Cover des Buches Frank Kürschner-Pelkmann: Die Weihnachtsgeschichte - Fakten, Legenden und tiefere Bedeutung
Frank Kürschner-Pelkmann: Die Weihnachtsgeschichte - Fakten, Legenden und tiefere Bedeutung, Rediroma Verlag, Remscheid 2025, ISBN 978-3-86870-734-2, 680 Seiten, 26,95 Euro

Einleitung des Buches  "Die Weihanchts-geschichte - FAkten, Legenden und tiefere Bedeutung"

 

„Alle Jahre wieder in der Advents- und Weihnachtszeit predigen Papst, Bischöfe und andere Verkündiger so über die Erzählungen der sogernannten ‚Kindheitsgeschichte‘ Lk 1-2 und Mt 1-2, als ob es sich um historische Berichte handelte. Was die Gattung der Kindheitsgeschichte sein will – eine erzählerisch-theologische Einstimmung als Ouvertüre eines Jesusbuches – das wird einfach ignoriert.“ Das schrieb keine Gegnerin der Kirche. Anneliese Hecht ist Referentin im Katholischen Bibelwerk und veröffentlichte diese Auffassung 2019 in der von diesem Bibelwerk herausgegebenen Zeitschrift „Bibel und Kirche“.

 

Das Wunderbare am Weihnachtsgeschehen zeigt sich nicht an offenkundig unzutreffenden historischen Angaben in den Evangelien. Es kommt auch nicht darauf an, die Widersprüche zwischen und innerhalb der Evangelien zu ignorieren oder künstlich aufheben zu wollen. Es kommt ebenso wenig darauf an, die Evangelien zu entmythologisieren. Das Wunderbare entdecken wir erst, wenn wir zu dem vordringen, was die Evangelisten als Heilsbotschaft erkannt haben, die Jesus gepredigt und gelebt hat. Wir können danach streben, diese tieferen Botschaften und Wahrheiten zu erkennen. Jesu Geburt war eine Sternstunde in der Geschichte der Menschheit – und das auch dann, vielleicht gerade dann, wenn kein Stern über dem Stall in Bethlehem gestrahlt hat.

 

Die Weihnachtsgeschichten sind keine Märchen. Ihre Aussagen sind viel komplexer, als wir sie in einem Märchen finden würden. Und da, wo ein Märchen endet, beginnen die Evangelisten damit, den Leserinnen und Lesern das zu erzählen, was sie von dem Leben und der Botschaft Jesu verstanden haben. Sie haben gewissenhaft das erkundet und aufgeschrieben, was Jahrzehnte nach dem Tod Jesu noch zu erfahren war. Sie lassen uns teilhaben an einer Botschaft der Hoffnung inmitten einer Welt, in der gar zu oft kein wirklicher Frieden, keine Gerechtigkeit und kein liebevoller Umgang miteinander und mit der Schöpfung zu erleben waren und sind.

 

Alle Jahre wieder - Die Weihnachtsgeschichte im Gottesdienst

 

Wenn die Kerzen am großen Weihnachtsbaum in der Kirche strahlen, Kinder tief berührt auf die Krippe schauen und die Geschichte vorgelesen wird, wie sie Lu­kas aufgeschrieben hat, dann stehen alle im Bann des Geschehens in Bethlehem. Am nächsten Tag kommen dann vielleicht Zweifel. Ist diese schöne Geschichte doch nur ein wunderbares Märchen? Hat sich das, was von Lukas und Matthäus aufgeschrieben wurde, tatsächlich vor 2.000 Jahren so zugetragen?

Bibelkundige Christinnen und Chris­ten wissen, dass es Wider­sprüche zwischen den Kindheitsge­schich­ten von Matthäus und Lukas gibt. Sind Maria und Josef in Bethlehem zu Hause ge­we­sen, wie im Matthäusevangelium vorausgesetzt wird, oder haben sie sich auf die mühevolle Reise von Nazareth nach Bethlehem begeben, wie Lukas es darstellt? Sind sie nach der Geburt des Kindes nach Ägypten geflohen, um dem Kindermord zu entgehen, so Matthäus, oder über Jerusalem auf direktem Weg in ihren Heimat­ort Nazareth zurückgekehrt, wie uns Lukas überliefert hat? Viele Gläubige stellen sich diese Fragen – und gar zu oft blei­ben sie mit diesen Fragen allein.

