur an den Gelehrten, seit 2022 auch an seine Frau.

 

Aus: Frank Kürschner-Pelkmann: Entdeckungsreise durch die Hamburger Geschichte

 

© Frank Kürschner-Pelkmann