 

Und die Pastoren und Pastorinnen, die in der hektischen Vorweihnachtszeit ihre Weihnachtspredigt vorbereiten, irgendwann zwischen Seniorenweihnachtsfeier, letz­­ter Kirchenvor­standssitzung des Jahres und dem Kauf von Geschenken für die ei­genen Kinder, wie lesen sie die Weihnachtsgeschichte? Im Studium haben die meis­­ten von ihnen die historisch-kritischen Erkenntnisse zu den biblischen Texten kennengelernt. Sie haben erfahren, wie viele Widersprüche es im Neuen Testament gibt, warum viele Texte „legendarisch“ sind und dass gerade die Weihnachtsge­schich­­ten dazu gehören.

Aber bei der Formulierung der Weihnachtspredigt scheint all das nicht viel zu helfen.

 

Zwischen „Stille Nacht“ und Krippenspiel, in der überfüll­ten Kirche, mit all den Menschen, die nur dieses eine Mal im Jahr in die Kirche kom­men, da scheint nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, die historisch-kritischen und sozial­geschicht­lichen Erkenntnisse über die Weihnachts­ge­schichte zu verbreiten. Und wer weiß überhaupt, was damals wirklich geschah? Daher wird Jahr für Jahr in vielen Kirchen auf eine Weise gepredigt, als hätte es nie eine neuere theologische Wissenschaft und nie eine Erforschung des antiken Paläs­tina gegeben. Und wenn der Pastor auf der Kanzel in der festlich geschmückten Kirche steht, vor sich die vielen erwartungsvollen Gottesdienstbesucherinnen und -besucher, dann schil­­­dert er das Geschehen in Bethlehem so, als hätte ihn nie ein Zweifel geplagt, was sich damals in Bethlehem zugetragen hat.

 

So oder so ähnlich geht es alle Jahre wieder. Und wenn es den Predigern und Predigerinnen dann auch noch gelingt, ohne gar zu sehr anzuecken einige Bezüge zum heutigen Leben herzustellen, dann können sie sicher sein, dass viele Gottesdienstbesucher ihnen am Ausgang fest die Hand drücken und sich für die schöne Weihnachtspredigt bedanken. Warum sollte es nicht so bleiben? Hilft ein „aufge­klärtes“ Verständnis des Geschehens von vor zwei Jahrtausenden den Menschen wei­ter? Gar eine „Entmytho­logisierung“?

 

Ist Weihnachten die richtige Zeit, der Ge­meinde das „zuzumuten“, was wir heute über Entstehung und Kontext der Texte der Bibel wissen? Der Re­li­gionspädagoge Hubertus Halbfas hat vor Jahren in einem Vortrag diagnostiziert: „Die herrschende Kluft zwischen gesicherten theologischen Forschungsergebnissen und heutigem Glaubensverständnis ist riesig.“

 

Die Weihnachtsgeschichte als verheißungsvoller Anfang 

 

Die Geschichten von der Geburt Jesu bei Matthäus und Lukas sind ein Prolog für die Heilsbotschaften, die sie in den weiteren Texten ihrer Evangelien entfalten. Wie in einer musikalischen Ouvertüre klingen hier bereits die Motive an, die das ganze Werk prägen. Es ist beeindruckend, wie viele Themen in den bei­den Geburtsgeschichten von Matthäus und Lukas bereits vorkommen. Ähnlich ist es im Prolog des Johannesevangeliums. Hier wird ein anspruchsvoller theologischer Einstieg gewählt, dessen Auslegung auch nach zwei Jahrtausenden noch viele Theologieprofessorinnen und -professoren beschäftigt.

 

In einer Zeit, in der der jü­di­sche Versuch, eine regionale Großmacht zu werden, gescheitert war, in der viele Gläubige auf einen religiösen und gesellschaftlichen Neuanfang hofften, in der Jesus als der erhoffte Messias von den Römern als Terrorist gekreuzigt worden war, in der die kleinen Gruppen der Jesusbewegung zutiefst verun­sichert waren und ihnen Verfolgung drohte, haben die Evangelisten das verstreute Wissen über das Leben und die Botschaft dieses Jesus von Nazareth zu klug gestalteten Evangelien komponiert. Und das gilt besonders auch für die Darstel­lungen über die Geburt und Kindheit Jesu.

 

Die Aufgaben, vor denen die Evangelisten standen, waren gewaltig. Es galt, sich in die jüdische Tradition zu stellen, Jesus als den in der Hebräischen Bibel angekündigten Messias (Griechisch: Christus) zu verkünden und dabei jüdische und nicht­jüdische Angehörige der Gemeindegruppen einzubeziehen, die zur Nachfolge Jesu bereit war, wie hoch auch immer der Preis dafür sein würde. Auch galt es, damit umzugehen, dass die von allen erhoffte rasche Wiederkehr Jesu ausgeblieben war. Nicht zuletzt bemühten sich Gläubige, in der Nachfolge Jesu eine überzeugende Alternative zur Willkürherrschaft der Kaiser in Rom zu verkünden und zu leben.

 

Die Evangelisten haben das, was sie von Jesus und seinen Predigten und Gleichnissen wussten, nicht nur überliefert, sondern es so aufgeschrieben und zu Evangelien zusammengefügt, dass die Menschen da­raus Hoffnung und Mut schöpften konnten, inmitten einer Welt von Un­recht, Machtmissbrauch und Gewalt den Weg Jesu mitzugehen. Friede auf Er­den verkünden die Engel in der Weihnachts­ge­schichte, und dieser Friede der Bibel ist der umfassende Friede Gottes.

 

So wie Josef im Lukasevangelium auf das vertraute, was er geträumt hatte, vertrauten diejenigen, die Jesu Weg folgten, auf die göttlichen Ver­heißungen, wie sie in den Evangelien nachzulesen waren. Sie mach­ten sich wie Maria und Josef auf den Weg und ließen sich selbst durch die bru­tale Verfolgung durch die römischen Herrscher wie Nero und ihre Schergen nicht davon abbringen.

 

Die Evangelien und besonders die Geschichten von der Geburt und Kindheit Jesu sind keine politischen Manifeste, keine theologischen Vorlesungen und auch keine Sammlungen dogmatischer Überzeugungen. Sie sprechen Herz und Verstand der Menschen an und wollen sie bestärken in ihrem Glauben an einen neuen Himmel und eine neue Erde. Diesen Glauben können wir jedes Weihnachtsfest feiern. In der heutigen Zeit, in der viele Christinnen und Christen bei uns frühere Glaubensgewissheiten verloren haben und in denen die Welt aus den Fugen geraten ist, kann es eine Hilfe sein, sich neu auf die Weihnachtsgeschichte einzulassen. Vielleicht und hoffentlich kann das, was die Evangelisten aufgeschrieben haben, auch uns neue Hoffnung und neue Orientierung geben.

 

Jesu Geburt und Kindheit in den apokryphen Schriften 

 

Wenn wir uns mit der Geburt und Kindheit Jesu beschäftigen, lohnt es sich, zusätzlich zu den Evangelien auch die sogenannten „apokryphen Schriften“ in den Blick zu nehmen, also die Texte frühchristlicher Autorinnen und Autoren, die die Jesusgeschichte oft ganz anders erzählt haben als Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Diese Texte sind aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen worden. Aber mehrere dieser Schriften, in denen die Geburt und Kindheit Jesu fanta­siereich entfaltet wird, waren bis ins Mittelalter weit verbreitet und haben viel dazu beigetragen, wie dieses Fest heute gefeiert wird.

 

Ohne diese Schriften hätten Ochs und Esel keinen Platz im Stall in Bethlehem gefunden (bei Lukas fehlen sie noch). Und ohne diese Schriften wäre Josef bei der Geburt des Jesuskindes nicht als alter Mann dargestellt worden, um nur zwei Beispiele zu nennen. Es ist also sinnvoll, den Wirkungen dieser apokryphen Schrif­ten oder Evangelien nachzuspüren. Einige dieser Schriften zeichnen sich durch eine poetische Schönheit aus und sind lesenswert, auch wenn sie keine historischen Tatsachen wiedergeben.

 

Die Geburt eines jüdischen Kindes

 

„Eigenartigerweise fällt mir immer wieder zu Weihnachten auf, wie christliche Prediger Israel ganz und gar vergessen können. Keine Rede davon, dass Gott in seiner Menschwerdung auch Jude wurde, also durch seinen Sohn nicht nur die Erlösung der Menschheit ankündigt, sondern auch die Erwählung Israels bestätigt (LK 1,54). Auch nichts davon, dass der Messias kommt und kommen wird, um neben der Versöhnung der Völker auch die Befreiung Israels von seinen Feinden zu erwirken (Lk 1,71).“ Das schrieb der Hamburger Theologe Klaus-Peter Lehmann 2018 in einer Zeitschrift des christlich-jüdischen Dialogs.

 

Es gilt ernst zu nehmen, dass die Weihnachtsgeschichte eine Geschichte jüdischer Menschen in einer religiös geprägten jüdischen Gesell­schaft ist. Es ist deshalb für das Verständnis von Weihnachten und der übrigen Jesusgeschichte unverzichtbar, wahrzunehmen, welche religiösen Entwicklungen und Konflikte es im Judentum zu Lebzeiten Jesu gab und welche Positionen Jesus in dieser Situation vertreten hat.

Dabei ist auch zu berücksichtigen, in welchem Kontext die Gläubigen zwei oder drei Generationen nach seiner Kreuzigung seine Botschaft verstanden und die Evangelisten sie aufgeschrie­ben haben.

 

Die Schriften des Neuen Testaments sind stark davon beeinflusst, wie sich bis zum Ende des 1. Jahrhunderts das Verhältnis der Jesusbewegung zur Mehr­heit des Judentums entwickelt hatte. Der Tempel in Jerusalem war damals bereits von den Römern zerstört worden und das Judentum musste ohne ein religiöses Zentrum neue Formen des Zusammenhalts finden. Es gab keinen Gegensatz der Jesusbewegung und „den“ Juden, sondern die Jesusbewegung war zunächst eine von einer größeren Zahl jüdischer religiöser Bewegungen, die angesichts katastrophaler politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse ihre ganze Hoffnung auf einen religiösen Neuanfang setzten.

 

Die Jesusbewegung stieß dadurch auf die Ablehnung vieler Mitjuden, dass sie auch Nichtjuden in ihre Gemeinschaften aufnahm, ohne dass von diesen erwartet wurde, sich beschneiden zu lassen oder die jüdischen Gesetze einzuhalten. Ebenso stieß die Behauptung, Jesus sei der erhoffte Messias, bei vielen Juden auf Widerspruch. Das war für sich genommen aber kein Grund, sich zu trennen, schließlich gab es auch andere messianische Bewegungen im Judentum, und es existierte keine religiöse Autorität, die sie hätte ausschließen können. Die Trennung von Judentum und Jesusbewegung und dann der christlichen Kirche vollzog sich, wissen wir heute, nicht abrupt, sondern in einem allmählichen, schmerzhaften Prozess.

 

Die Jesusbewegung betonte besonders im ersten und zweiten Jahrhundert ihre Verwurzelung im Judentum und wollte hartnäckig nachweisen, dass Jesus wirklich der von vielen erwartete Messias war, den Gott zum jüdischen Volk und zu allen anderen Völkern gesandt hatte. Auch auf diesem Hintergrund sind die vielen Verweise auf Bibelstellen der Hebräischen Bibel und die Angriffe auf „die“ Juden in einigen neutestamentlichen Texten zu verstehen. Deshalb soll in diesem Buch auch dargestellt werden, in welchem Kontext und mit welchen Intentionen die Evangelisten ihre Schriften verfasst haben und an welche Leserschaft sie sich wandten.

 

In der Beschäftigung mit der Weihnachtsgeschichte habe ich neu gelernt, wie eng Judentum und Christentum miteinander verbunden sind. Das haben die christlichen Kirchen und die meisten ihrer Theologen über viele Jahrhunderte ignoriert und damit große Schuld auf sich geladen, weil sie den Antisemitismus durch Predigten und Traktate immer neu gefördert haben. Gerade die Weihnachtsgeschichte kann ein Brücke zum Judentum bilden, wenn sich unter den Christinnen und Christen vermehrt herumsprechen sollte, dass Jesus sein Leben lang Jude war, dass er das Judentum erneuern, aber nicht abschaffen wollte und dass seine Botschaft zutiefst im Judentum zu Hause war. In diesem Buch kommen an verschiedenen Stellen jüdische Gelehrte der Neuzeit zu Wort, die uns helfen können, die Weihnachtgeschichten besser zu verstehen.

 

Es wird auch dargestellt, wie der Koran die Weihnachtsgeschichten so aufgenommen hat, dass sie zu einem Teil der dort dargestellten Heilsgeschichte und Heilserwartungen geworden sind. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Darstellung von Maria im Koran sehr erhellend. Es gilt, sensibel mit Ähnlichkeiten und Unterschieden in der Darstellung der Geburt Jesu und der Jesusmutter Maria umzugehen. Es hilft nicht weiter, so zu tun, als seien die christlichen Weihnachtsgeschichten und die koranische Darstellung weitgehend identisch und man könnte die Unterschiede als nebensächlich bei­seite­­schieben. Ebenso wäre es falsch, nur die Unterschiede herauszustellen und die Ansicht zu vertreten, im Koran seien die biblischen Geschichten in verzerrter Form wiedergegeben worden. Es gilt, den Koran und seine Botschaften ernst zu nehmen.

 

Die biblische Weihnachtsgeschichte neu verstehen 

 

In diesem Buch soll der Versuch unternommen werden, das, was wir über die Geburt und Kindheit Jesu wissen können, in Verbindung zu bringen, mit dem, was wir glauben dürfen. Das Buch soll eine Hilfe für alle sein, die die biblischen Weihnachtsgeschichten neu verstehen wollen. Es geht nicht um Beweise dafür, dass sich nicht alles so zugetragen hat, wie es die Evangelisten geschrieben haben, das ist schon oft genug bewiesen worden. Und es geht auch nicht darum, die Leserinnen und Leser ratlos in einem Trümmerhaufen sezierter biblischer Geschichten und Bilder zu­rückzulassen. Ich habe vielmehr versucht, dass zusammenzutragen, was wir heu­te über das Weihnachtsgeschehen, seinen Kontext und seine Wirkungsge­schich­­te wissen. Auf diesem Hintergrund kann die Weihnachtsbotschaft neu leuch­ten für Menschen, die vom Baum der Erkenntnis genascht haben und doch wie die Kinder andächtig vor dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum stehen.

 

Um mehr von Jesus, seiner Geburt und seiner Botschaft zu verstehen, ist es erhellend, den politischen, sozialen und religiösen Kontext kennenzulernen, in dem das Neue Testament entstanden ist. Erfreulicherweise ist das Wissen über den Alltag in Galiläa und Judäa zu Lebenszeiten Jesu und auch zu Lebzeiten der Verfasser der Texte des Neuen Testaments in den letzten Jahrzehnten deutlich gewachsen. Das ermöglicht ein sehr viel klareres Bild von der damaligen Welt und vor allem von dem Weltreich, das von Rom aus beherrscht wurde. Ich kann zu dieser Thematik vor allem die katholische Zeitschrift „Welt und Umwelt der Bibel“ empfehlen.

 

Sehr spannend ist der Vergleich der biblischen Darstellungen der Jesusge­schichte mit den Heilsankündigungen, die über Kaiser Augustus und das angeblich mit ihm begonnene „Goldene Zeitalter“ verbreitet wurden. Das Römische Reich befand sich unter Augustus in seiner Blüte und war für damalige Verhältnisse eine glo­bale Macht. Dem umfassenden Machtanspruch der römischen Kaiser stellten die Evan­gelisten den Anspruch Gottes entgegen, der wirkliche Herrscher der Welt zu sein. Der arme Wanderprediger, den die Römer als Aufrührer ans Kreuz geschlagen hat­ten, wurde von den Evangelisten als Sohn Gottes, des Herrn der Welt, prokla­miert, der alle irdischen Mächte überdauert und überwindet. Diese mutige Verkün­di­gung der Evangelien lässt sich vielleicht nur noch mit der Situation vergleichen, in der einige jüdische Propheten im Exil in Babylon die Bücher Mose, die Tora, zusammen­trugen und gegen die politisch Mächtigen ihrer Zeit den einen Gott als den wahren Herrn der ganze Welt verkündeten. Das Reich der Babylonier, wissen wir heute, ging unter, das Rö­mi­sche Reich auch. Haben diejenigen, die den einen Gott verkünden, doch Recht behalten?

 

Wenn wir das Leben Jesu, sein Handeln und seine Verkündigung vor dem Hintergrund der damaligen „Globalisierung“ betrachten, also der Durchdringung aller Lebensbereiche durch die römischen Herrscher, können wir besser verstehen, was uns Jesus in der heutigen Zeit zu sagen hat. Dazu müssen wir allerdings möglichst genau verstehen, wie das damalige globale System funk­tionierte, wie es sich auf Galiläa auswirkte und welche Ähnlichkeiten und Unterschiede zur heutigen Globalisierung bestehen.

 

Hans-Jürgen Abromeit, Bischof der damaligen Landeskirche Meck­lenburg, kam 2010 in einer Weihnachtspredigt zum Ergebnis:

„In der Analyse unterscheidet sich die Welt heute nicht so sehr von der Welt zur Zeit des ersten Weihnachtsfestes im römisch besetzten Palästina der Zeitenwende, wie wir meinen. Prekäre und überfordernde Lebensbedingungen für eine zunehmende Zahl von Men­­schen haben auch die Zeitgenossen von Maria, Joseph und den Hirten und die Menschen unter der Herrschaft von Kaiser Augustus geprägt. Auch Jesu Eltern gehörten zu den ‚Armen vom Lande’ … Gott kommt in unsere Welt. Stellen wir uns zu ihm und lassen zuerst uns selbst verändern. Dann fordert Gottes Kommen uns her­aus, für gerechte Verhältnisse zu kämpfen, Frieden zu suchen, uns der Schwachen anzunehmen und die gute Nachricht von Versöhnung und Neuanfang weiter zu sa­gen.“

 

Angesichts der vielen heutigen globalen, regionalen, nationalen und lokalen Krisen können uns die Weihnachtsgeschichten eine Orientierung geben. Die weihnachtliche Botschaft der Hoffnung ist eine Botschaft, die inmitten der Krisen der Welt seit 2.000 Jahren Mut gemacht hat und auch heute Mut macht, nicht zu resignieren.

 

Die Weihnachtsgeschichten lassen sich nicht objektiv darstellen und auslegen. Das soll in diesem Buch deshalb auch gar nicht erst angestrebt werden. Ich werde versuchen, den Leserinnen und Lesern ein ökumenisches Ver­ständnis der biblischen Geschichten nahezubringen, das Abschied nimmt von der Vorstellung, dass wir in der Bibel Wort für Wort das lesen, was Gott den Verfassern diktiert oder durch Inspiration übermittelt hat. Ich sehe mit vielen heutigen Theologinnen und Theologen die Bibel als eine Sammlung von Texten, die von Menschen verfasst wurden, die ihre Glaubensüberzeugungen darstellen und ihren Mitmenschen den Glauben an den einen Gott nahebringen wollten.

 

In diesem Buch werden die Weihnachtgeschichten unter Einbeziehung historisch-kritischer, sozialgeschichtlicher, befreiungstheologischer und feministischer Erkenntnisse sowie des jüdischen Verständnisses des Lebens und der Verkündigung Jesu neu gelesen und ausgelegt. Auch die Darstellung der Geschichten im Koran wird berücksichtigt. All das soll so geschehen, dass die oft komplexen Argumentationen allgemeinverständlich sind. Dieses Buch beruht auf einer gründlichen wissenschaftlichen Studienarbeit, wurde aber möglichst spannend und anschaulich verfasst.

 

Die historisch-kritischen und sozialgeschichtlichen Bibelauslegungen in diesem Buch unterscheiden sich grundlegend von Bibelauslegungen, deren Verfasser die Heilige Schrift in einem engen Sinn als Gottes Wort verstehen. Christinnen und Christen bleiben aber auch bei einem unterschiedlichen Verständnis der Bibel Glaubensgeschwister in der Nachfolge Jesu. Geboten ist die Einsicht, dass es die eine Wahrheit bei der Auslegung biblischer Texte nicht gibt und wir mit unterschiedlichen Überzeugungen leben müssen. Vielleicht ist es ein Trost, dass das auch schon in der entstehenden christlichen Kirche so war. Ich will an dieser Stelle schon einmal einen Satz des jüdischen Gelehrten Pinchas Lapide einfügen, der im Buch noch einmal wiederholt wird: „Jede Streitfrage hat, zutiefst gesehen, drei Seiten: deine Seite – meine Seite – und die richtige Seite.“

 

Es wird Ihnen auffallen, dass ich an vielen Stellen im Buch ausführliche Zitate eingefügt habe. Dafür habe ich mehrere Hundert theologische und histo­rische Texte studiert und inhaltlich wegweisende und zugleich gut verständliche Aussagen ausgewählt. Ich habe sie so in den Text eingefügt, dass Zusammenhänge erkannt und neue Erkenntnisse ermöglicht werden. Wichtig war mir dabei auch, in das Buch einzubeziehen, wie Christinnen und Christen aus unterschiedlichen Kulturen und kirchlichen Traditionen in aller Welt die Geschichten von der Geburt und Kindheit Jesu lesen und interpre­tie­ren. Das ist nur in einer kleineren Auswahl möglich, aber dennoch wird hoffentlich deutlich, wie bereichernd es ist, Teil der welt­weiten Ökumene zu sein. Selbstverständlich sind viele eigene theologische, historische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Überlegungen in das Buch eingeflossen.

 

Die meisten Bibelzitate sind der neuesten Fassung der Lutherübersetzung aus dem Jahr 2017 entnommen. An einigen Stellen wird zusätzlich die „Bibel in gerechter Sprache“ berücksichtigt. Ich habe eine umfangreiche Liste der zitierten Bücher, Zeitschriften- und Zeitungsbeiträge zusammengestellt. Sie finden sie auf meiner Website: https://www.kuerschner-pelkmann.de/die-weihnachtsgeschichte-fakten-legenden-und-tiefere-bedeutung/quellen-der-zitate-im-buch-die-weihnachtsgeschichte/

 

 

Für mich selbst war die Arbeit an diesem Buch eine Reise zu den Wurzeln und Grundlagen des eigenen Glaubens – und zu einem „erwachsenen“ Glauben, der das Staunen und die Frömmigkeit des „kindlichen“ Glaubens bewahrt. Ich möchte Sie auf eine Weihnachtsreise mitnehmen. Dieses Buch soll eine Einladung zu einem Glauben sein, der wissenschaftliche Erkenntnisse nicht beiseiteschiebt, son­dern als Hilfe versteht, um selbst dem Leben und der Botschaft des Jesus von Nazareth näher zu kommen. Die Weihnachtsgeschichten des Neuen Testaments waren für die Christinnen und Christen der Antike Geschichten voller Gottvertrauen und Hoffnung – und das können sie auch für uns sein.

 

© Frank Kürschner-Pelkmann